C. Stange-Fayos: Publizistik und Politisierung

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Titel
Publizistik und Politisierung der Frauenbewegung in der wilhelminischen Epoche. Die Zeitschrift Die Frau (1893–1914). Diskurs und Rhetorik


Autor(en)
Stange-Fayos, Christina
Reihe
Zivilisationen & Geschichte 29
Erschienen
Frankfurt am Main 2014: Peter Lang GmbH/Wien
Anzahl Seiten
310 S.
Preis
€ 59,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Andreas Neumann, Jena

Dem weit verbreiteten Gefühl einer Krise trotzend, setzte Helene Lange in ihrer ab 1893 herausgegebenen Monatsschrift „Die Frau“ auf optimistische Topoi des Kulturfortschritts. Selbstbewusst verkündete das erste Editorial: Die „neue Zeit“ werde „unsere Zeit“ sein. Lange knüpfte damit an die Tradition der älteren Frauenbewegung an: Das Vereinsorgan des 1865 gegründeten Allgemeinen Deutschen Frauenvereins (ADF) trug den nicht minder selbstbewussten Namen „Neue Bahnen“. Die liberalen Kreise Berlins begrüßten Langes Engagement. Bedingung dieser Sympathie waren gemäßigte Töne hinsichtlich politischer Fernziele. Radikale Gleichheitsprämissen im Sinne Harriett Taylor Mills und John Stuart Mills waren auch 20 Jahre nach Veröffentlichung des Essays „Die Hörigkeit der Frau“ selbst im gebildet-liberalen Milieu kaum konsensfähig.1 Selten drang die Forderung nach Frauenrechten als genuin politische Frage in die Öffentlichkeit. Vielmehr galt die „Frauenfrage“ ironischerweise bei Bürgern und Sozialisten gleichermaßen als Nebenprodukt der sozialen Frage. Zu dieser abgeschwächten Problemdefinition trug Langes publizistische Strategie im bürgerlichen Lager bei: Ihr paradox anmutendes Erfolgsrezept lässt sich als kämpferischer Reformismus oder konservative Emanzipation beschreiben. In diese Richtung zielt zumindest die Hauptthese der Studie von Christine Stange-Fayos: Bei der Zeitschrift handele es sich um ein in der Geschichte der Frauenbewegung bislang unterschätztes Periodikum, das im „Gewand der Reform“ ein dennoch emanzipatorisches Revolutionsprogramm besaß (S. 204). Reformismus sicherte die Legitimität des Unternehmens. In der Bewertung damals wie heute umstritten ist die Frage: um welchen Preis?

In Form einer „Biographie der Monatsschrift“, deren Digitalisate in einer Onlinedatenbank zugänglich sind2, schließt die Studie eine Forschungslücke zur Publizistik der bürgerlichen Frauenbewegung. Die Fragestellung zielt auf das innere und äußere Profil der Zeitschrift: Unter Profil oder „Diskursstrang“ versteht die Autorin das Auffinden „signifikanter Diskursfragmente“, das heißt regelmäßig auftauchender Themen. Was hierbei zutage trete, mute aufgrund der Themenvielfalt „fast wie ein enzyklopädisches Vorhaben an“ (S. 43). Es könnte der Eindruck entstehen, der Untertitel des Blattes „Monatsschrift für das gesamte Frauenleben“ entspreche seiner tatsächlichen Repräsentationsreichweite: Zwar war es mit circa 700 Seiten pro Jahrgang tatsächlich das umfangreichste Periodikum, doch weder sprach es im Sinne von Sozialistinnen wie Clara Zetkin, noch sprach es für Radikal-Fortschrittliche wie Anita Augspurg. Das Erkenntnisinteresse Stange-Fayos zielt neben der Klassifikation zentraler Inhalte und deren gesellschaftlicher Wirkung auf die Frage, ob das Blatt dennoch die „Meinungsvielfalt“ innerhalb der Frauenbewegung abbildete und damit die vorherrschenden Unterschiede eher überbrückte oder ob es eine „harte Linie“ vertrat (S. 23, 68).

Der von Stange-Fayos gewählte Zugang zum umfangreichen Quellenmaterial, bestehend aus 21 Jahrgängen zwischen 1893 und 1914, zielt auf eine Kombination der kritischen Diskursanalyse Siegfried Jägers mit den Perspektiven einer historischen Diskursanalyse Achim Landwehrs. Die Autorin folgt dabei den von Jäger vorgeschlagenen Analyseschritten3: Im ersten Teil ihrer Studie beleuchtet sie eingehend den institutionellen Kontext der Zeitschrift, der sich vor allem aus Zielgruppe, Auflage, Preis, vertretenen Textsorten, Autoren, Redaktion und Programmatik zusammensetzt.

Im zweiten Teil widmet sie sich der inneren Analyse. Hierbei besitzt die Form der Texte eine ebenso große Bedeutung wie der Inhalt: Es geht nicht nur um das Auffinden von thematischen Aussagen, sondern auch um linguistische Fragen nach stilistischen Mitteln und rhetorischen Figuren, mit denen Aussagen im Diskurs platziert worden sind. Als Maßstab zur Auswahl eines möglichst repräsentativen Textkorpus dienen inhaltliche Kriterien: Die Analyse erstreckt sich auf Aufsätze, die „mehrere Themen in Einem“ ansprechen und „Statements“ enthalten (S. 98). Als hilfreich zu dieser inhaltlichen Erschließung der Monatsschrift erwies sich eine 1968 von Elisabeth Boedeker zusammengestellte (Neu-)Gliederung aller Artikel nach Fachgruppen.4 Die Titel der für die Studie ausgewählten Beiträge sind im Anhang verzeichnet. Einzelne Biogramme bieten zudem einen schnellen Zugang zu den Autorinnen und Autoren.

Stange-Fayos innere Analyse des Periodikums gliedert sich entlang von fünf „Diskursschneisen“ oder Themenkomplexen. Der erste Abschnitt betrifft Aufsätze über (I) die „Organisation der Frauenbewegung“: In der Berichterstattung über Versammlungen und Kongresse zeigt sich, dass bei kurz- und mittelfristigen Zielen durchaus Konsens herrschte. Zwar stritten die Lager der Gemäßigten und Fortschrittlichen innerhalb des Bundes Deutscher Frauenvereine (BDF) über Grundsatzfragen, doch bestand an einer Reproduktion der Debatte im Periodikum „Die Frau“ wenig Interesse. Die anfänglich zögerliche Berichterstattung über derlei Veranstaltungen nahm immer wohlwollendere Züge an, was die Autorin als Konsolidierung der Frauenbewegung deutet. Im Anschluss daran widmet sich die Darstellung der (II) „Protestmobilisierung in Rechtsfragen“, die vor allem aus Bestrebungen zur Änderung des Entwurfs eines neuen Bürgerlichen Gesetzbuches in den 1890er-Jahren bestand. Gerade das Scheitern dieser Einflussnahme vor allem auf das patriarchale Familienrecht stärkte den Zusammenhalt in der Frauenbewegung und führte ihr schließlich neue Mitglieder zu. In Sachen (III) „Sozialpolitik“ blieb die Zeitschrift ihrer reformistischen Ausrichtung treu. Zwar öffnete sie sich den Problemkreisen radikaler Frauenrechtlerinnen und trat unter anderem für Frauenberufe, weibliche Gewerbeinspektorinnen, Arbeiterinnenschutz und Wahlrecht ein, verblieb jedoch in ihrer bildungsbürgerlichen Wertewelt. Es ging um „standesgemäße“ Berufe und einen „indirekten Weg“ zum Wahlrecht, der allzu offene Petitionen vermeiden sollte. Damit behielt das Blatt genug Distanz zu Sozialisten und Fortschrittlichen, um in der bürgerlichen Öffentlichkeit lesbar zu bleiben. Die letzten beiden Abschnitte widmen sich (IV) „gesellschaftlichen Integrationsstrategien“ und (V) „politischer Partizipation“. „Geistige Mütterlichkeit“ war für Lange das Vehikel zur gesellschaftlichen Integration ihrer Forderungen. Grundsätzlich verblieb das Konzept im Geschlechterdualismus seiner Zeit und umfasste Mutterschaft als wesentliches Merkmal von Frauen. Doch beinhaltete es zugleich eine Form der „weiblichen Mitgestaltung der Gesellschaft“, die an zu viel „männlichen Einflüssen“ krankte (S. 175). Im Kontrast zum strengen Biologismus, der die Stellung der Frauen in Staat und Gesellschaft mithilfe der Ideologie einer weiblichen Sonderanthropologie ausschloss, sorgte das Topos der „Kulturbewegung“ für Dynamik.

Es gab Anknüpfungspunkte an die Inhalte von Sozialistinnen und Radikalen. Darin zeigt sich ein gewisser Meinungspluralismus im untersuchten Periodikum. Um jedoch die bürgerlichen Sagbarkeitsgrenzen nicht zu verlassen, erfolgten derlei Ausflüge stets gepaart mit einer „inneren Agitation“ der Mäßigung (S. 120). Durch Auswahl geeigneter Autorinnen und Autoren – Zetkin und Augspurg gehörten nicht dazu – und strenge Textredaktion durch die Herausgeberin blieb die strategische Positionierung der Zeitschrift zwischen Konservatismus und Moderne stabil. Stange-Fayos geht von einem hohen Einfluss Langes auf die Inhalte der Zeitschrift aus. Zudem lieferte die Herausgeberin die meisten Artikel selbst. Ähnliches Sendungsbewusstsein entfaltete lediglich ihre Lebensgefährtin Gertrud Bäumer, die schließlich selbst zur Herausgeberin des Blattes avancierte.

Stange-Fayos gelingt mit ihrer Studie eine Aufschlüsselung der Themenkomplexe des „Flaggschiffes“ unter den Publikationen der Frauenbewegung. Dabei werden gesellschaftliche Wirkungen sichtbar, die in der Öffnung höherer Bildungswege, der Änderung des einschränkenden Vereinsrechts und dem Stimmrecht für Frauen bestanden. Durch die Einbindung einer Autoren- bzw. Handlungsebene vermeidet Stange-Fayos das von Rainer Keller als „Diskurskonstruktivismus ohne Konstrukteure“5 bezeichnete Problem rein textgebundener Diskursanalysen. Es stellt sich jedoch die Frage, ob ihr Strategie-Begriff im Hinblick auf das Handeln Langes nicht über dieses Ziel hinaus schießt und einer diskursanalytischen Perspektive widerspricht. Im Sinne Landwehrs handelt es sich bei Diskursanalysen um die Nutzung eines „hypothetisch unterstellte[n] Strukurierungszusammenhang[s]“6, der auf die Regeln des Machbaren, Denkbaren und Sagbaren von Aussagen zielt. Erscheint aus dieser Perspektive die Diskursmächtigkeit Langes nicht überbewertet? Ließe sich anstelle einer bewussten und sich selbst transparenten Strategie nicht gerade das Gegenteil behaupten: Waren Lange und ihre Zeitschrift vielleicht selbst Zeichen einer gesellschaftlichen Öffnungstendenz und damit weit mehr beeinflusst von den Diskursen innerhalb der „Grenzen des Sagbaren“ als es ein auf das Subjekt zielender Strategiebegriff suggeriert? War Langes Argumentationsstrategie des Kulturfortschrittes nicht vielmehr Produkt als Ursache eben dieser kulturellen Dynamisierung?

Anmerkungen:
1 John Stuart Mill / Harriet Taylor Mill, Die Hörigkeit der Frau, Frankfurt am Main 1976 (englische Erstausgabe 1869), S. 125–278.
2 The Gerritson Collection of Aletta H. Jacobs, <http://gerritsen.chadwyck.com> (02.05.2016).
3 Vgl. Siegfried Jäger, Kritische Diskursanalyse. Eine Einführung, 6. Aufl., Münster 2012 (1. Aufl. 1993), S. 98–108.
4 Elisabeth Boedeker (Hrsg.), Die Frau. Gesamtverzeichnis der Aufsätze, Hannover 1968.
5 Reiner Keller, Wissenssoziologische Diskursanalyse. Grundlegung eines Forschungsprogramms, 3. Aufl., Wiesbaden 2011 (1. Aufl. 2005), S. 98, 128.
6 Achim Landwehr, Historische Diskursanalyse, Frankfurt am Main 2008, S. 21.