S. Lyandres u.a. (Hgg.): Civil War in Siberia

Cover
Titel
Chronicle of the Civil War in Siberia and Exile in China. The Diaries of Petr Vasil'evich Vologodskii, 1918-1925


Herausgeber
Lyandres, Semion; Wulff, Dietmar; Ostwald, Peter F.
Erschienen
Anzahl Seiten
944 p.
Preis
$ 60.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Eva-Maria Stolberg, Seminar für Osteuropäische Geschichte, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn

Subjektives Erleben von Geschichte in Gestalt der Biografie erfreut sich seit einigen Jahren wachsender Beliebtheit seitens der Historiker. Gesamtstaatliche und –gesellschaftliche Prozesse hinterlassen ihre Spuren in der Alltagsgeschichte, in der Lebensgeschichte des Einzelnen.1 Biografien zeigen nicht zuletzt die Entwicklung einer Konsens- und Dissenskultur in der Gesellschaft auf, lebensgeschichtliche Verarbeitungen können auf politische und sozioökonomische Brüche hinweisen. Die Arbeiten von Karsten Brüggemann 2, Jochen Hellbeck 3 und Véronique Garros und Natalija Korenewskaja und Thomas Lahusen 4 haben dies für die Osteuropäische Geschichte unter Beweis gestellt. Auch das vorliegende Editionsprojekt aus der Feder von Semion Lyandres, gegenwärtig assistant professor an der University of Notre Dame, und Dietmar Wulff, langjähriger wissenschaftlicher Assistent am Institut für Osteuropäische Geschichte der Humboldt-Universität Berlin, liefert einen wichtigen Beitrag zur Erforschung der Thematik „Geschichte und Biografie“.

Für Russland bedeutete das 20. Jahrhundert ein Zeitalter der Kataklysmen, die mit dem Stalinismus, aber auch mit dem russischen Bürgerkrieg die Gesellschaft nachhaltig veränderten. Wie ich an anderer Stelle dargelegt habe, stellte die Gewalt den sozialen Code zwischen der Revolution von 1917, dem Bürgerkrieg und dem Stalinismus (1927-1953) dar. Gewalt und Terror haben die Mentalität einer ganzen Generation geformt, wobei man für den genannten Zeitraum drei Ebenen von Gewalt ausmachen kann: 1) seitens des Staates, 2) seitens sozialer Gruppen und 3) seitens der Individuen. Die Oktoberrevolution wie auch der folgende Bürgerkrieg zwischen Rot und Weiß waren die Bühne, auf der a) physische Gewalt (die Liquidierung des politischen Gegners), b) psychische Gewalt in Gestalt von Denunziationen, Rufmord etc. stattfanden und es ist hier eine Kontinuität von der Oktoberrevolution bis zum Stalinismus auszumachen. In der Geschichte der russischen Revolution und des Bürgerkrieges spielte der Grenzraum eine nicht zu unterschätzende Rolle. An der Peripherie kam eine besondere Gewaltkultur zum Ausdruck, dies trifft insbesondere auf Sibirien zu, wo die staatlichen Institutionen kaum verwurzelt waren. Am Beispiel Sibiriens zeigten Bürgerkrieg und ausländische Intervention die schwierige Zähmung und Kontrolle der Gewalt im gesellschaftlichen und zwischenstaatlichen Raum. Gerade dort, wo im Fall der Peripherie, Institutionen kaum verankert sind, werden Normen von Individuen und Gruppen in Frage gestellt. Schließlich stellte der Bürgerkrieg zwischen Rot und Weiß eine Art ritualisierten Terrainkampf dar.5

Die nun erstmals publizierten Tagebücher Petr V. Vologodskijs bringen diesen Sachverhalt deutlich zum Ausdruck. In bemerkenswerter Kleinarbeit, die sich auch in der profunden Einleitung niederschlägt, haben Semion Lyandres und Dietmar Wulff das umfangreiche Material, das größtenteils in der Hoover Institution/Stanford archiviert ist, zusammengetragen und eine wichtige Lücke zur Geschichte des Bürgerkrieges in Sibirien geschlossen. Bisherige Darstellungen waren einseitig auf die militärische Führung, insbesondere auf die Rolle Admiral Kolcaks fokussiert. 6 Petr V. Vologodskij war ein prominenter sibirischer Jurist und diente in der Regierung Kolcaks, die ihren Sitz während des Bürgerkriegs im westsibirischen Omsk hatte. Vologodskijs Tagebücher enthalten reichhaltige Informationen zur Innenpolitik Kolcaks, aber auch zu den wichtigen personellen Netzwerken, die zwischen Politikern und Militärs bestanden. Von seiner Herkunft ist Vologodskij als „Freidenker“ bekannt, seit den 1880er Jahren war er in der regionalistischen Bewegung tätig, die ihr Zentrum an der einzigen Universität Sibiriens in Tomsk hatte und Autonomierechte für Sibirien forderte. Dieser Hintergrund erklärt auch Vologodskijs stark antibol’ševistische Haltung nach der Revolution von 1917 (S. 20ff.).

Nach dem Untergang der zarischen Autokratie und dem darauffolgenden politischen Frühling artikulierten die sibirischen Regionalisten, darunter auch Vologodskij, die Forderung nach einer Autonomie Sibiriens innerhalb eines föderalistischen Staatsverbandes, doch der Anfang Oktober 1917 in Tomsk einberufene Erste Sibirische Regionalkongress stand schon unter dem Zeichen des Bürgerkrieges, die Anwesenheit von gerade einmal einem Drittel der Delegierten schmälerte die Beschlussfähigkeit der Versammlung, die sich lediglich auf die Resolution einigen konnte, „die Bol’ševiki aus Sibirien zu vertreiben und die Ordnung wiederherzustellen“ (S. 29). Der antibol’ševistische Aufstand der Tschechoslowakischen Legion entlang der Transsibirischen Eisenbahn im Mai 1918 gab dann allerdings den regionalistischen Hoffnungen wieder Auftrieb und hier setzt das Tagebuch Vologodskijs ein, der seine Aufzeichnungen von Anfang an als ein für die Nachwelt bestimmtes, historisches Zeitdokument kompilierte (S. 33).

Am 29. Juni 1918 konstituierte sich unter Beteiligung Vologodskijs die Provisorische Sibirische Regierung mit Sitz in Omsk. Wie die Herausgeber zu Recht feststellen und wie die Aufzeichnungen Vologodskijs unterstreichen, stand diese Regierung gleich zu Beginn ihrer Tätigkeit unter schlechtem Zeichen: Omsk präsentierte die für Russlands „Wilden Osten“ charakteristische Atmosphäre politischer Intrigen. Vergeblich bemühte sich Vologodskij als Vorsitzender des Ministerrates rechtsstaatliche Prinzipien in der politischen Kultur zu verankern. Es mutet daher sonderlich an, dass er Kolcaks coup d’état im November 1918 einfach hinnahm, obwohl er durchaus erkannte, dass das Militärregime das Vertrauen der Bevölkerung in die Politik untergraben würde (S. 53). Sein Verhalten lässt sich wohl nur damit erklären, dass er in den Bol’ševiki die größere Gefahr sah, der Schock des roten Terrors saß zu tief (Tagebuchaufzeichnungen, Band 1, S. 76.) Vologodskij zeigt sich nicht nur als profunder Kenner der russischen Innenpolitik während des Bürgerkrieges, sein Tagebuch enthält darüber hinaus aufschlussreiche Informationen zur Diplomatie der ausländischen Mächte, insbesondere der USA und Japans, die in Sibirien intervenierten.7 Anfang 1920 brachte der Vormarsch der Bol’ševiki das Kolcak Regime in Sibirien endgültig zu Fall und damit begann ein neuer Abschnitt in Vologodskijs Leben. Im Januar 1920 trat er sein langjähriges Exil in China an. Vologodskijs Tagebuch liefert Einblick in das Leben der russischen Emigranten in der Mandschurei. In China wurde Vologodskij Augenzeuge des dortigen Bürgerkrieges und nicht von ungefähr zog er Parallelen zur Entwicklung in Russland. Werden die Bol’ševiki die vom Zarenreich in der Hochphase des Imperialismus erbaute Ostchinesische Eisenbahn übernehmen, wird die Pekinger Regierung die Emigranten an Sowjetrussland ausliefern? (Tagebuchaufzeichnungen, Band 2, S. 109) Die Zukunft der Exilanten in China erschien Anfang der zwanziger Jahre als höchst ungewiss und viele dachten an eine Auswanderung in die USA. (Tagebuchaufzeichnungen, Band 2, S. 190). Mit der Edition der Tagebücher Vologodskijs, einer prominenten Figur des sibirischen Bürgerkrieges und der russischen Exilgemeinde in China, ermöglichen die Herausgeber dem Fachpublikum einen Zugang zu einem der spannungsreichsten Kapitel russischer Geschichte des 20. Jahrhunderts.

Anmerkungen:
1 Rosenthal, Gabriele, Erlebte und erzählte Lebensgeschichte. Gestalt und Struktur biographischer Selbstbeschreibungen, Frankfurt am Main 1995; siehe die einschlägigen Veröffentlichungen in BIOS.
2 Brüggemann, Karsten (Hg.), Kollektivität und Individualität: Der Mensch im östlichen Europa, Hamburg 2001.
3 Hellbeck, Jochen, Intimacy and Terror: Soviet Diaries of the 1930s , New York 1995.
4 Garros, Véronique; Korenewskaja, Natalija; Lahusen, Thomas (Hgg.), Das wahre Leben. Tagebücher aus der Stalinzeit, Berlin 1998.
5 Eva-Maria Stolberg, Violence as a Cultural Code in Soviet History, 1918-1937, unpublished paper for the Conference Cultures of Violence. Third Global Conference: Diversity with Unity, 12th-16th August 2002, Prague.
6 Jonathan D. Smele, Civil War in Siberia: The Anti-Bolshevik Government of Admiral Kolchak, 1918-1920, Cambridge 1996.
7 Zur Intervention Japans in den sibirischen Bürgerkrieg siehe: Taishô shichi-nen nai shi juichi-nen Shiberia shuppei shi (Geschichte der Sibirien-Intervention unter Taishô), hrsg. v. japanischen Generalstab, Tôkyô 1989; Eva-Maria Stolberg, Japanese Strategic and Political Involvement in Siberia and the Russian Far East, 1917-1922, in: Robert Cribb, Li Narangoa (Eds.), Japan’s National Identity and Its Asian Neighbours in Imperial Era (im Druck, Curzon Press 2003).

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