S.-U. Follmann: Gesellschaftsbild, Bildung und Geschlechterordnung

Titel
Gesellschaftsbild, Bildung und Geschlechterordnung bei Isaak Iselin in der Spätaufklärung.


Autor(en)
Follmann, Sigrid-Ursula
Erschienen
Münster 2002: LIT Verlag
Anzahl Seiten
273 S.
Preis
€ 24,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Michael Gottlob, Bergamo

Isaak Iselin (1728-1782) zählt zu den Pionieren der bürgerlichen Geschichtsphilosophie im deutschsprachigen Raum. Seine Philosophischen Mutmassungen ueber die Geschichte der Menschheit (1764) – zunächst anonym erschienen, dann in mehreren überarbeiteten Neuauflagen unter dem Titel Ueber die Geschichte der Menschheit verbreitet – können Adam Fergusons Essay on the History of Civil Society (1766) und Voltaires Essai sur les moeurs (1769) an die Seite gestellt werden. Als Exponent des Unternehmens, die Vergangenheit systematisch auf die Erscheinungen zivilisatorischen Fortschritts hin zu untersuchen, wurde Iselin dann auch zur hauptsächlichen Zielscheibe von Herders Kritik an der Aufklärung (1774).

Die Bemühungen der Aufklärer galten nicht nur der rationalen Einsicht in den Lauf der Geschichte, sie suchten auch durch praktische Bildungsarbeit auf ihn einzuwirken. Und auch hierin war Iselin involviert wie wenige. Der Basler Ratsschreiber und Politiker arbeitete unablässig an der Verbesserung der gesellschaftlichen Zustände seiner Stadt. Er gründete die “Gesellschaft zur Aufmunterung und Beförderung des Guten und Gemeinnützigen” und gehörte zu den Mitbegründern der Helvetischen Gesellschaft in Schinznach (1761). Die von 1776 bis 1783 von ihm herausgegebenen Ephemeriden der Menschheit wurden zu einer der wichtigsten Zeitschriften der Spätaufklärung. Was Iselin darüber hinaus auszeichnet, ist seine besondere Aufmerksamkeit für die Erziehung der Mädchen und Frauen. Auch dies gleichermaßen auf theoretischer und praktischer Ebene und in einer immer noch streng patriarchalisch denkenden Zeit. Seine Einstellung und sein privates wie öffentliches Handeln in dieser Richtung (z.B. bei der Einrichtung einer Mädchenschule in Basel) war auch biografisch begründet: Er war Sohn einer selbstbewussten, geschiedenen Mutter und Vater mehrerer Töchter.

All dies macht Iselin zu einem interessanten Untersuchungsgegenstand sowohl für die Aufklärungs- wie die Geschlechterforschung, und auch zu einem Testfall für die Umsetzung aufklärerisch-emanzipatorischer Ansätze in die Praxis. Es sind die Fragestellungen der Arbeit von Sigrid-Ursula Follmann, die im Jahr 2001 von der Universität Basel als Dissertation angenommen wurde. Der Gang der Argumentation ist in vier Abschnitte gegliedert, die sich mit den zeitgeschichtlichen Strömungen (Kap. 2), Iselins Weltanschauung und Bildungsbegriff (Kap.3), dem Geschlechterdiskurs der Aufklärung und seiner Wirkung auf Iselin (Kap. 4.1-8) sowie der Umsetzung der Vorstellungen Iselins in die eigene Lebens- und Erziehungspraxis (Kap. 4.9-11) befassen. Während die ersten drei Abschnitte sich hauptsächlich auf gedrucktes Quellenmaterial stützen (neben der Geschichte der Menschheit die Philosophischen und politischen Versuche, verschiedene Schriften über die Reform des Schulwesens und die Basedowschen Erziehungsmethoden u.a.) werden für den letzten Abschnitt auch die unveröffentlichten Tagebücher ausgewertet, aus denen ausführlich zitiert wird.

Unter den zeitgenössischen Strömungen in Philosophie, Anthropologie und Geschichtsschreibung werden besonders die sensualistische Erkenntnistheorie, das moderne Naturrecht und die Idee eines alle Völker umfassenden Entwicklungsprozesses mit dem Telos der Perfektionierung des Menschen als prägend für Iselin angesehen. Neben anderen Meisterdenkern (besonders der englischen und französischen Aufklärung) beeindrucken ihn vor allem Rousseau, den Iselin 1752 in Paris besucht, und Basedow, zu dem er eine persönliche Freundschaft entwickelt. Beide stehen für die Verbindung von philosophischer Theorie und pädagogischer Programmatik.

Anders als Rousseau freilich hegt Iselin keinen Zweifel an den positiven Wirkungen von Bildung und Wissenschaft. Ausgehend von der Grundannahme, dass “in der menschlichen Seele ein Trieb zu der Wißenschaft und der Erkänntnis eingepflanzet ist”, sieht sich Iselin durch die historische Erfahrung in der Überzeugung bestätigt, dass Fortschritte im rationalen Denken und moralisch-politischen Handeln einander wechselseitig verstärken: “Wie die Liebe zu den Wissenschaften, und zu den schönen Künsten, die sittliche und politische Verbesserung der Gesellschaft befördert hat; so haben auch die lieblichen Einflüsse der Freiheit die Ausbreitung der Wahrheit und des guten Geschmacks nicht wenig erleichtert.” Einen Zustand glücklicher Unwissenheit habe es nur am Anfang geben können. Im weiteren Verlauf der Entwicklung war Glück nur durch Bildung zu erreichen (S. 64-66). Oberste Bildungsziele sind für Iselin Gemeinnützigkeit, Glückseligkeit und Tugend. Geht es zum einen um persönliche Eigenschaften wie “arbeitssam und fleißig, vernünftig und mäßig”, so wird zugleich unterstellt, dass die Vollkommenheit des Individuums mit seiner Brauchbarkeit für die Gemeinschaft übereinstimmt. Die Verfolgung des Glücks der anderen dient auch dem Erreichen des eigenen (S. 77f.). Im Hinblick auf die innere Verbindung von individuellen und kollektiven Zielen weist Iselin dem Staat eine zentrale Rolle in der Bildung zu, und er merkt kritisch an, dass dieser sie bis dahin nicht hinreichend wahrgenommen habe (S. 83). Dies galt umso mehr für die Erziehung der Mädchen.

Das vierte Kapitel (“Geschlechterverhältnis und weibliche Bildung”) kann als Hauptteil der Arbeit betrachtet werden. Es gliedert sich seinerseits in einen ideengeschichtlichen Abschnitt, der Iselins Gedanken in die zeitgenössische Diskussion einzuordnen sucht, und einen sozialgeschichtlichen, in dem es um die Umsetzung der Gedanken in die Praxis geht. Vor dem Hintergrund der knapp skizzierten “Querelle des Femmes” und des Geschlechterdiskurses der Aufklärung werden Iselins “Frauenbilder” in den Tagebüchern vorgestellt. Von dem bisherigen Spektrum zwischen misogynen und philogynen Positionen, nach denen die Frauen zur Tugend entweder durch Strafandrohung gezwungen oder durch Vorbilder stimuliert werden müssten, setzt sich Iselin insofern ab, als er die Grundannahme einer ständigen moralischen Gefährdung der Frauen aufgibt. Für ihn ist Tugend (definiert als “Fertigkeit, seine freyen Handlungen gesäzzmäßig einzurichten”) unabhängig vom Geschlecht (S. 132).

Ein Vergleich mit Fénelon verdeutlicht den neuen Ansatz. Während dieser die ethische Inferiorität der Frau unterstellt und daraus die Notwendigkeit der Bildung ableitet, ist es für Iselin gerade umgekehrt: Er sieht die tatsächlich bestehende Geschlechterhierarchie in den ungleichen Bildungschancen begründet. “Sie hat einen Verstand. Wer weiß, was daraus zu machen wäre, wenn man sich Mühe gäbe, denselben zu bilden.” (S. 152) Der Anspruch auf Gelehrtheit muss für Frauen ebenso gelten wie für Männer.

Andererseits aber soll die “weibliche Wissensbegihrde” auch nach Iselin in bestimmten Schranken bleiben. Denn sobald sie z.B. “der Ausübung wesentlicher Pflichten hinderlich wird, so bald wird sie ein Uebel” (S. 142). Es besteht ein Spannungsverhältnis zwischen dem anerkannten Menschenrecht auf Bildung und dem Zweck, den die Frau mit Blick auf den Haushaltsbereich zu erfüllen hat (S. 146). Iselin geht nicht soweit, neben dem Anspruch auf Bildung auch die Möglichkeit der eigenständigen Berufsausübung und einer ökonomisch autonomen Existenz ins Auge zu fassen (S. 158). Das Prinzip der Gleichwertigkeit findet weder auf den rechtlichen Bereich noch auf den der Politik Anwendung. In keiner der von Iselin verfolgten juristischen Streitfragen geht es um den Fall einer Frau. In seinen verfassungsrechtlichen Abhandlungen finden Frauen überhaupt keine Erwähnung (S. 165f.).

Bei der Umsetzung seiner pädagogischen Zielvorstellungen im Reformprojekt der neuen Basler Mädchenschule und bei der Erziehung der eigenen Töchter bestimmen denn besonders die weiblichen Zuständigkeiten für Kindererziehung und Haushaltsführung die Bildungsinhalte (S. 173). Dass Iselin Unterschiede zwischen Töchtern und Söhnen macht, bedeutet aber für Follmann ebensowenig einen Widerspruch zum Prinzip der Gleichwertigkeit wie die traditionelle Rollenverteilung in Iselins Ehe.

Follmanns Erkenntnisinteresse ist auch darauf gerichtet, am Fall Iselins theoretische Modelle der Geschlechterforschung zu überprüfen, so z.B. Karin Hausens Diagnose einer neuartigen Kontrastierung von Mann und Frau im Bürgertum, entsprechend der “Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben”. Das vorweggenommene Ergebnis lautet, dass “im Hinblick auf Wohn-, Arbeits- und Geselligkeitsformen und das soziale Engagement die Festlegung der Frau auf ein geschlechtsspezifisches Verhaltensmuster nicht haltbar ist. Weder existiert eine strikte Trennung von privater und öffentlicher Aktivität noch von weiblicher und männlicher Sphäre” (S. 111). Aus der Bindung der Frau an das Haus könne nicht gleich auf Asymmetrie im Verhältnis zu ihrem Mann geschlossen werden, denn Hausarbeit mit allen damals erforderlichen Kompetenzen sei als gleichwertig zur Erwerbsarbeit anzusehen (S. 191). Wiederholt wird betont, die unterschiedliche Rollenzuweisung sei bei Familie Iselin nicht mit Hierarchisierung verbunden gewesen (S. 196).

Der Befund über Iselins Wertschätzung des Familienlebens wird freilich arg strapaziert, z.B. wenn ihm die Beweislast für folgende Schlussfolgerung aufgebürdet wird: “Die These, der bürgerliche Mann gründe seine Identität im 18. Jahrhundert auf seine persönlichen Leistungen und Fähigkeiten, bestätigt sich bei Iselin nicht.” (S. 193) Da Iselin seine Identität durch die Familie finde, ergebe “sich eine Gleichwertigkeit der Ehepartner trotz unterschiedlicher Arbeitsbereiche” (S. 194). Und was am Einzelfall beobachtet wird, wird wiederum als Indiz für die gesamte Gesellschaft gelesen. Die bürgerliche Familie erscheint als Kern einer neuen Gesellschaftsordnung, in der der Frau geradezu automatisch höherer Status und größere Handlungsmöglichkeiten zuwachsen. “Durch die Bedeutung der Familie innerhalb der Gesellschaft wird die Ehefrau in ihrem Wirkungskreis betont.” (S. 202) Den Hinweis auf die maßgeblich von der Ehefrau bestimmte Pflege der persönlichen Beziehungen (“ein tragendes Strukturelement in der frühneuzeitlichen Gesellschaft”) will Follmann als ein Hauptergebnis ihrer Arbeit verstanden wissen: “Hier zeichnet sich eine Beteiligung der Ehefrau an bürgerlicher Öffentlichkeit ab, die bisher in dieser Form nicht wahrgenommen wird.” (S. 205)

Iselin, der “Wegbereiter der Idee einer neuen sozialen Ordnung der Geschlechter” (S. 7), war, so wird abschließend etwas unvermittelt festgestellt, “kein Anhänger einer egalitären Geschlechtertheorie” (S. 207). Die Zuständigkeit der Frauen für den häuslichen und erzieherischen Bereich wurde nun damit begründet, dass sie angesichts ihrer Verbindung von Emotionalität und Rationalität dafür besonders qualifiziert seien. Dass dies auch eine Möglichkeit war, ungleiche Rollenverteilungen unter sich ändernden Rahmenbedingungen festzuschreiben und neu zu legitimieren, hätte, mit Blick auf das 19. Jahrhundert, sicher eine ausführlichere Erörterung verdient.

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