A. Herzig u.a. (Hgg.): Judentum und Aufklärung

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Titel
Judentum und Aufklärung. Jüdisches Selbstverständnis in der bürgerlichen Öffentlichkeit


Herausgeber
Herzig, Arno; Horch, Hans Otto; Jütte, Robert
Erschienen
Göttingen 2002: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
244 S.
Preis
€ 28,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Cornelia Aust, Friedrich-Meinecke-Institut, Freie Universität Berlin

Der Sammelband „Judentum und Aufklärung“ präsentiert die Ergebnisse des 1994 von der DFG bewilligten Großprojektes „Wandlungsprozesse im Judentum durch die Aufklärung. Interaktionen, Strukturen, Manifestationen“. Doch allein der Blick ins Inhaltsverzeichnis genügt um festzustellen, dass es sich ausschließlich um Beiträge zur Geschichte des deutschen Judentums handelt. Eine europäische Perspektive war offenbar von Anfang an nicht vorgesehen.

In diesem Sinne stellen auch die Herausgeber Arno Herzig, Hans Otto Horch und Robert Jütte in ihrer Einleitung ganz traditionell die Haskalah mit Moses Mendelssohn als Begründer ins Zentrum des Wandels, der das Judentum in Deutschland spätestens ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts erfasste. 1 „Im Unterschied zu eher geistesgeschichtlich ausgerichteten Studien zur Haskalah“, die sich oft an einzelnen Persönlichkeiten orientierten, gehe es vor allem „um die auf Gruppen bezogene Vermittlung bestimmter als reformerisch angesehener Inhalte, die für das jüdische Selbstverständnis wie auch für das religiöse und soziale Leben von entscheidender Bedeutung waren“ (S. 17). So erfreulich das Bemühen ist, von einer personenbezogenen zu einer gruppenspezifischen Betrachtung des Phänomens Haskalah überzugehen, so bedauernswert bleibt es, dass die Haskalah offenbar immer noch allein im Zentrum der Überlegungen steht, ohne dass die Veränderungen in größere Entwicklungsprozesse wie Urbanisierung, Verbürgerlichung, Industrialisierung u.a. eingeordnet und diese Faktoren explizit benannt werden. 2 Inwieweit das Judentum in Deutschland nur durch die Haskalah „seine Antwort auf die Moderne gefunden hatte“ (S. 29), wie die Herausgeber meinen, bleibt eher fraglich.

Der Erfolg des Projektes muss jedoch an den Ergebnissen der einzelnen Forschungsbeiträge gemessen werden. Bei diesen sollte laut Herausgeber ein vor allem sozialgeschichtlich fundiertes kommunikationstheoretisches Modell als Grundlage dienen, das folgende leitende Kategorien enthält: „die Akteure des in Frage stehenden Wandlungsprozesses, dessen Inhalte“, die eingesetzten Instrumente, die „Adressaten der den Prozess bestimmenden direkten und indirekten Botschaften“ sowie die Reaktionen auf den Wandlungsprozess (S. 11). Dieses Vorhaben umzusetzen, war, betrachtet man die einzelnen Beiträge, offenbar nicht immer einfach.

Rotraud Ries geht in ihrem Beitrag („Hofjuden als Vorreiter?“) der Frage nach, unter welchen Bedingungen und mit welchem Ergebnis die Hofjuden im deutschsprachigen Raum ihren Weg in „die Moderne“ gingen. Dabei ist sie intensiv um eine Differenzierung, je nach Größe des Hofes, dem Einfluss des Hofjuden oder seiner Stellung gegenüber der jüdischen Gemeinde bemüht. So gelingt es ihr, berühmte Beispiele wie Joseph Süß Oppenheimer oder die Rothschilds ein wenig aus dem Rampenlicht zu rücken. Sie kann überzeugend nachweisen, dass die Mehrheit der Hofjuden, vor allem im Süden Deutschlands, eher traditionsstabilisierend wirkte. Dies schloss allerdings nicht aus, dass sie ihre Tradition „zeitgemäß“ modernisierten (S. 62). Es war eher ein kleiner Teil der Hofjuden, die sich als aktive Förderer der Haskalah und der Maskilim erwiesen. Eher seien sie im chronologischen Sinne Vorreiter gewesen, da sie zu einem Zeitpunkt „in die Identitäts-Krise gestürzt [wurden], als ihnen noch keine durch innerjüdische Reformen wieder ‚zeitgemäß’ erscheinenden Identitätsangebote zur Verfügung standen“ (S. 62f.). Ermüdend an Ries’ Beitrag ist allerdings, dass sie in fast jedem Satz die Begriffe „Kommunikationsspielraum“ (den sie aber nicht erläutert), „Akteure“, „Adressaten“ und gar „Adressaten-Akteure“ wiederholt. Dies bringt für den Beitrag keinen zusätzlichen Erkenntnisgewinn.

Eine theoretische Grundlage fehlt dagegen im Beitrag von Ingrid Lohmann und Uta Lohmann über die 1778 von Isaak Daniel Itzig und David Friedländer in Berlin ins Leben gerufene Freischule („Die jüdische Freischule in Berlin im Spiegel ihrer Programmschriften 1803-1826“). Weitgehend chronologisch erzählen sie die Geschichte der Freischule am Übergang „zwischen spätfeudal-absolutistischer und moderner bürgerlich-kapitalistischer Gesellschaft“ (S. 88). Die Programmschriften dienen dabei eher als Zitatengeber, ohne dass aus der Geschichte der Schule weitergehende Schlussfolgerungen für die Wandlungsprozesse innerhalb des Berliner Judentums gezogen werden. Die germanozentrische Aussage, dass mit der Freischule „erstmals in der jüdisch-europäischen Geschichte Realien und Landessprache den Schwerpunkt schulischen Unterrichts“ bildeten, muss man mit Blick auf die Iberische Halbinsel und Italien entschieden in Frage stellen.

Eher literaturwissenschaftlich nähert sich Gabriele von Glasenapp („Zwischen Selbstinszenierung und Publikationsstrategie. Der Lehrer als Autor und Akteur in der deutschsprachigen Ghettoliteratur“) dem Thema Bildung, indem sie das Bild des Lehrers in einer Auswahl von Ghettoliteratur untersucht. Sie kann nachweisen, dass „der jüdische Lehrer [...] die jüdische Bildungsgeschichte und Akkulturation gleichermaßen [personifiziert]“ (S. 219). Auch wenn entgegen des Titels nur zwei der sechs von ihr genannten Autoren tatsächlich selbst Lehrer waren, kann sie einen Wandel des Lehrerbildes in der Ghettoliteratur nachzeichnen. Verbunden mit einer allgemeinen Veränderung bei der Bewertung des Akkulturationsprozesses gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurde der Lehrer vom Kämpfer zwischen „Licht“ (Akkulturation) und „Finsternis“ (Ghetto) zur Quelle bewusst gelebten Judentums.

Drei weitere Beiträge beschäftigen sich vor allem mit innergemeindlichen Auseinandersetzungen um religiöse Reformen. Gabriele Zürn („Die Jüdische Gemeinde Altona zwischen Tradition und Moderne. Aufklärung und Umgang mit dem Tod 1772-1875“) kann anhand der Geschichte der Altonaer Chewra Kaddischa (Beerdigungsbruderschaft), aber auch der Auswertung von Grabsteinen und Testamenten zeigen, dass „der aufklärungsbedingte Einstellungswandel zum Tod […] keine linear verlaufende Begleiterscheinung der Säkularisierung, sondern ein langfristiger und vielschichtiger Prozess [war], in dem neue Ideologien mit der Tradition rangen“ (S. 118). Neben dem nachlassenden Interesse der Gemeindemitglieder führten jedoch auch staatliche Verordnungen und eine Neukonsolidierung der jüdischen Gemeinde zum Bedeutungsverlust der Beerdigungsbruderschaft. Hier deutet sich auch an, dass die Haskalah hier bei weitem nicht der einzige Faktor für Veränderungen war.

Eine ähnlich intensive Diskussion wie die Frage der Beerdigung brachte auch die Beschneidung und das Bemühen um deren Reform hervor. Eberhard Wolff („Medizinische Kompetenz und talmudische Autorität. Jüdische Ärzte und Rabbiner als ungleiche Partner in der Debatte um die Beschneidungsreform zwischen 1830 und 1850“) untersucht, wie und mit welchen Argumenten Rabbiner und Ärzte diese religionsgesetzliche wie auch medizinisch motivierte Reform, eingebettet in den allgemeinen Hygienediskurs der Zeit, voranzutreiben oder zu verhindern versuchten. Dabei zeigt sich der allgemeine Autoritätsverlust der Rabbiner, die nur vorsichtig medizinische Argumente vorbrachten oder sich direkt auf Ärzte beriefen. Diese dagegen, die sich auch als „eine generelle Elite im kulturellen Wandlungsprozess“ (S.149) zu verstehen begannen, griffen oft ohne Bedenken auf religiöse Argumentationsstrategien zurück, ohne sich explizit auf die Rabbiner zu berufen.

Auf allgemeiner Ebene stellt Eva Groiss-Lau („Diskurs über den Wandel auf dem Lande anlässlich der israelitischen Kreisversammlungen im Königreich Bayern 1836“) den Wandlungsprozess und vor allem den Einfluss der jüdischen Gemeinden, ihrer Rabbiner und Lehrer am Beispiel Bayerns dar. Allerdings lässt sich, u.a. angesichts staatlichen Eingreifens zugunsten eigener Ordnungsvorstellungen, bezweifeln, dass es sich um einen nur „aufklärungsbedingten Wandlungsprozess“ handelt, wie Groiss-Lau schreibt. Anhand der Tagungsprotokolle der Kreisversammlungen beschreibt sie für Mittel-, Ober- und Unterfranken die Zusammensetzung der Teilnehmer und den Verlauf der Diskussionen, wobei sie deutliche regionale Unterschiede aufzeigt. Auch bei ihr wird der Autoritäts- und Kompetenzverlust der Rabbiner innerhalb der jüdischen Gemeinden deutlich, zumal ein innerjüdischer Diskurs nur für kurze Zeit auch für den bayrischen Staat von Interesse war. Letztendlich waren es staatliche Edikte und Reskripte, die die Vorstellungen der Regierung durchsetzten, ohne wirklich Rücksicht auf innerjüdische Diskurse zu nehmen.

Hans-Michael Haußig analysiert in seinem Beitrag („Ein Fest der Freude und des Dankes“) die Huldigungs-Rede des orthodoxen Rabbiners Israel Deutsch anlässlich der Inthronisation und des Geburtstages des preußischen Königs Wilhelm IV. im Jahre 1840. Er zeigt deutlich, dass sich die Haltung des Rabbiners, der seine Rede selbstverständlich auf Deutsch vortrug, in Bezug auf eine implizite und explizite Erneuerung des Judentums höchstens in wenigen Punkten und nur graduell von der der Reformer unterschied. Die bürgerlichen Werte standen für ihn nicht „im Widerspruch zur ererbten jüdischen Tradition, sondern sind vielmehr in bester Weise mit ihr vereinbar“ (S. 191). Israel Deutsch betonte die Zugehörigkeit der Juden zum allgemeinen Preußentum und habe die Messiasvorstellung in ihrer „personalen Dimension“ erhalten und „auf den gegenwärtigen Herrscher fokussiert“ (S. 187).

In einem weiteren Beitrag („Synagogendiskussion: Architekten und die Modernisierung des Judentums“) beschreibt Saskia Rohde anhand von theoretischen Schriften mehrerer jüdischer Architekten, wie die Synagogenarchitektur der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf die Wandlungsprozesse des deutschen Judentums reagierte, sie reflektierte oder vorantrieb. Im Zentrum stand dabei vor allem der Wandel der Synagoge vom profanen Zentrum des Gemeindelebens zum sakralen Gotteshaus, egal ob die Synagoge im maurischen Stil oder im „deutschen Stile“ erbaut wurde. So zeigt auch die Entwicklung der Synagogenarchitektur deutlich die Akkulturation der jüdischen Bevölkerung in Deutschland.

Gerade angesichts der Ergebnisse der einzelnen Beiträge muss man sich fragen, warum die Betonung auf der Haskalah als Wandlungsfaktor liegt und andere Ursachen nicht stärker beleuchtet werden. Ein europäischer Vergleich wurde in diesem Projekt leider nicht gewagt. Dabei ist es längst an der Zeit, sich von einer germanozentrischen Sichtweise zu verabschieden.

Anmerkungen:
1 Diesem Blick wird heute durchaus widersprochen. Vgl. z.B. zu England: Rudermann, David B., Jewish Enlightenment in an English Key. Anglo-Jewry’s Construction of Modern Jewish Thought, Princeton 2000. Die Periodisierung stellte schon 1960 Azriel Schochat gegen Jacob Katz in Frage: Schochat, Azriel, Der Ursprung der jüdischen Aufklärung in Deutschland, Frankfurt am Main 2000 [Original: An der Epochenwende. Beginn der Aufklärung bei den deutschen Juden, Jerusalem 1960, hebr.].
2 So kann man in Osteuropa für das 19. Jahrhundert durchaus von einer „Modernisierung“ sprechen, ohne dass die Haskalah eine zentrale Rolle dabei spielte. Vgl. Lederhendler, Eli, Modernity without emancipation or assimilation? The case of Russian Jewry, in: Frankel, Jonathan; Zipperstein, Steven J. (Hgg.), Assimilation and Community. The Jews in nineteenth-century Europe, Cambridge 1992, S. 324-343.

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