S. Spieker: Die Entstehung des modernen Erziehungsdenkens

Titel
Die Entstehung des modernen Erziehungsdenkens aus der europäischen Expansion.


Autor(en)
Spieker, Susanne
Reihe
Interkulturelle Pädagogik und Postkoloniale Theorie 4
Erschienen
Frankfurt am Main 2015: Peter Lang/Frankfurt am Main
Anzahl Seiten
343 S.
Preis
€ 59,95
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Rebekka Horlacher, Institut für Erziehungswissenschaft, Universität Zürich

Die hier zu besprechende Publikation, die 2013 als Dissertation an der Universität Hamburg eingereicht worden ist, beschäftigt sich mit der Frage, wie die Auseinandersetzung mit „den Bewohnern der Amerikas“ (S. 15) die Entstehung des modernen Erziehungsdenkens mitbestimmt hat. Dieser Frage wird anhand von zwei Teilstudien aus der Frühen Neuzeit nachgegangen. Die erste Studie beschäftigt sich mit den Schriften des Franziskaners Bernardino de Sahagún (1499–1590), einem ethnografisch arbeitenden Missionar der frühen spanischen Kolonialzeit. Die zweite widmet sich den Schriften des „Klassikers des erziehungstheoretischen Denkens der Frühen Neuzeit, John Locke (1632–1704)“. Ziel der Untersuchung ist es, auf der „Grundlage postkolonialer Überlegungen zur möglichen Bedeutung von überregionalen Verflechtungen für die Herausbildung des modernen Erziehungsdenkens“ (S. 19) und vor dem methodischen Hintergrund der neueren Ideengeschichte herauszuarbeiten, inwiefern die Bildungsgeschichte einer historiographischen Verengung anheimfällt, wenn sie die Bedeutung der außereuropäischen Erfahrungen und des entsprechenden Wissens bei der Theoriebildung nicht berücksichtigt. Damit beansprucht die Arbeit, eine „stärkere Berücksichtigung globaler Verflechtungen“ zu erproben und einen „Beitrag zur Integration der Auseinandersetzung der Europäer mit den Bewohnern der Amerikas in die Bildungsgeschichtsschreibung“ zu leisten (S. 297).

Diese ambitionierten Absichten, welche ohne Zweifel zu begrüßen sind, werden in der Studie aber dann leider nicht entsprechend eingelöst, wobei diese Diskrepanz sicher nicht an der fehlenden Kenntnis von Forschungsstand und Quellen liegt, eher im Gegenteil. Spieker hat viel gelesen und kennt sich im Thema aus, es gelingt ihr aber nicht, das vielfältige Wissen in einen stringenten Argumentationszusammenhang zu bringen, der den eingangs formulierten Anspruch einlöst und der vor allem auch die Bedeutung der „europäischen Expansion“ für das „moderne Erziehungsdenken“ sichtbar machen würde.

Der Aufbau der Arbeit entspricht den zu Beginn formulierten Zielen. Auf eine kurze Einleitung (S. 15–25) folgt ein längeres Kapitel, das mit „Positionierungen“ überschrieben ist (S. 27–76) und in welchem die theoretischen und historiographischen Vorüberlegungen ausführlich erläutert werden. In diesem Abschnitt legt Spieker den Forschungsstand der historischen Bildungsforschung und der postcolonial studies dar und zeigt auf, welchen theoretischen und historiographischen Konzepten sie aus welchen Gründen folgen und welche sie warum verwerfen bzw. modifizieren möchte. Dabei wird deutlich, dass es ihr in ihrer Studie darum geht, einen Beitrag zur Überwindung der nationalstaatlichen Optik in der deutschsprachigen Bildungsgeschichte zu leisten. Es ist aber ebenso ihr Ziel aufzuzeigen, dass das Nachdenken über Erziehung keine „Erfindung“ der deutschen Aufklärung mit Wurzeln in der Antike ist (S. 43), was sie an einem aktuellen Lexikonartikel zum Stichwort „Erziehung“ beispielhaft aufzeigt. Mindestens so entscheidend für die Bestimmung des modernen Erziehungsdenkens sei die Auseinandersetzung mit dem Fremden gewesen, was sie am Beispiel der Amerikas zeigen möchte. Mit der konsequenten Verwendung des deutschen Plurals Amerikas für das, was im deutschen Sprachgebrauch üblicherweise mit dem Begriff Amerika bezeichnet wird, lehnt sie sich an das englisch- bzw. spanischsprachige Konzept des „The Americas“ oder „Las Américas“ an, womit die Gesamtheit der verschiedenen Amerikas gemeint ist, das heißt sowohl die ehemaligen englischsprachigen Kolonien, als auch die spanisch- oder portugiesischsprachigen Gebiete, ohne damit „einen mit ‚historisch-kulturalistischen Argumenten konstruierten Raum‘“ zu bezeichnen (S. 15).

Das dritte Kapitel ist dem „Erziehungsdenken in der spanischen Expansion“ gewidmet, das heißt konkret der Biographie, dem Werk und der historischen und räumlichen Situierung des Nachdenkens über Erziehung bei Bernardino de Sahagún (S. 77–179). Dabei werden die verschiedenen begrifflichen, historiographischen und theoretischen Konzepte, die dazu dienen sollen, das Erziehungsdenken des Franziskaners Bernardino de Sahagún möglichst präzise zu beschreiben, minutiös aufgearbeitet. Der nach Neuspanien emigrierte Sahagún widmete sich dort der Missionierung der indigenen Bevölkerung, wobei er „vor allem … mit Eliten der Nahua intensiv“ zusammenarbeitete. Seine Schrift Historia wurde im 19. Jahrhundert „zu einem festen Bestandteil der Diskussion um die vormalige Hochkultur“ und erreichte so „einen gewissen Bekanntheitsgrad“ (S. 79). In diesem Zusammenhang ist auch die Darlegung der Rekonstruktion des Kontextes der Entstehung der Schriften Sahagúns zu verorten, die aus Begriffsbestimmungen, aber auch aus historischen Informationen zum Herkunftsland Spanien, zum Orden der Franziskaner und Sahagúns Lebenskontext in Mexiko bestehen. Detailreich wird seine Biografie und sein Werk rekonstruiert, wobei alles in allem unklar bleibt, inwiefern diese Darstellung den methodologischen Vorgaben der neueren Ideengeschichte folgt, die laut den Aussagen der Autorin „relevant“ für ihre Arbeit gewesen sei (S. 20). In ihrem Bemühen, den Kontext möglichst breit einzufangen und dafür auch zeitlich weit zurück zu blicken, entpuppt sich dieses Kapitel – das in dem Sinne paradigmatisch für die ganze Untersuchung ist – als eine traditionelle ideen- und geistesgeschichtliche Zusammenstellung von Daten, Fakten und Ideen, die kaum gewinnbringend unter einer konkreten Fragestellung arrangiert werden, was möglicherweise auch damit zusammenhängt, dass eine echte Forschungsfrage nicht formuliert wird, sondern „nur“ die Absicht, zu welchen Debatten die Studie einen Beitrag leisten soll und welches Erkenntnisinteresse verfolgt wird. Der Lesende wird mit einer Fülle von Daten, Fakten und Ereignissen konfrontiert, die alle durchaus etwas mit dem Thema zu tun haben. Aufgrund der fehlenden konkreten Fragestellung bleiben diese Informationen aber additiv nebeneinander stehen und es gelingt Spieker nicht, die Quellenarbeit und die Forschungsliteratur so miteinander zu verzahnen, dass daraus eine Geschichte resultiert, welche die anfangs formulierten methodischen und methodologischen Ansprüche einlöst.

Ein ähnliches Bild zeigt sich auch im vierten Kapitel, das John Lockes Erziehungskonzept „in der englischen Expansion“ darstellt (S. 181–295). Auch hier wird einigermaßen traditionell die Biografie und das Werk John Lockes rekonstruiert, wobei diese Darstellung teilweise hinter dem Forschungsstand zurückbleibt und eher den Eindruck eines gewissen „Staunens“ über die Geschichte evoziert, so etwa, wenn zu lesen ist, dass „der Umgang mit Gesetzestexten … weiterhin Teil politischer Gremienarbeit war“ (S. 262) oder dass „viele saisonal in der Landwirtschaft arbeitende Menschen [im 17. Jahrhundert] … sicher kein regelmäßiges Einkommen“ gehabt hätten (S. 184). Dem kann kaum widersprochen werden (auch wenn der Begriff „Gremienarbeit“ im Kontext des 17. Jahrhunderts etwas gar seltsam klingt), unklar bleibt aber, was die tiefere Bedeutung dieser Einschätzungen ist, vor allem auch, wenn es darum geht, die beiden Treatises of Government sowie die Thoughts concerning Education im Kontext der „englischen Expansion“ zu verorten, wie der Titel des Kapitels ankündigt.
Die Autorin sieht sich zudem ganz grundsätzlich vor die Herausforderung gestellt, die Bedeutung der Amerikas für Lockes Denken und Schreiben zu begründen, da dessen historisch rekonstruierbare Beziehungen zu Amerika eher marginal waren. Dieses „Problem“ löst sie dadurch, dass sie „Hinweise“ herausarbeitet, die „explizit darauf deuten, dass Locke eine Tätigkeit in Übersee in seinen Some Thoughts für die Nachkommen der gentry in Betracht zog“, wobei sie diese Hinweise in den Thoughts hauptsächlich in der Rubrik learning zu finden glaubt (S. 262). Die unter diesen Vorzeichen erfolgende Textinterpretation kann zwar plausibel machen, weshalb bestimmte Fähigkeiten für den Nachwuchs der englischen gentry wichtig waren, da diese ihr Leben oft nicht ausschließlich auf dem Landsitz ihrer Vorfahren verbrachten, sondern sich in der Regel auch politisch betätigten, geschäftliche oder private Reisen unternahmen und teilweise sogar Besitzungen in Übersee besaßen. Nicht zu überzeugen vermag in diesen Argumentationen aber, welche Bedeutung die Amerikas für die Gestaltung von Lockes Denken über Erziehung hatten, zumindest nicht, inwiefern sich eine solche „amerikanisch“ bedingte Perspektive von einer „europäischen“ unterscheidet. Die Argumente nämlich, die hier mit Bezug auf den amerikanischen Kontinent angeführt werden, sind für ein Mitglied der englischen gentry ebenso zutreffend, das ausschließlich in Europa Handel treibt, sich „nur“ in bzw. für England politisch betätigt oder Reisen gar nur zum Zweck der eigenen Bildung oder Unterhaltung betreibt und damit dem Ideal des virtuoso, dem zeitgenössischen englischen Bildungsideal, nacheifert.

Auch das schließende Kapitel (S. 297–322) vermag den Eindruck nicht zu revidieren, dass es Spieker nicht gelingt, ihre theoretischen und historiographischen Anliegen und Ansprüche anhand der Fallbeispiele überzeugend darzulegen, da sie nicht plausibel machen kann, inwiefern „modernes wissenschaftliches Denken“ (S. 297) auch von der Rezeption der Amerikas generiert worden ist. Dazu hätte man möglicherweise andere Fallbeispiele gebraucht, die explizit über das Verhältnis der Alten Welt zur Neuen Welt Auskunft gegeben hätten, oder man hätte diese Beziehungen über weitere Quellen, zum Beispiel Briefe, rekonstruieren müssen. Wenn etwa dargelegt wird, dass „Sahagún durch sein Studium in Salamanca die Schriften Nebrijas, Aquins und Erasmus’“ kannte (S. 141), entsprechende Bezüge in seinen Schriften aber nur indirekt nachweisbar seien, dann stellt sich schon die Frage, weshalb dann – gerade auch unter den methodischen Vorzeichen der neueren Ideengeschichte – trotzdem solche Bezüge rekonstruiert werden. Für eines der Hauptanliegen der Untersuchung, die deutsche Bildungsgeschichte aus ihrer nationalen Fixierung zu lösen, wäre eine „traditionelle“ Aufarbeitung der „fremden Einflüsse“ möglicherweise gewinnbringender gewesen.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
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