A. Astaschow (Hrsg.): Pis'ma s voiny 1914–1917

Titel
Pis'ma s voiny 1914–1917.


Herausgeber
Astaschow, Aleksandr B.; Pol Allan Simmons
Reihe
Ot perwogo liza. Istorija Rossii w wospominanijach, dnewnikach, pismach
Erschienen
Moskau 2015: Novyj Chronograf
Anzahl Seiten
796 S.
Preis
$ 42.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Dietrich Beyrau, Institut für osteuropäische Geschichte und Landeskunde, Universität Tübingen

Die vorliegende Briefsammlung ist sicher die umfangreichste Dokumentation von Briefen bzw. Briefauszügen russischer Soldaten des Ersten Weltkrieges. Sie sind den vielen Zensurinstanzen im Russischen Reich entnommen, die im Militärhistorischen Archiv in Moskau lagern. Die Dokumentation wird eingeleitet durch ein ausführliches Vorwort. Es liefert einen Überblick über ältere Briefeditionen und über die Historiographie zum Thema. Den wenigen zeitgenössischen und sowjetischen Editionen unterstellen die Autoren eine einseitige Auswahl. Die Arbeiten von E. S. Senjawskaja, I. B. Narskij und O. S. Porsnewa beruhten auf einer zu engen Quellenbasis und seien manchmal noch der sowjetischen Tradition verpflichtet (!).1

Die edierten Briefe bzw. Briefauszüge sind die Quellen, die Astaschow bereits als Basis seiner Monographie über die „Russische Front“ dienten.2 Ihn interessieren in der Monographie ebenso wie in der Dokumentation Mentalitäten, Botschaften und Schreibweise der Soldaten, die er etwas zu einseitig nur den Unterschichten und vor allem den Bauern zuordnet. Diese Sicht bildet den Schwerpunkt seiner Monographie. Die 1625 Briefe, Briefauszüge und zusammenfassenden Berichte von Zensoren, die in dem vorliegenden Band versammelt sind, lassen aber eine solche Zuordnung nicht erkennen. Die soziale Zugehörigkeit der Absender kann sehr oft nicht eindeutig bestimmt werden. Es dominieren eher untere Offiziersränge und Subalterne einschließlich der „gemeinen“ Soldaten, der „nischnye činy“. Wenn die Verfasser davon ausgehen, dass etwa 60% der Soldaten Analphabeten waren bzw. den wenig alphabetisierten Schichten angehörten (S. 96), so engt dies den Kreis der Briefschreibenden erheblich ein, selbst wenn anzunehmen ist, dass sich manche Soldaten vielleicht auch Briefe schreiben ließen. Die Masse der Briefe, die von der Zensur festgehalten und registriert wurde, dürfte folglich von mehr oder minder schriftkundigen Soldaten stammen, die – im weitesten Sinne – den städtischen und ländlichen Mittelschichten angehörten.

Die Dokumente sind jeweils chronologisch in fünf Kapitel geordnet: 1. Kampferfahrung, 2. Alltag an der Front, 3. Belastungen des Kriegsdienstes, 4. Der Soldat zwischen Front und Etappe, und 5. Der Bürger-Soldat.

Diese Einteilung liefert ein Panorama von Themen, Problemen, Einstellungen und Verhaltensweisen, auch von Botschaften der Schreiber an die Heimat wie sicher auch an die militärische Führung. Die Schreiber wussten, dass die Zensur existiert, so dass im Einzelfall nicht zu klären ist, was als Information an die Adressaten, was – ad usum delphini – als Botschaft an die Vorgesetzten zu verstehen ist. Das Themenspektrum reicht von Kriegsbegeisterung, patriotischem Überschwang, kriegerischem Schneid und Angeberei über Beschreibung von Angriffen auf feindliche Schützengräben, (angebliche) Nahkämpfe mit dem Bajonett, von der Schockstarre unter Artilleriebeschuss bis zu Überlebenstechniken und Langeweile in den Schützengräben und zu Verbrüderungsszenen zwischen den Feinden.

Im 4. Kapitel (Zwischen Front und Etappe) dominieren Briefe über Saufen, Orgien, Frauen und Sex – „Gelage in der Zeit der Pest“ (Nr. 1286). Auffällig ist der abfällige und zotige Soldatenjargon, wenn es um Frauen geht. Abgesehen von einigen Liebesbriefen sind die Frauen fast nur Objekt sexueller Begierden, Phantasien und Angebereien. Krankenschwestern, Flüchtlings- und auch einheimische Frauen (Ehefrauen von Soldaten – „soldatki“) galten als leicht verfügbar, mit oder ohne Gewalt. In einem Brief heißt es, die Krankenschwestern sollten auf der Brust nicht das rote Kreuz, sondern eine rote Lampe tragen (Nr. 1309). Besonders drastisch und abstoßend ist ein Brief von der türkischen Front, wo sich Frauen mit Fäkalien beschmierten, um die Soldaten abzuschrecken (Nr. 1289). Über die Repräsentativität dieser Einstellungen lässt sich, allein gestützt auf diese Quellen, nichts Bestimmtes sagen. In den wenigen hier abgedruckten Briefen von Frauen an der Front oder Etappe dominieren Themen von Begehren und Vergnügungen (Nr. 1304). Sauforgien von Offizieren und gelegentlich auch von Soldaten (nach Eroberung von feindlichen Alkoholbeständen) finden sich in den Briefen. Für die Soldaten galt in den Streitkräften grundsätzlich ein allgemeines Alkoholverbot.

Neben gelegentlicher Erwähnung von „chochly“ (Ukrainern) sind die Juden die einzige nicht-russische Ethnie, über die geschrieben wird. Der Tenor der wenigen Briefe über sie ist negativ: Drückebergerei und Durchtriebenheit gelten als ihre wesentlichen Merkmale. Vereinzelt erscheinen sie auch als Opfer von Plünderungen und sexueller Gewalt (besonders Nr. 708, 1329, 1489).

Gedichte waren offenbar ein beliebtes Medium von Reflexionen über physische und psychische Befindlichkeiten. Vereinzelt sind Briefe geradezu von literarischer Qualität. So erinnert ein kurzer Brief, angeblich in betrunkenem Zustand geschrieben, an Venedikt Erofeevs „Reise nach Petuschki“ (Nr. 844).3

Klagen über die Ernährung und Ausstattung sowie über das oft brutale Verhalten von Vorgesetzten und seit Ende 1916 offene Äußerungen über Kriegsmüdigkeit und Friedenssehnsüchte sind zum Teil sicher auch als Botschaften an die Zensurinstanzen und Vorgesetzten zu verstehen.

Bis zur Revolution von 1917 hielten die Zensoren fest, dass in dem kleinen Anteil von Briefen, in denen sich politische Aussagen – im weitesten Sinne – finden ließen, positive Einstellungen dominierten. Das Kürzel hierfür war „bodryj i religioznyj“ (kühn und fromm). Erst seit Ende 1916 nahmen nach ihrer Beobachtung kritische Stimmen zu: Sie zeigten sich vor allem im Wunsch nach Frieden und in zirkulierenden Gerüchten über Friedensverhandlungen, in Verschwörungstheorien, in einem manchmal schon polemisch zugespitzten Gegensatz zwischen Offizieren und „Bourgeoisie“ einerseits und Soldaten andererseits: Erstere bereicherten sich, während die Soldaten für einen miserablen Sold in einem aussichtslosen Krieg bluten mussten.

Diese Trends in den Stimmungslagen der Soldaten sind keine neue Erkenntnis. Die Briefsammlung bestätigt sie erneut. Angesichts der Masse an Briefen und Briefauszügen stellt sich die Frage, ob die Autoren, nicht die Auswahlkriterien hätten transparent machen können. Engere Fragestellungen und Themen – Feinde, Frieden, Frauen, Gewaltanwendung und Gewalterfahrung, Ernährung etc. – oder eine Sortierung nach Stationierungsorten/Fronten und Armeen hätten möglicherweise Entwicklungen und Unterschiede deutlicher gemacht. Es werden oft Gruppen von Briefen aus der Zensurabteilung einer Armee, im Hauptstab oder im Hinterland zusammengestellt. Zumindest im Falle der Armeen und Fronten wäre ein Bezug zwischen Orten und aktuellen Situationen möglich gewesen. Dazu wären Hinweise nötig gewesen, an welchen Abschnitten sich die Armeen befanden, wo und wann sie in größere Aktionen involviert waren oder Ruhepausen genossen.4

Den abgedruckten Briefen ist nicht zu entnehmen, welche Stellen von der Zensur unkenntlich gemacht worden sind. Dies hätte Hinweise auf Zensurpraktiken geliefert. Sie werden von den Autoren wohl zu Recht als recht großzügig charakterisiert – freilich ohne Belege. Statt einer unendlichen Zahl an Briefen mit sehr ähnlichen Inhalten hätten zur Orientierung mehr zusammenfassende Zensorenberichte abgedruckt werden können. So schematisch und opportunistisch sie oft auch waren, so bestätigen sie doch – mit wenigen wohl für peinlich oder auch für unwichtig gehaltenen Themen – die auch in den Briefen und Briefauszügen erkennbaren Tendenzen.

Trotz einiger Kritik – der Band ist sicher eine unentbehrliche Quelle für die Stimmungslagen an der Front. Aber wichtiger ist vielleicht ein anderer Aspekt: Die Briefe und Briefauszüge sind eine wichtige, wenn auch nicht die einzige, Quelle dafür, wie sich „durchschnittliche“ Soldaten und Offiziere ausdrückten, wenn es um bisher wenig beachtete Themenfelder ging wie Gewalterfahrung und -ausübung, Männlichkeitsnormen, Leiden und Hass.

Anmerkungen:
1 E. S. Senjavskaja, Psichologija vojny v XX veke. Istoričeskij opyt, Moskau 1999; O. S. Porsneva, Krest‘jane, rabočie i soldaty Rossii nakanune i v gody Pervoj mirovoj vojny, Moskau 2004; I. V. Narskij u.a. [Red.], Opyt mirovych vojn v istorii Rossii, Čeljabinsk 2007.
2 A. B. Astasov, Russkij front v 1914 – načale 1917 goda. Voennyj opyt i sovremennost‘ Moskau 2014.
3 Venedikt Erofeev, Moskva – Petuski (1973), deutsch: Reise nach Petuschki. Ein Poem, München 1978.
4 O. D. Markov, Russkaja armija 1914–1917, Sankt Peterburg 2001, S. 110–116.

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