S. Zohry: Pädagogische Konzepte der Nachkriegszeit

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Titel
Pädagogische Konzepte der Nachkriegszeit. Die Erziehung von Kindern und Jugendlichen zum Umgang mit Technik in den 1950er-Jahren


Autor(en)
Zohry, Sabine
Erschienen
Anzahl Seiten
200 S.
Preis
€ 24,95
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Julia Kurig, Fakultät für Geistes- und Sozialwissenschaften, Helmut-Schmidt-Universität/Universität der Bundeswehr Hamburg

Die von Sabine Zohry an der Leuphana Universität Lüneburg angefertigte Dissertationsschrift hat es sich zum Ziel gesetzt, die pädagogischen Konzepte der 1950er-Jahre am Beispiel der Frage nach dem Umgang mit Technik zu analysieren. Damit hat sich Zohry einen in mehrfacher Hinsicht interessanten Forschungsgegenstand ausgesucht: So sind sowohl die frühe Nachkriegszeit als auch das Verhältnis der Pädagogik zur Technik in der Historischen Bildungsforschung bislang unterbelichtete Themengebiete geblieben. Erforschen ließen sich an ihnen nicht nur Kontinuitäten und Brüche pädagogischer Disziplin-, Ideen- und Diskursgeschichte zwischen der Weimarer Republik und der Adenauer-Ära, sondern auch das Verhältnis der Pädagogik zum ‚harten Kern‘ von Modernisierungsprozessen insgesamt, nämlich der Durchdringung moderner Lebenswelten mit Technik. Umso enttäuschender ist es, wenn dieses thematische Potential weitgehend ungenutzt bleibt.

Dies hat seine Gründe schon auf der Ebene der Forschungsziele und -methodik. Denn wenn es tatsächlich, wie der Titel suggeriert, um ein Stück Geschichte pädagogischer Konzepte gegangen wäre, hätte Zohry – statt auf einen Artikel zur „Konzeptentwicklung“ von Dieckmann in einem Handbuch zur Sozialen Arbeit (S. 149) und auf vage Bestimmungen von „Bildung“, „Erziehung“ und „Lernen“ (S. 53ff.) – auf ein präzises begriffliches, bildungstheoretisches und diskurshistorisches Instrumentarium zurückgreifen müssen. Die qualitative Inhaltsanalyse nach Mayring mag zwar helfen, die vier pädagogischen Fachzeitschriften des Zeitraums zwischen 1948 und 1959 („Die Sammlung“, „Bildung und Erziehung“, „Westermanns Pädagogische Beiträge“ und „Pädagogische Rundschau“), die Zohry für ihre Analyse ausgewählt hat, nach Überschrifts-Kategorien zu sichten und die die Technik in einem weiten Sinne betreffenden Artikel zu Gruppen zusammenzufassen. Aber sie garantiert eben noch keine qualitativ anspruchsvolle und weiterführende Interpretation historischen Quellenmaterials. Einschlägige und zentrale Monographien der 1950er-Jahre zu Technik und technischer Moderne tragen technikspezifische Begriffe zudem nicht unbedingt schon in der Überschrift, man denke nur an Theodor Litts „Das Bildungsideal der deutschen Klassik und die moderne Arbeitswelt“ (1955) oder Heinrich Weinstocks „Arbeit und Bildung“ (1954). Zohrys Ergebnisse zu den pädagogischen Konzepten bleiben daher insgesamt etwas schematisch und werden leider auch nicht im Hinblick auf die verschiedenen pädagogischen Periodika differenziert. Man könnte sie zusammenfassen in der Aussage: ‚Technik war in den 1950er-Jahren ein Thema‘ – das Radio natürlich mehr als das Fernsehen, die kulturkritische Thematisierung überwog die technikaffirmative. Dies aber ist aus der Forschung, die den Technikdiskurs längst als einen Schlüsseldiskurs der frühen Nachkriegszeit charakterisiert hat, bereits bekannt.1

Weiterführend sind daher – neben Zohrys Sammlung technikbezogener Artikel – vor allem die die Zeitschriftenbeiträge quantifizierenden Tabellen (S. 26–32), wobei auch die hier angelegten Kategorien analytisch und semantisch etwas unterkomplex bleiben. Wo es um die Frage ging, welche Verluste und Gewinne mit technischen Modernisierungsprozessen einhergehen und wie sich die Pädagogik an der Gestaltung der technischen Moderne beteiligen sollte, führen Kategorien wie „gegen Technik“, „Technik neutral“ oder „pro Technik“ (S. 28) nicht weiter, da es in den Diskursen der Adenauer-Ära schon lange nicht mehr um die Frage ging, ob man in vortechnische Zeiten zurückkehren, die Industrie abschaffen und Radios verbieten sollte. Es ging um Fragen pädagogischer Lenkung und Gestaltung von Technisierungsprozessen, darum, die Sozialisationsbedingungen einer technisierten Kultur pädagogisch unter Kontrolle zu bringen, oder auch um eine Transformation anthropozentrischer Bildungskonzepte angesichts einer Welt, in der Geräte zunehmend menschliche Handlungsbedingungen bestimmen. Eine allzu schematische, die relevanten Deutungsmuster mehr verbergende denn offenlegende Tiefenstruktur scheint Zohrys eigener Analyse dabei zugrunde zu liegen: pro Technik gleich modern, gegen Technik gleich unmodern. Die Komplexität zeitgenössischer Technikdeutungen lässt sich so nicht einfangen.

Unklar bleibt zudem der Status der den größten Teil der Arbeit umfassenden Analyse der Durchdringung jugendlicher Lebenswelten mit Technik. Dass Analysen historischer Konzepte, Ideen oder auch Theorien eines sozialhistorischen Kontextes bedürfen, ist unstrittig. Aber warum die Autorin – ausgehend von ihrer leitenden Frage nach den pädagogischen Konzepten – uns auf 116 von 182 Seiten zunächst über längst bekannte wirtschaftliche, politische und bildungssystemische Fakten und Entwicklungen, über jugendliche Lebenswelten, Alltags- und Subkulturen in der frühen Nachkriegszeit informiert, ohne dabei Fragen sozialer Milieus und sozialer Differenzierungen jugendlicher Lebenswelten ausreichend zu berücksichtigen, ist nicht nachvollziehbar. Zwar bezieht Zohry durchaus kenntnisreich technikhistorische auf jugendhistorische Entwicklungen, beschreibt technisch geprägte jugendliche Lernorte und Lernwelten, kommt dabei aber nicht über den Kenntnisstand hinaus, der bzgl. der sozial- und kulturhistorischen Geschichte des Aufwachsens in den 1950er-Jahren bereits erreicht ist.2 Mit den zeitgenössischen Jugendstudien der 1950er-Jahre von Bednarik bis Schelsky3 und einer sechsteiligen ARD-Sendereihe über Menschen der 1950er-Jahre, aus der Zohry Zeitzeugen zitiert, hat die Studie in dieser Hinsicht auch keine neuen Quellenbestände anzubieten.

Von Nachteil ist zudem, dass Zohry die pädagogischen Thematisierungen der Technik der Adenauer-Ära – deren Autoren leider meist ungenannt bleiben, obwohl man über diese gern etwas mehr erfahren hätte – weder im Kontext der allgemeinen Diskurse der Zeit (Freizeit-, Konsum-, Massen-, Entfremdungsdiskurs) noch in ihren historischen Verläufen analysiert. Dies führt dazu, dass die Eigenart dieser ambivalenten historischen Epoche zwischen Restauration überkommener pädagogischer Kulturkritik der Technik und pragmatischer Einstellung auf die technisch-industriegesellschaftliche Signatur der Bundesrepublik analytisch gar nicht gefasst werden kann. Dies hätte einer wenigstens bis zur Weimarer Republik und zum Nationalsozialismus zurückgehenden historischen Kontextualisierung bedurft, durch die sich die Strukturen, Kontinuitäten und Transformationen der pädagogischen Deutungsmuster und Argumentationsweisen der Nachkriegszeit erst zeigen. Allzu sehr bleibt Zohry – im Rahmen eines insgesamt sehr pauschalen historiographischen Zugriffs („Die Erziehungskonzepte, die in der wilhelminischen Zeit sowie in den 1920er Jahren entstanden waren und in der NS-Zeit missbraucht worden waren, erfuhren in den 1950er Jahren vielfach eine Wiederaufnahme“, S. 38) – dem üblichen Restaurationsverdikt verhaftet, obwohl der von ihr analysierte Technikdiskurs doch gerade auf modernisierende Elemente des pädagogischen Diskurses in den 1950er-Jahren verweist. Erschwerend kommt hinzu, dass Zohry zwischen historischen Zuschreibungen bzw. Interpretationen auf der einen Seite und Fakten auf der anderen Seite oft nicht differenziert, immer wieder aus den Diskursen heraus die Realität zu beschreiben versucht („Das Wirtschaftswunder hatte eine Konsumverwahrlosung hervorgebracht, die zur Folge hatte, dass die Jugend nicht mit ihrer Freizeit umzugehen wusste …“, S. 101). Insgesamt muss man leider resümieren: Der bildungshistorische Forschungsstand zur ‚Ära Adenauer‘ wird mit dieser Arbeit kaum erweitert.

Anmerkungen:
1 Vgl. Axel Schildt, Moderne Zeiten. Freizeit, Massenmedien und „Zeitgeist“ in der Bundesrepublik der 50er Jahre, Hamburg 1995; Paul Nolte, Die Ordnung der deutschen Gesellschaft. Selbstentwurf und Selbstbeschreibung im 20. Jahrhundert, München 2000, S. 273–318; Gabriele Metzler, Konzeptionen politischen Handelns von Adenauer bis Brandt. Politische Planung in der pluralistischen Gesellschaft, Paderborn 2005, S. 62–80; Friedrich Kießling, Die undeutschen Deutschen. Eine ideengeschichtliche Archäologie der alten Bundesrepublik 1945–1972, Paderborn 2012, S. 171–185; Julia Kurig, Die Technik als Herausforderung der Pädagogik in den 1950er Jahren: Theodor Litts Bildungs- und Subjekttheorie für die Industriegesellschaft, in: Jahrbuch für Historische Bildungsforschung 20 (2014), S. 219–264.
2 Vgl. Ulf Preuss-Lausitz u. a., Kriegskinder, Konsumkinder, Krisenkinder. Zur Sozialisationsgeschichte nach dem Zweiten Weltkrieg, Weinheim 1983; Heinz-Hermann Krüger (Hrsg.), „Die Elvis-Tolle, die hatte ich mir unauffällig wachsen lassen“. Lebensgeschichte und jugendliche Alltagskultur in den fünfziger Jahren, Opladen 1985; Axel Schildt, Von der Not der Jugend zur Teenager-Kultur: Aufwachsen in den 50er Jahren, in: Ders. / Arnold Sywottek (Hrsg.), Modernisierung im Wiederaufbau. Die westdeutsche Gesellschaft der 50er Jahre. Ungekürzte, durchges. und aktualisierte Studienausgabe, Bonn 1998, S. 335–348; Kaspar Maase, BRAVO Amerika. Erkundungen zur Jugendkultur der Bundesrepublik in den fünfziger Jahren, Hamburg 1992; Philip Jost Janssen, Jugendforschung in der frühen Bundesrepublik. Diskurse und Umfragen, Köln 2010.
3 Vgl. Karl Bednarik, Der junge Arbeiter von heute – ein neuer Typ, Stuttgart 1953; Helmut Schelsky, Die skeptische Generation. Eine Soziologie der deutschen Jugend, Düsseldorf 1957.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
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