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Titel
Das Projekt Ganztagsschule. Aufbrüche, Reformen und Krisen in der Bundesrepublik Deutschland (1955–1982)


Autor(en)
Mattes, Monika
Erschienen
Köln 2015: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
254 S.
Preis
€ 34,90
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Sandra Wenk, Sozialgeschichte des Aufwachsens und der Erziehung, Institut für Erziehungswissenschaft, Ruhr-Universität Bochum

Wer in Westdeutschland die Schulbank gedrückt hat, dem wird als Normalität erscheinen, was im internationalen Vergleich ein Spezifikum ist: eine Vormittagsschule, die ihre Schülerinnen und Schüler gegen Mittag nach Hause entlässt. Seit einigen Jahren steht diese Schulform in der Kritik, die Ganztagsschule als Alternative wird intensiv diskutiert und ein Ausbau ganztägiger Schulbetreuung politisch forciert.

Was dabei etwas aus dem Blick gerät, vermag die Monographie von Monika Mattes1 in einer historischen Perspektive zu zeigen. Sie veranschaulicht, dass am Beispiel der Ganztagsschule stets mehr verhandelt wurde als der Zeitpunkt des täglichen Unterrichtsschlusses oder ausschließlich pädagogische Fragen. Vielmehr ging es in diesen Debatten immer auch um zeitspezifische Krisenwahrnehmungen und daraus abgeleitete gesellschaftspolitische Gestaltungsversuche in Form von schulischen Programmen. Trotz der außerordentlich geringen Zahl von Ganztagsschulen betont Mattes die Bedeutung der damit verbundenen Aushandlungen. Diese würden weit über den schulischen Bereich hinausweisen und sollten als Grundsatzdiskussionen über geschlechtsbezogene Arbeitsteilung und die Legitimation mütterlicher Erwerbstätigkeit sowie das Verhältnis von Schule und Elternhaus gelesen werden.

Die Studie versteht sich zugleich als Beitrag zur bisher von Historiker/innen wenig beachteten Zeitgeschichte der westdeutschen Schule.2 Im Fokus stehen Aushandlungen über die Ganztagsschule von den späten 1950er- bis in die 1980er-Jahre. Die zentrale Frage der Arbeit ist, warum sich dieser Schultyp in Westdeutschland nicht etablierte. Ostdeutsche Bildungsdebatten, denen in Westdeutschland als ‚Gegenfolie‘ eine zentrale Rolle zukam, werden im Rahmen eines vergleichenden Exkurses analysiert.

Die Untersuchung ist zweigeteilt. Der erste und umfassendere Teil beschäftigt sich mit den pädagogischen und bildungspolitischen Debatten über die zeitliche Strukturierung der Schule. In einem zweiten Teil wird anhand dreier Fallstudien zu Ganztagsschulen in Baden-Württemberg, Berlin und Hessen die Umsetzung dieses politischen Programms erörtert und in die lokalen Kontexte eingebettet.

Dass in der Nachkriegszeit die Forderung nach einer ganztätigen Beschulung kaum vertreten war, führt Mattes neben in der Forschung gut dokumentierten Gründen für einen ausgebliebenen ‚Neuanfang‘ im Bildungswesen nach 19453 auf die im 19. Jahrhundert gewachsene und in den 1920er-Jahren kodifizierte Trennung der Aufgabenbereiche (schulischer) „Bildung“ und (jugendfürsorgerischer) „Erziehung“ zurück. Einer ganztätigen öffentlichen Betreuung seien lediglich sozialpolitische Aufgaben zugestanden worden. Sie galt allein bei wirtschaftlich notwendiger mütterlicher Erwerbstätigkeit als legitim. Diese Position war Teil eines größeren Projekts der „Refamiliarisierung“ nach 1945, das auf der Ernährer-Hausfrauen-Ehe basierte und eine Ausdehnung staatlicher Einflussnahme ablehnte.

Eine intensivere öffentliche Diskussion beobachtet Mattes parallel zur Arbeitszeitdebatte Ende der 1950er-Jahre, als Pädagogen eine Ausdehnung des Unterrichts in den Nachmittag diskutierten, um den Samstag schulfrei gestalten zu können. Derartige Versuche stießen jedoch auf massive Abwehr. Diese Auseinandersetzungen werden überzeugend als Grundsatzdebatten über Schule und Erziehung vor dem Hintergrund gewandelter gesellschaftlicher Voraussetzungen skizziert: Gegner wie Verfechter ganztägiger Schulen argumentierten auf der Grundlage eines modernekritischen Krisenszenarios, das die Kernfamilie bedroht sah und die ‚Gefahren‘ der Konsumgesellschaft beschwor. Obwohl das Bild unbeaufsichtigter ‚Schlüsselkinder‘ zur gemeinsamen Projektionsfläche dieser Ängste wurde, seien die Lösungsvorschläge unterschiedlich gewesen: Wollte eine Gruppe aus Christdemokraten und kirchlichen Akteuren weibliche Erwerbsarbeit durch ein geringes Betreuungsangebot eindämmen, plädierte eine andere, heterogene, jedoch insgesamt der Sozialdemokratie nahestehende dafür, diese als Realität anzuerkennen und hierauf mit einer Intensivierung der Schulbildung zu reagieren. In diesem Zusammenhang verschob sich allmählich die Perspektive: Der ganztätigen Betreuung als Notmaßnahme wurde die „‚moderne‘ Ganztagsschule für alle Kinder“ (S. 49) gegenübergestellt.

Mit einer Intensivierung der Bildungsreformdebatten ab den 1960er-Jahren deutete sich mit Forderungen nach einer höheren Leistungsfähigkeit der Schulen, der Erhöhung von ‚Chancengleichheit‘ und im Zuge einer Versozialwissenschaftlichung von Bildungsforschung und -politik ein „Paradigmenwechsel“ (S.73) an, der auch mit einem veränderten Blick auf das Ausland zusammenhing. Damit wandelten sich, wie Mattes herausstellt, nicht allein die Argumentationsmuster, sondern auch das Verständnis der Ganztagsschule. Die Forderung nach einer ganztätigen Strukturierung der Schule fand breitere Unterstützung und avancierte zeitweilig zum „Minimalkonsens“ (S. 75) unter Bildungsreformern. Eng verknüpft wurde sie mit Debatten über die Gesamtschule. Dies führte zwar dazu, dass die Ganztagsschule neue Aufmerksamkeit erhielt; als die Gesamtschule Ende der 1960er-Jahre zum bildungspolitischen Zankapfel wurde, wirkte sich diese Verkopplung aber lähmend aus. Hier werden weiterführend die ambivalenten Effekte des Projekts Gesamtschule beschrieben: Wurde die Ganztagsschule zunächst von Gesamtschulbefürwortern als Vehikel für eine Horizontalisierung des Schulwesens aufgefasst, geriet sie dann (weil kostenintensiv und damit das Projekt Gesamtschule gefährdend) aus deren Fokus. Andererseits förderte die Gesamtschuldebatte im konservativen Lager eine größere Akzeptanz ganztägiger Schulkonzeptionen, die dessen Vertreter in das bestehende Schulwesen integrieren wollten.

Spätestens ab Anfang der 1970er-Jahre verringerten sich infolge der Ölkrise und einer neuen bildungspolitischen Polarisierung die Chancen auf eine Etablierung ganztägiger Modelle. Die höhere Arbeitslosigkeit infolge der wirtschaftlichen Rezession führte zu einer erneuten Problematisierung mütterlicher Erwerbsarbeit. Die Schuldebatten befassten sich indes mit den Auswirkungen der Bildungsreform. Kritisierten vor allem sozialdemokratische Akteure, dass wichtige Reformideen nicht umgesetzt worden seien, so knüpften Gegner an neue Debatten über ‚Schulstress‘ und übersteigerte Leistungsanforderungen an, die sie als Folge eines neuen Leistungsprinzips auffassten. Boten diese Debatten ebenso wie das bildungspolitisch virulent werdende Thema Migration durchaus argumentative Anknüpfungspunkte, geriet das Ganztagsschulprojekt nicht zuletzt aufgrund der damit verbundenen hohen Kosten sowie der Widerstände von Lehrer/innen in den Hintergrund. Instruktiv wird hier das Wechselverhältnis von ökonomischen Wandlungsprozessen und kulturellen Debatten dargestellt, wobei deutlich wird, dass gerade auch Erziehungsfragen und neue Ansprüche an Schule und Aufwachsen zu einer gesellschaftlichen Polarisierung und Krisenwahrnehmung beitrugen.

Die Mikrostudien können wichtige Einflussfaktoren in der Praxis herausarbeiten und stellen ein auch für sich lesbares Kapitel zur schulischen Praxis dar. An ihnen wird deutlich, dass mit den Ganztagsgründungen sehr unterschiedliche Reformvorhaben verknüpft waren. Im baden-württembergischen Fall sollte das Ganztagsangebot an einem neu errichteten Progymnasium zur Mobilisierung ländlicher ‚Bildungsressourcen‘ innerhalb des dreigliedrigen Schulwesens beitragen. Vor allem hier kann Mattes das hohe Mobilisierungspotential von schulischen Fragen sowie partiell die Aneignung neuer schulischer Ansprüche durch Eltern demonstrieren. In den anderen Fällen war die Errichtung des ganztägigen Schulangebots eng verknüpft mit der Etablierung von Gesamtschulen. Insbesondere das Berliner Beispiel bestätigt die zuvor beschriebene Ambivalenz des Gesamtschulprojekts plastisch.

Die Studie kann eine Reihe von Erklärungen für die Persistenz der Halbtagsschule liefern: Neben einer institutionellen und strukturellen ‚Pfadabhängigkeit‘ kam insbesondere dem ostdeutschen Schulwesen mit seiner Kombination von Halbtagsschule und Hortbetreuung als Gegen- und Feindbild eine nicht zu unterschätzende Bedeutung zu. Einen nicht unerheblichen Einfluss hatten auch die Widerstände von Lehrer/innen gegenüber einer nachmittäglichen Beschäftigung und der Ausweitung ihrer Aufgabenbereiche.

Um die eingangs aufgestellte These eines „(schul)zeitpolitischen ‚Sonderweg[s]‘“ (S. 11) besser nachvollziehen zu können, wären eine Skizze des internationalen Vergleichskontextes und eine Erläuterung der Herausbildung des Halbtagsmodells in Deutschland hilfreich gewesen. Dieses hatte zu Beginn des 20. Jahrhunderts die geteilte Ganztagsschule abgelöst und stellte einen wesentlichen Unterschied zu Entwicklungen in anderen Ländern dar, die zeitgleich ganztägige Modelle etablierten.4

Zudem wird mit der hier eingenommenen Perspektive die Ganztagsschule zu einem normativen (erwünschten) Modell. Fragen ließe sich, ob die unterschiedlichen Debatten auch als verschiedenartige Versuche einer Intensivierung des Zugriffs auf Heranwachsende verstanden werden könnten. Denn dass Schulkinder durch Konsumgesellschaft sowie neue Anforderungen von Arbeitsmarkt und politischer Ordnung einer stärkeren Beaufsichtigung bedürften, schien für die Zeitgenossen außer Frage zu stehen. Gemeinsam war ihnen, dass sie ein pädagogisches Vakuum identifizierten und als moralische Gefahr bzw. pädagogische Chance definierten. Unter anderem könnte es sich als fruchtbar erweisen, diese Projekte auch unter der längerfristigen Perspektive einer ‚Verhäuslichung‘ und Pädagogisierung von Kindheit zu betrachten.5 Hier könnte es lohnend sein, den verschiedenen pädagogischen Konzepten eine größere Beachtung zu schenken.

Es gelingt der Studie jedoch, die Schuldebatten mit weiteren gesellschaftlichen Wandlungsprozessen zu verknüpfen und somit für die Zeitgeschichte anschlussfähig zu machen. Während sie für die 1950er-und 1960er-Jahre Forschungsergebnisse bestätigen und in Bezug auf die schulische Zeitstruktur erweitern kann, schlägt sie zugleich wichtige Schneisen für eine weitere Erforschung der 1970er-Jahre. Mattes legt damit wichtige Ergebnisse auch für schulische und gesellschaftliche Wandlungsprozesse insgesamt vor und sondiert ein wichtiges Forschungsfeld – nicht nur für bildungshistorisch Interessierte, sondern auch für die Zeitgeschichte.

Anmerkungen:
1 Die Studie ist im Kontext zweier Forschungsprojekte unter der Leitung von Karen Hagemann und Konrad Jarausch entstanden. Es handelt sich um die Projekte „Zwischen Ideologie und Ökonomie: Das Politikum der Ganztagsschule im deutsch-deutschen Vergleich“ sowie „Zwischen Realisierung und Verhinderung: Ganztagsschulen in der Bundesrepublik Deutschland in den 1960er bis 1980er Jahren – Historische Fallstudien“.
2 Axel Schildt, Die Sozialgeschichte der Bundesrepublik Deutschland bis 1989/90, München 2007, S. 99f. Zum Forschungsstand siehe Sonja Levsen, Jugend in der europäischen Zeitgeschichte – nationale Historiographien und transnationale Perspektiven, in: Neue Politische Literatur 55 (2010), S. 421–446, insbes. S. 436ff. Als wichtige Ausnahmen sollten genannt werden: Torsten Gass-Bolm, Das Gymnasium 1945–1980. Bildungsreform und gesellschaftlicher Wandel in Westdeutschland, Göttingen 2005; Brian M. Puaca, Learning Democracy. Education Reform in West Germany, 1945–1965, New York 2009; Dirk Schumann, Legislation and Liberalization: The Debate about Corporal Punishment in Schools in Postwar West Germany, 1945–1975, in: German History 25 (2007), S. 192–218. Trotz der unumstritten großen gesellschaftlichen Bedeutung der Institution ist die Zeitgeschichte der Schule bisher sehr viel weniger Gegenstand historischer Forschung gewesen als die Universitätsgeschichte, die Familiengeschichte oder die Geschichte von Jugend(kulturen).
3 Die Frage nach Gründen für ausgebliebene Reformen in der Nachkriegszeit beschäftigte vor allem die Forschung in den 1970er-Jahren. In den letzten Jahren zeichnet sich eine neuere Debatte über langfristige Effekte alliierter Reformbemühungen ab. Siehe dazu neben Puaca, Learning Democracy, jetzt den Tagungsband Corine Defrance / Romain Faure / Eckhardt Fuchs (Hrsg.), Bildung in Deutschland nach 1945. Transnationale Perspektiven, Brüssel 2015.
4 Joachim Lohmann, Das Problem der Ganztagsschule. Eine historisch-vergleichende und systematische Untersuchung, Ratingen 1965. Dass diese Aspekte in der vorliegenden Monographie nicht ausführlich behandelt werden, mag damit zusammenhängen, dass sie in anderen Veröffentlichungen aus dem Projektkontext zentral diskutiert werden. Karen Hagemann, Halbtags oder Ganztags? Zeitpolitiken von Kinderbetreuung und Schule in Europa im historischen Vergleich, in: dies. / Konrad H. Jarausch (Hrsg.), Halbtags oder Ganztags? Zeitpolitiken von Kinderbetreuung und Schule nach 1945 im europäischen Vergleich, Weinheim 2015, S. 20–83, insbes. S. 45–53.
5 Jürgen Zinnecker, Vom Straßenkind zum verhäuslichten Kind. Kindheitsgeschichte im Prozeß der Zivilisation, in: Imbke Behnken (Hrsg.), Stadtgesellschaft und Kindheit im Prozeß der Zivilisation. Konfigurationen städtischer Lebensweise zu Beginn des 20. Jahrhunderts, Opladen 1990, S. 142–162, insbes. S. 155.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
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