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Titel
Wilhelm I.. Deutscher Kaiser – König von Preußen – Nationaler Mythos


Autor(en)
Schulze-Wegener, Guntram
Erschienen
Anzahl Seiten
519 S.
Preis
€ 24,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Tobias Hirschmüller, DFG-Projekt „Edition der Akten der Provisorischen Zentralgewalt in der Revolution von 1848/49“, Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt

Heinrich von Sybel hatte sein erstmals in den 1890er-Jahren erschienenes siebenbändiges Werk noch „Die Begründung des Deutschen Reiches durch Wilhelm I.“1 genannt, doch stand die Persönlichkeit von Wilhelm I. im kollektiven Gedächtnis seit dem Kaiserreich im Schatten Otto von Bismarcks. Dabei hat die Geschichtswissenschaft einen nicht unwesentlichen Beitrag dazu geleistet, den märkischen Junker zum alleinigen „Reichsgründer“ zu stilisieren und dem Hohenzollern nur eine im besten Fall periphere Rolle beigemessen. Schon Erich Marcks schrieb von der „Epoche Bismarcks und Wilhelms“2 und nannte damit den Staatsbediensteten vor dem Regenten. Die wenigen seither erschienenen und noch dazu populärwissenschaftlichen Monographien wie die von Franz Herre (1980)3 und Karl Heinz Börner (1984)4 tradierten diese Perspektive in beiden deutschen Staaten fort. Während auch noch Günter Richter dem verbreiteten Geschichtsbild weitgehend folgte, zählt die Bismarck-Biographie von Christoph Nonn zu den aktuellen Beispielen, in denen der überlieferten Interpretation entgegengewirkt wird.5 Auch Guntram Schulze-Wegener verspricht in seiner Biographie über Wilhelm I. eine Neudeutung: „Sie will in einem räumlich angemessenen Rahmen Leben, Handeln und Wirken des ersten deutschen Kaisers in vielbewegter, fast ein Jahrhundert umfassender Zeit in die Gegenwart holen und einige eingefahrene Irrtümer korrigieren.“ (S. 13)

Schulze-Wegener eröffnet seine Monographie mit einem vierseitigen Prolog, der kurz die Zielsetzung seiner Arbeit sowie einen sehr knappen Forschungsüberblick liefert, und schließt mit einem Epilog, in dem er insbesondere auf die Instrumentalisierung von Wilhelm I. durch dessen Enkel eingeht. In den dazwischenliegenden sechs Hauptkapiteln wird das Leben des Hohenzollern chronologisch wiedergeben. Das erste Kapitel schildert die Kindheit und Jugend bis 1815 im Kontext der Napoleonischen Kriege, gefolgt von einem Kapitel „Lebenswelten: Kräfte und Bestrebungen“ über die religiöse Prägung und Einflüsse durch den Liberalismus. Der dritte Teil „Neuzeit: Revolution und Transformation“ thematisiert insbesondere die Rolle Wilhelms während der Jahre 1848/1849 und seine Koblenzer Zeit. Im Kapitel vier „Herrschaft: Initiativen und Konflikte“ ist die Prinzregenten- und frühe Königszeit Gegenstand, der anschließende Abschnitt fünf „Kriege: Blut und Eisen“ beschreibt den Prozess der deutschen Einigung unter preußischer Führung. Im letzten Kapitel „Kaiserjahre: Reich und Europa“ liegt der Schwerpunkt auf der deutschen Außen- und Rüstungspolitik. Über ein Personen-, Orts- oder Stichwortverzeichnis verfügt das Werk nicht.

Der Titel „Deutscher Kaiser – König von Preußen – Nationaler Mythos“ klingt zunächst vielversprechend. Eine moderne Biographie kann schwer ein Thema erfassen, wenn nicht als Kulturgeschichte des Politischen die Außenwirkung sowie der Betrachtungswandel durch die Nachwelt und damit der Mythos um eine Person inkludiert werden. Auf dem Buchdeckel wird betont, dass die Arbeit auf „breiten Quellenbeständen“ beruhe, die „erste umfassende Biographie Wilhelms I.“ sei und sich auf dem „Stand der neuesten Forschung“ befinde. Seiner Zielsetzung, dem vorherrschenden Bilde, dass Wilhelm I. stets dem Willen Bismarcks unterlegen war, entgegenzuwirken, kann Schulze-Wegener nicht gerecht werden. Als erster Kritikpunkt fällt auf, dass keinerlei Archivgut ausgewertet wurde, sondern die Arbeit auf „ausgewählten Quelleneditionen“ und „substantieller Fachliteratur“ basiere (S. 13). Zwar wurden wichtige Archivalien beim Brand des Heeresarchivs in Potsdam am Ende des Zweiten Weltkrieges vernichtet, der umfängliche Nachlass von Wilhelm6 sowie von dessen Sohn Friedrich7 im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz oder die einschlägigen Bestände der Hessischen Hausstiftung (Archiv und Bibliothek Schloss Fasanerie Eichenzell) sind jedoch lohnenswerte Informationsquellen für eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Hohenzollern. Bei den verwendeten Quelleneditionen handelt es sich um eine überschaubare Anzahl, deren Auswahl nicht begründet wird. Die im Literaturverzeichnis aufgezählten Darstellungen stellen ebenfalls nur eine äußerst selektive Teilmenge der Fachliteratur dar. Zudem fehlt ein fundierter Forschungsüberblick, der über polemische Urteile hinausreicht. Beispielsweise ist zwar die Wilhelm-Biographie von Börner durch den Duktus der DDR-Geschichtswissenschaft geprägt, doch lautet der Kommentar von Schulze-Wegener hierzu, dass die Arbeit „im Detail zwar stimmig und klug war, sich aber durch eine penetrante sozialistisch-marxistische Nebensatz-Phraseologie selbst schadete“ (S. 13). Eine Erörterung der Zuverlässigkeit der verwendeten edierten Quellen vermisst der Leser oft ebenso wie eine Klärung der verwendeten Begrifflichkeiten. Unter anderem wird der Mythos-Begriff ohne eine gängige kulturwissenschaftliche Theorie angeführt, dementsprechend konzentriert sich die Darlegung der Nachwirkung hauptsächlich auf die Nacherzählung einzelner Reden von Kaiser Wilhelm II.

Ein weiterer Kritikpunkt ist der durchgängig stark narrative, bis ins Romanhafte reichende Stil der Arbeit, etwa wenn am Tag der Geburt des Prinzen „die Sendboten des Frühlings auf sich warten“ ließen (S. 14) oder die königliche Familie bei einem „Aufruf der Natur mit östlichen Sturmwinden und brausender See“ (S. 34) vor Napoleon flieht. Auch schweift Schulze-Wegener immer wieder stark von der Biographie ab und schildert das allgemeine Zeitgeschehen oder rutscht in sein Metier der Militärgeschichte, zu der er mehrere populärwissenschaftliche Bücher verfasst hat. Besonders auffällig geschieht dies bei der Erwähnung der preußischen Heeresreformen in den 1860ern, als der Autor plötzlich zur Schlacht von Tannenberg (1914) bis hin zum Unternehmen „Barbarossa“ (1941) abdriftet (S. 278–280). Alle Lebensabschnitte Wilhelms bleiben somit oberflächlich, es gelingt weder mit ausreichenden Belegen die religiöse Haltung zu erklären, die der Autor auf die Schriften des Hofpredigers Friedrich Ehrenberg zurückführt (S. 100–104), noch die Verortung des preußischen Prinzen in den liberalen Strömungen im Vormärz (S. 108–111). Die Netzwerke sowie Einflüsse und damit Machtgefüge am preußischen Königshof werden nicht erfasst und die Diskussion der Rolle des Prinzen in der Revolution von 1848/1849 fokussiert darauf, dass die Absicht, Kartätschenkugeln abzufeuern, bei Wilhelm „nicht nachweisbar“ sei und dieser nur als „Sündenbock“ fungiert habe (S. 189). Auch die Motive bei den Heeresreformen (S. 280–303), der Berufung Bismarcks (S. 335–337) sowie der Reichsgründung (S. 361–391) bleiben unklar. Besonders auffällig im Abschnitt zu der Zeit nach 1871 ist die nahezu ausnahmslose Konzentration auf die Darstellung der Außenpolitik. Die Haltung des Kaisers bei innenpolitischen Konflikten wie dem „Kulturkampf“ (S. 445–446) oder den „Sozialistengesetzen“ (S. 461) wird nicht erwähnt, dafür aber das Interesse des Monarchen für das Militär hervorgehoben (S. 456). Zudem ist die Schilderung der außenpolitischen Vorstellungen des Hohenzollern weitgehend phrasenhaft gehalten, etwa wenn eine „sehr innige Russland-Liebe“ (S. 430) und dafür eine „Frankreich-Phobie“ als im „Erbgut angelegte Konstante“ (S. 80) Wilhelms geschildert werden. Die Erfassung der Komplexität der auswärtigen Beziehungen, die einen Rückgriff auf die internationalen Netzwerke und eine stärkere Berücksichtigung der Rolle von Persönlichkeiten der Ministerialbürokratie erfordert hätten, findet nicht statt. Auch die Bedeutung Wilhelms bei den latenten internationalen Krisen und großen Kongressen sowie insbesondere dem deutschen Kolonialerwerb wird nicht herausgearbeitet (S. 430–431).

Schulze-Wegener ist zwar bemüht, tradierte Bilder zu hinterfragen, wie den angeblichen Ausspruch von Wilhelm I. über Bismarck: „Es ist nicht leicht, unter einem solchen Kanzler Kaiser zu sein.“ (S. 387) Neue Erkenntnisse kann er damit nicht liefern, was auch das Fazit erklärt, in dem es heißt: „Es ehrt Wilhelm, für den Deutschland und Preußen keine Beute, sondern Schutzbefohlene waren, nicht wie sein Enkel mit herausfordernden Allmachtphantasien und Ausdehnungsstreben in die Welt hinausgetreten zu sein. Hierin liegt das historische Verdienst des ersten deutschen Kaisers, der Anspruch auf größten Respekt, nicht aber auf Größe hat.“ (S. 483) Die Argumentation mit Begriffen wie „Ehre“ und „Respekt“ als Maßstäbe im Urteil über eine historische Person verwundert ebenso, wie die verallgemeinernde Bilanz, Wilhelm habe „den Menschen als Vorbild und Richtschnur sittlichen Handelns“ (S. 482) gedient und als „sachorientierter Pragmatiker zwischen Tradition und Moderne“ bewiesen, „dass altpreußisches, monarchisches Gottesgnadentum auch im konstitutionellen Verfassungsstaat bestehen konnte“ (S. 483). Auch keiner dieser Begriffe wurde zuvor definiert.

Als Fazit über die Arbeit bleibt somit festzuhalten, dass konkrete Zielsetzungen und Methoden bei der Bewältigung des Stoffes fehlten, dementsprechend können keine validen Forschungsthesen präsentiert werden. Das Buch trägt mehr zur Etablierung eines Mythos um Wilhelm I. bei, als dass gemäß dem Ziel des Autors gängige Geschichtsbilder dekonstruiert werden. Es bleibt die Frage nach der eigentlichen Intention der Arbeit und an welchen Adressatenkreis sich Schulze-Wegener damit richtet. Hier steht unweigerlich die Erkenntnis, dass politisch randständige Geschichtsbilder ihren Wahrheitsanspruch auf Versatzstücke wissenschaftlichen Gestus' zu gründen versuchen, ohne tatsächlich aber auch nur elementare Kriterien wissenschaftlicher Erkenntnisproduktion zu erfüllen. Auf die Wilhelm-Biographie trifft somit das zu, was Markus Pöhlmann schon über frühere Werke von Schulte-Wegener bilanzierte: „Der vorliegende Text regt seine Leser nicht an, er bedient sie allenfalls – er bedient sie mit nationalkonservativen Geschichtsbildern des ausgehenden 19. Jahrhunderts und mit geschichtspolitischen Codes der ‚Neuen Rechten‘.“8 Eine auf archivalischen Quellen basierende und damit fundierte Biographie zu Wilhelm I. bleibt somit weiterhin ein Desiderat der Geschichtswissenschaft.

Anmerkungen:
1 Heinrich von Sybel, Die Begründung des Deutschen Reiches durch Wilhelm I. vornehmlich nach den preußischen Staatsacten. 7 Bände, 2. Aufl. München 1908 (1. Aufl. 1889–1894).
2 Erich Marcks, Kaiser Wilhelm I., 4. verbessere und vermehrte Aufl., Leipzig 1900 (1. Aufl. 1897), S. 411.
3 Franz Herre, Kaiser Wilhelm I. Der letzte Preuße, Köln 1980.
4 Karl Heinz Börner, Kaiser Wilhelm I. 1797 bis 1888. Deutscher Kaiser und König von Preußen (Kleine Bibliothek. Politik – Wissen – Zukunft 347), Köln 1984.
5 Christoph Nonn, Bismarck. Ein Preuße und sein Jahrhundert, München 2015.
6 BPH, Rep. 51.
7 BPH, Rep. 52.
8 Markus Pöhlmann: Rezension von: Guntram Schulze-Wegener: Illustrierte deutsche Kriegsgeschichte. Von den Anfängen bis heute, Graz: Ares 2010, in: sehepunkte 10 (2010), Nr. 9 [15.09.2010], URL: http://www.sehepunkte.de/2010/09/16968.html (22.11.2016).