Titel
Inspecting Germany. Internationale Deutschland-Ethnographie der Gegenwart


Herausgeber
Hauschild, Thomas; Warneken, Bernd J.
Erschienen
Münster 2002: LIT Verlag
Anzahl Seiten
568 S.
Preis
€ 29,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Peter F. N. Hoerz, Universität Bamberg

Vorgestellt werden soll ein Sammelband, der auf gut 550 Seiten 26 Beiträge einer Tagung enthält, die 1999 in Tübingen stattfand. Trotz des länger zurück liegenden Erscheinungsdatums soll auf den Band seiner Originalität wegen hingewiesen werden. Damals, zehn Jahre nach den Ereignissen von 1989, die Deutschland verstärkt ins internationale Blickfeld gerückt hatten, versammelten sich Kulturwissenschaftler/innen, KulturanthropologIinnen und EthnologIinnen aus aller Welt auf Schloss Hohentübingen, um – unter dem rahmenbildenden Titel „Inspecting Germany“ – ihre Sichtweisen auf dieses Land zu diskutieren.

Diese Vorgehensweise einer Zusammenschau internationaler Deutschland-Ethnografien der Gegenwart ist außergewöhnlich genug, um den Band auch heute noch zu würdigen. Was nämlich mit dieser Tagung geleistet wurde, ist nicht weniger als die Umkehrung des „ethnologischen Blicks“, der in der Regel „unser“ (germano- bzw. eurozentrischer) Blick auf die (überseeischen) Anderen ist. Gewiss, ethnologische (Feld-)Forschung entsteht immer in einem Austauschprozess, in dessen Verlauf Forscher und Erforschte wechselseitig übereinander und über die Herkunftskulturen der jeweils anderen lernen. Doch was immer man auch in punkto „Kolonialisierung“, „Güteraustausch“, Macht- und Kompetenzbalance auf dem Gebiet der ethnologischen Feldforschung sagen mag 1, bleibt doch der „knowledge drain“ von den Anderen zu „uns“ das vorherrschende Prinzip ethnologischer Forschung. Die Vorstellung, dass „wir“ zum Gegenstand ethnologischer Forschung werden, gar zum Gegenstand von Ethnologen aus der so genannten „Dritten Welt“, bleibt uns – oft auch uns Ethnowissenschaftlern – vorerst noch fremd. Fremd genug, dass die Umkehrung des ethnologischen Prinzips zum Stoff humoristischer Auseinandersetzungen gereicht.2

Dabei ist dieser Ansatz in der Tat bestechend, weil die „Umkehr-Ethnografie“ in Gestalt externer Feldstudien, wie die Herausgeber von „Inspecting Germany“, Hauschild und Warneken, einleitend schreiben, neben Transformierung interner Kritik und Ironisierung dazu beiträgt, dass Ethnologie aus dem kolonialen Kontext heraus tritt und sich somit wieder neue Chancen erschließen kann (S. 18). Indem sie die koloniale Einseitigkeit der Ethnologie aufzulösen beginnen, gewinnen die Beiträge der aus 20 Ländern stammenden Ethno-Wissenschaftler auch jenseits der konkreten Gegenstände an Bedeutung. Insofern ist es begrüßenswert, wenn Hauschild/Warneken resümieren können: „Das in den kulturanthropologischen Fächern lange Zeit als langweilig geltende Deutschland ist zum vielbesuchten Übungsfeld einer Ethnologie geworden, die ihrerseits vom Primitivismus und Exotismus zur Erforschung industrialisierter und urbanisierter Gesellschaften weitergeschritten ist.“ (S. 19) Unterteilt ist das Buch in die vier Abschnitte „Deutsche Muster“, „Neues Deutschland?“, „Neue Deutsche“ und „Neue Länder“, aus welchen jeweils beispielhaft ein Aufsatz zur Besprechung ausgewählt worden ist. Diese Auswahl entspricht individuellen Neigungen der Rezensenten und impliziert keine Be- oder Abwertung anderer Aufsätze des Bandes.

„Deutsche Muster“
Der indonesische Ethnosoziologe Damsar hat Exkursionen auf Bielefelder Flohmärkte unternommen und reflektiert seine Beobachtungen in „Der Flohmarkt als Spiegel sozialer Komplexität“, wobei Handlungen und Handelnde in Bezug zu jenen auf den Bazaren Indonesiens gesetzt werden. Auf Grund seiner Beobachtungen bildet Damsar je drei Gruppen von Händlern (Pseudo-Händler, Teilzeit-Händler, Professionelle Händler) und Käufern (Flaneure, Sammler, Schnäppchenjäger), welchen er unterschiedliche Absichten und Handlungsstrategien unterstellt.

Ins Auge sticht Damsar vor allem ein zentraler Unterschied: „In der Transaktion von Waren auf dem Flohmarkt spielt im Gegensatz zum Basar das Feilschen keine große Rolle. Käufer und Verkäufer tauschen schnell zwei oder drei Angebote aus, dann wird der Verkauf getätigt.“ (S. 149) Diese untergeordnete Bedeutung des Feilschens, aber auch die nachrangige Bedeutung des Erwerbsgedankens nimmt Damsar zum Anlass, den Flohmarkt in den Kontext postmaterieller Wertewelten zu stellen. Weil es hier nicht in erster Linie um den Broterwerb der Händler, nicht um den größtmöglichen Gewinn zu gehen scheint, sondern in erster Linie um ökologisch sinnvolle Sekundärverwertung von Gütern, gerät der Flohmarkt dem indonesischen Autor schließlich zum „Spiegel der deutschen Romantik und der Umweltbewegung.“ (S. 167) Ein Gedanke, der nicht von der Hand zu weisen ist, wenn auch der Vergleich Flohmarkt/Bazar in Bezug auf die unterschiedlichen sozioökonomischen Kontexte und Funktionen der beiden Phänomene zumindest Fragen aufwirft.

„Neues Deutschland“
Mit deutscher Xenophobie, mit der „obsessive[n] Angst vor dem Phantasma des Fremden“ setzt sich die US-amerikanische Kulturanthropologin Uli Linke in „Die Sprache als Körper. Linguistischer Nationalismus und deutsche Sprachpolitik“ auseinander, wobei die linguistische Xenophobie fokussiert wird. Ausgehend von einer Betrachtung der deutschen Sprachforschung des 19. Jahrhunderts und unter Rückgriff auf Humboldts sprachtheoretische Arbeiten und die Sprachpolitik des 17. Jahrhunderts kommt Linke zu der Einsicht, dass in Deutschland Sprache als ein Produkt der Natur gelte, so dass Sprache und Volksnation als eine „organische Einheit, ein leibliches Ganzes“ (S. 297) verstanden werden.

Diese Vorstellung von der Einheit von ethnischer Nation und Sprachkörper setzt Linke in Beziehung zur politischen Situation im „Deutschland“ vor 1871: In einem ökonomisch, politisch, gesellschaftlich und sprachlich (!) zersplitterten gleichwohl aber als „deutsch“ definierten Raum – gewinnt der Kampf um die gemeinsame deutsche Sprache, der Abwehrkampf gegen das Lateinische und die „welschen“ Einflüsse auf die Sprache, zentrale Bedeutung. Der Weg von der „Sprachpflege“, führt sodann über „Sprachzucht“ zum „Sprachpurismus“ und – über einen Exkurs zum Zusammenhang der Ideen vom „reinen Blut“ und von „reiner Sprache“ – hin zum Befund eines „linguistischen Nationalismus“, in dessen Kontext die Fremdwörter als die „Juden der Sprache“ entlarvt wurden. Linke unternimmt weiters einen Ausblick auf künftige „nationale Sprachpolitik im vereinten Europa“, um mit der Frage zu schließen, ob „deutsche Bürger“ sich im Prozess der europäischen Einigung Veranlassung sehen könnten, sich von den „Phantasmen des Blutes, des Körpers und der Sprache zu befreien“ (S. 313f.), um jenen näher zu kommen, die mit den Deutschen kongruente Interessen und Zukunftsperspektiven haben.

„Neue Deutsche“
Einen Beitrag von Aktualität 3 und nicht ohne gesellschaftspolitische Brisanz liefert die in Berlin ansässige russische Ethnologin Tsypylma Darieva mit „Von ‚anderen‘ Deutschen und ‚anderen‘ Juden. Zur kulturellen Integration russischsprachiger Zuwanderer in Berlin“. Jüdische Kontingentflüchtlinge und Aussiedler („Deutsche im Sinne des Grundgesetzes“) aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion stellen zwei Migrantengruppen in Deutschland dar, die bei allen Unterschieden in ihrer Außenwahrnehmung als „Russen“ geeint sind, wobei diese Zuschreibung in der Regel pejorativ gemeint ist. Und dies gilt umso mehr, als beiden Migrantengruppen mit der Zuschreibung „russisch“ die Legitimation ihrer Anwesenheit und ihrer kulturellen Zuordnung (jüdisch/deutsch) abgesprochen wird, denn „die russische Identität dieser Migranten in Hinsicht auf das Aufnahmeprivileg (erscheint) vielmehr als unerwünschte Qualität, da sie ‚unreine‘ Bräuche und Sitten mit sich bringt und daher als soziales Integrationshindernis angesehen wird.“ (S. 406) Folglich seien beide Gruppen einem doppelten kulturellen Integrationsdruck ausgesetzt: „Während russische Juden bei anderen Mitgliedern ihrer Religionsgemeinschaft als zu assimiliert und ‚modern‘ erscheinen, werden Aussiedler von den Bundesdeutschen als konservativ und traditionalistisch wahrgenommen“ (S. 415). Besonders im Falle der jüdischen Immigranten wird ein doppelter zum Teil widersprüchlicher Integrationsdruck offenbar: Verlangt wird das Bekenntnis zum Judentum, wie auch die gleichzeitige Integration in die „moderne deutsche Gesellschaft.“ (S. 415) Die erfolgreiche Integration der Aussiedler indessen wird durch die sprachliche Barriere erschwert, und die Ankunft in der „alten Heimat“ erfährt von den einheimischen „co-ethnics“ keine Anerkennung.

Abschließend beschäftigt sich Darieva mit einer Strategie der Integrationsarbeit: Mit den russischsprachigen Medien in Berlin. Diesen käme im Kontext des Integrationsprozesses nicht der oft unterstellte Mechanismus der Abgrenzung zu. Vielmehr handle es sich bei den russischsprachigen Medien um Hilfsmittel im Integrationsprozess und zur Konstruktion neuer Identität.

„Neue Länder“
Über „Ostalgie und ostdeutsche Sehnsüchte nach einer erinnerten Vergangenheit“ schreibt die amerikanische Anthropologin Daphne Berdahl. Dabei wird versucht, die nostalgische Verklärung der DDR-Vergangenheit, die im vereinigten Deutschland vordergründig zwischen Peinlichkeit und Lächerlichkeit erlebt werde, jenseits des Ironischen zu verorten und in dem Phänomen der Ostalgie eine durchaus ernsthafte Botschaft zu decodieren. Berdahl geht es darum, „das Wechselspiel zwischen hegemonialem und oppositionellem Erinnern“ zu erhellen (S. 477) und deutlich zu machen, dass die Praxis der Ostalgie gleichermaßen Herausforderung wie Bestätigung der neuen Ordnung sei. Ostdeutsche Produkte, Rituale und Gewohnheiten – nach 1989 landeten sie alle (zunächst) auf dem Müllhaufen der Geschichte, um sodann im Laufe der 1990er-Jahre mal mehr ironisierend, mal mehr trotzig reanimiert zu werden. Für Berdahl ist dies ein Weg „Zurück zur Zukunft“ (S. 481), der kenntnisreich und an vielen Beispielen beschrieben wird. Enttäuschung, (gekränkter) Stolz, Rückbesinnung, Distinktion all dies verberge sich hinter den Wiederbelebungsversuchen von Produkten und Ritualen, in den Partys und Lokalen mit DDR-Ambiente. Auf diese Weise, so Berdahl, gerate Ostalgie zu einem Versuch, die durch die Wiedervereinigung („emigriert ohne fortzugehen“) verlorene Heimat wieder zu gewinnen. Und mehr noch: Ostalgie werde am Ende auch zur „Waffe“, indem offizielles, d.h. westdeutsch geprägtes Erinnern in Frage gestellt und eine „alternative Version des Deutschseins produziert“ wird (S. 489).

26 Beiträge auf mehr als 500 Seiten – vier dieser Beiträge konnten hier eines etwas ausführlicheren Blicks gewürdigt werden, wobei die Endauswahl, wer oder was hier stellvertretend für die einzelnen Großkapitel des Buches ausgewählt wurde, in der Tat schwer fiel. Anders als bei anderen Sammelbänden dieser Größenordnung wäre hier fast jeder Beitrag der Würdigung Wert gewesen. Dabei mögen die einzelnen Themen der internationalen Deutschland-Ethnografen zunächst nicht jeden Leser auf die gleiche Weise interessieren. Überwindet man sich jedoch, auch jene Aufsätze eines näheren Blicks zu würdigen, deren Titel nicht unbedingt das erste Interesse wecken, so zeigt sich, dass der – mit Tagung und Buch gewollte – andere Blick nach dem Motto „was deutsche Forscher in Deutschland nicht sehen“ bei vielen Aufsätzen zur Reflexion dessen anregt, was man eigentlich gewusst zu haben glaubte.

Anmerkungen:
1 Hörz, Peter F.N., Feldforschung als Therapie? in: Schweizerisches Archiv für Volkskunde 99 (2003), S. 139-156.
2 Z.B. Oladeinde, Frank (1994), Das Fest des Huhns (TV-Satire, ORF); Oladeinde, Frank (1999), Dunkles, rätselhaftes Österreich (TV-Satire, ORF).
3 Zur Aktualität dieses Beitrags vgl. z.B. die in russischer Sprache gehaltenen Vorträge u.a. zur Integrationsproblematik bei der 11. Jahrestagung der Union progressiver Juden: http://www.liberale-juden.de/cms/fileadmin/Downloads/Programm.pdf (14.06.05)

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