K. Braun u.a. (Hrsg.): Materialisierung von Kultur

Cover
Titel
Materialisierung von Kultur. Diskurse Dinge Praktiken


Herausgeber
Braun, Karl; Dieterich, Claus-Marco; Treiber, Angela
Erschienen
Anzahl Seiten
656 S., mit SW-Abb.
Preis
€ 48,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Torsten Cress, Institut für Soziologie, Johannes Gutenberg-Universität Mainz

Der vorliegende Band, hervorgegangen aus dem gleichnamigen, im September 2013 in Nürnberg abgehaltenen 39. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde (dgv)1, widmet sich mit der Materialität des Kulturellen einem Themenfeld, mit dem sich die Volkskunde schon seit jeher auseinandersetzt und dem in den Sozial- und Kulturwissenschaften in jüngerer Zeit zunehmende Aufmerksamkeit zuteilwird. Mit ihrem Fokus auf „Materialisierung“ fragen die Beiträge des Bandes dabei nicht nur nach den verschiedenen Formen des Materiellen und ihrer Rolle in der Kultur, sondern vor allem nach den Prozessen, in denen sich Kultur materiell manifestiert. Der Band, der sich mit Plenarvorträgen, Sektionen und Panels in drei Teile gliedert (insgesamt rund 70 überwiegend kurze Texte), versteht sich dabei als umfassende Dokumentation der zugrunde liegenden Konferenz. Ich gehe im Folgenden auf eine Reihe ausgewählter Beiträge ein, um daraus am Ende einen generellen Eindruck ableiten zu können.

Bei den Plenarvorträgen erörtert Sharon MacDonald am Beispiel des Reichsparteitagsgeländes in Nürnberg, wie eine „troublesome materiality“ (S. 19) Möglichkeiten ‚unproblematischer‘ Umgangsweisen weitgehend ausschließt und immer wieder Aushandlungsprozesse einfordert. Mit Blick auf die Theoriebildung in den Material Culture Studies arbeitet Hans Peter Hahn heraus, dass Aspekte wie Beiläufigkeit oder Desinteresse im Hinblick auf Dinge oft systematisch ausgeblendet werden. Demgegenüber plädiert er für eine Sicht, die stärker die Aufmerksamkeitsdynamiken berücksichtigt, in welche die „geringen Dinge des Alltags“ (so der Titel seines Beitrags) verstrickt sind. Regina F. Bendix beschäftigt sich in ihrem Aufsatz mit Materialisierungsprozessen des Wissens, argumentiert für eine Blickerweiterung von ‚materieller‘ hin zu ‚materialisierter‘ Kultur und wirft etwa Fragen nach den Formen und der Legitimation materialisierter Erinnerung auf. Anschließend rekapituliert Konrad Köstlin in seinem Festvortrag zum 50-jährigen Jubiläum der dgv die Wege des Fachs unter anderem anhand der Geschichte seiner Kongresse.

Manfred Seifert fragt, wie Sinnlichkeit, Affektivität und Atmosphäre in Konzeptualisierungen des Verhältnisses zwischen dem Menschen und seiner Umwelt einbezogen werden können, und wendet sich damit gegen eine ‚Entkörperlichung‘ der Volkskunde. Dabei regt er an, auch außerkulturelle, physikalische bzw. organische Faktoren systematisch kulturwissenschaftlich zu berücksichtigen. Monique Scheer plädiert in ihrem Beitrag für eine kulturwissenschaftliche Wiederentdeckung der Materialität von Religion, wie sie vor allem im interdisziplinären Forschungsfeld der ‚Material Religion‘ herausgearbeitet wird, und analysiert am Beispiel zweier heutiger protestantischer Gemeinden in Süddeutschland Emotionen als Formen der Materialisierung göttlicher Präsenz. Am Beispiel der Kampagne „Jute statt Plastik“ beschäftigt sich Angela Treiber mit dem Kunststoffkonsum, der Kommunikation seiner ökologischen Folgen und der Frage, wie in einem solchen Kontext moralische Zuschreibungen und handlungsleitende Orientierungen hervorgebracht werden.

In den zehn Sektionen, gegliedert nach Kategorien wie „Sach-Wissen“, „Erinnerungen einschreiben“, „Raum-Bildungen“, „Technik formen“, „Sinn ordnen“, „Ding-Beziehungen“ oder „Körper-Praktiken“, wird – zumeist auf der Basis von Fallstudien – ein breites Spektrum von Formen des Materiellen in den verschiedensten Kontexten behandelt: Schädel, Masken, Textilien, Listen und Karteikarten, Architektur, Glashäuser, Böden, Smartphones und viele andere Dinge mehr. Mit Blick auf Objekte in Wissenskontexten zeigt Christian Schönholz, wie sich am Schädel als Forschungsobjekt des 19. Jahrhunderts eine zeitgebundene „anthropologische Wissenschaftskultur“ (S. 154) manifestiert. Mit Bezug auf die Geschichte volkskundlicher Forschung erläutert Konrad J. Kuhn am Beispiel von Fastnachtsholzmasken aus dem Alpenraum, wie ein Ideal von „Volkskultur“ den Blick auf die Realität eher marktorientierter Produktionsweisen tendenziell versperrte. In der Sektion zur Einschreibung von Erinnerung zeigt Valeska Flor am Beispiel von Umsiedlungsorten im Rheinischen Braunkohlerevier, wie etwa Bäume oder Erde als Speicher von Erinnerung engagiert und als solche in die Bewältigung von Grenz- und Verlusterfahrungen eingebunden werden. Mit stärker methodischem Interesse plausibilisiert Judith Kestler, wie Bezugnahmen auf Dinge in Interviews analytisch fruchtbar gemacht werden können, indem sie gezielt inventarisiert werden und sich von hier aus als „Bestandteil der Rekonstruktion narrativer Identität“ (S. 192) untersuchen lassen. In der „MA/Magister-Sektion“ widmet sich Raphael Reichel dem Phänomen des „Ruinen-Tourismus“ (S. 207) und arbeitet am Beispiel der stillgelegten Beelitz-Heilstätten im Berliner Umland heraus, wie sich eine solche Praxis im Medium der Fotografie dokumentiert und derartigen Orten auf diese Weise ikonischen Status verleiht.

In der Raum-Sektion zeichnet Heidrun Alzheimer am Beispiel der Gartenkultur der Stadt Bamberg im 19. und 20. Jahrhundert den Wandel des Glashauses vom Repräsentationsobjekt der Oberschichten zum alltäglichen Gebrauchsgegenstand nach. Ana Rogojanu erkundet anhand eines in der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre realisierten Wohnprojekts in Wien eine grundlegende Spannung zwischen architektonischer Planung und Idealen des Wohnens und Lebens auf der einen sowie den späteren Praktiken der Raumaneignung auf der anderen Seite. In der Sektion zur Ordnung von Sinn durch Dinge arbeitet Burkhard Pöttler auf der Basis von Besitzstandslisten des Domstifts Seckau und des Magistrats Graz aus dem 18. Jahrhundert heraus, wie sich anhand solcher Inventare als einer besonderen Gattung archivalischer Quellen alltägliche Praktiken rekonstruieren und Fragen von Prestige, sozialer Einbindung oder wirtschaftlicher Prekarität beantworten lassen. Thomas Buchner zeigt anhand des Gebrauchs von Listen und Karten für Praktiken des Registrierens in frühen deutschen Arbeitsämtern (1890–1914), wie mithilfe dieser Objekte Arbeitsmärkte sowie die Arbeitskraft als Ware nicht nur geordnet und beschrieben, sondern ganz maßgeblich mit konstruiert wurden.

Michael Geuenich und Marie Heidenreich fragen in der nächsten Sektion danach, wie sich Familienfilme als Ressource kulturanthropologischer Forschung nutzen lassen und wie sich in ihnen Ideale eines vollkommenen Familienlebens spiegeln. Nina Gorgus diskutiert im Abschnitt „Objekt-Welten“ anhand einiger kuratorischer Projekte, wie Museen eine Neuentdeckung und -bewertung ihrer Sammlungen vornehmen können, indem sie ihre Sammlungen etwa als Ganze zugänglich machen, ihre Depots öffnen oder die eigene kuratorische Arbeit zum Thema machen. Anamaria Depner setzt sich in der Sektion „Ding-Beziehungen“ mit Fragen der Aussortierung persönlich bedeutungsvoller Objekte auseinander, die sich für Menschen bei einem Umzug ins Altenheim stellen. In der abschließenden Körper-Sektion analysieren Christine Bischoff und Agnes Swidergol das technische Objekt einer „E-Kissing-Maschine“ (S. 409) als Schnittstelle zwischen materieller und virtueller Welt.

Die acht Panels, die den dritten Teil des Bandes ausmachen, beschäftigen sich mit den Themen Katastrophen, Krisen, Nachhaltigkeit, epistemische Objekte, populäre Unterhaltung, Gesundheitsforschung, Musealisierung von Migration und virtuelle Welten. Jan Hinrichsen thematisiert im Panel zur „Kultur der Katastrophe“ am Beispiel eines Lawinenunglücks in der Tiroler Tourismusgemeinde Galtür (1999) die Produktion eines Wissens, das Lawinen in ein analysierbares Naturphänomen transformiert und sich in materiellen Arrangements des Risikomanagements manifestiert. Im Panel „Krise begreifen“ zeigt Kerstin Poehls mit Blick auf Griechenland anhand des Bedeutungswandels eines alltäglichen Objekts – des Kassenzettels –, wie übergreifende politische Prozesse in alltägliche Praktiken hineinwirken.

In der Sektion „Infrastrukturen der Nachhaltigkeit“ beschreibt Franziska Sperling anhand eines Bioenergiedorfes in Bayern, wie einerseits gesetzliche Regelungen als zentrale Steuerungsinstrumente neue Infrastrukturen hervorbringen und wie andererseits die Produktion von Energie zu einem Teil der alltäglichen Lebenswelt wird. Dingen in epistemischen Praktiken widmet sich Franka Schneider, die mit Rückgriff auf die Actor Network Theory analysiert, wie Inventare und Kataloge Trachten in museale Sammlungsobjekte transformieren und so eine bestimmte Version dieser Objekte erzeugen. Mit dem Thema der Verdinglichung in der populären Unterhaltung beschäftigt sich Manuel Trummer, der nach Deutungsmöglichkeiten von Retro-Phänomenen im Heavy Metal fragt, die mit einer Rückbesinnung auf Kleidungsstile und technische Mittel der 1980er-Jahre einhergehen. Anna Palm beschäftigt sich mit der Frage, wie Nahrungsmittel in einen Kontext von Gesundheit und Krankheit gestellt, auf diese Weise ‚medikalisiert‘ und von Konsumenten entsprechenden Bewertungen unterzogen werden. Regina Wonisch fragt im Panel zur Musealisierung des ‚Anderen‘ nach Mechanismen der „Minorisierung und Majorisierung“ (S. 605). Sie problematisiert die Rolle von Objekten in Prozessen der Konstruktion des ‚Anderen‘, mit denen nicht nur etwas ‚gezeigt‘, sondern tendenziell auch etwas ‚festgeschrieben‘ wird. Manuel Heib zeichnet im Panel „Materialität und Faktizität virtueller Welten“ schließlich die Entwicklung von Interfaces nach, die zunehmend Interaktionen zwischen Mensch und Computer ermöglichen.

Der thematisch heterogene Band lässt sich einerseits als eine Bestandsaufnahme gegenwärtiger volkskundlicher Forschung zum Thema des Materiellen und als Abbildung der Vielfalt entsprechender Zugänge verstehen. Indem die hier versammelten Beiträge nach der „Materialisierung“ als einem Prozess fragen – wie sich dies etwa in der Einrichtung von Infrastrukturen der Energiegewinnung zeigt, in der wechselseitigen Übersetzung von Körperlichkeit und Virtualität, in der Etablierung von Vorrichtungen des Katastrophenschutzes oder in der Schaffung von Erinnerungsobjekten –, entwickelt der Band andererseits eine gleichermaßen spezifische wie reizvolle Perspektive auf das Thema: Gefragt wird dann zum Beispiel, wie Dinge in Prozesse der Entwicklung und Etablierung von Wissen, Ordnung und Sinn involviert sind, wie sich in ihnen Vorstellungen bzw. Diskurse manifestieren oder wie es um Verhältnisse zwischen Materialität und Immaterialität bestellt ist. Mit einer solchen Sicht rückt auch das Spannungsverhältnis zwischen der ‚Gemachtheit‘ der Dinge und ihrer Wirkmächtigkeit in den Blick.

Angesichts der Breite der Zugänge und Themen wäre allerdings eine stärkere inhaltliche Rahmung des Bandes wünschenswert gewesen. Eine Einleitung hätte die im Vorwort sehr knapp angedeuteten Punkte aufgreifen und etwas genauer darstellen können, welche Vorüberlegungen der Tagung zugrunde lagen, welche Kriterien die Auswahl und Zusammenstellung geleitet haben und was die Konferenz bzw. der aus ihr hervorgegangene Band leisten wollen. Diese Kritik fällt aber nicht wesentlich ins Gewicht: Letztlich liefert der Band einen gelungenen Beitrag zur aktuellen Debatte um Materialität bzw. Materielle Kultur und bietet über die Volkskunde hinaus für andere sozial- und kulturwissenschaftliche Disziplinen, die sich mit dem Thema befassen, reichlich Diskussions- und Anregungspotential. Viele der Beiträge sind sicher auch für Historikerinnen und Historiker gewinnbringend, die die hier versammelten Deutungsangebote dann mit eigenen fachspezifischen Fragen überprüfen und weiterverfolgen können.

Anmerkung:
1 Vgl. den Bericht von Sophia Booz, Sarah May und Svenja Reinke, in: H-Soz-Kult, 13.12.2013, <http://www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-5138> (27.01.2016).