Review Symposium A. Tooze: Sintflut

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Titel
Sintflut. Die Neuordnung der Welt 1916–1931


Autor(en)
Tooze, Adam
Erschienen
München 2015: Siedler Verlag
Anzahl Seiten
719 S.
Preis
€ 34,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Michael Wala, Historisches Institut, Ruhr-Universität Bochum

Der britische Wirtschaftshistoriker Adam Tooze hat ein wahrlich monumentales Werk vorgelegt. Auf mehr als 700 Seiten versucht er die Geschichte des Ersten Weltkrieges und der Nachkriegszeit umfassend dazustellen. Hierfür konzentriert er sich im Wesentlichen auf die bereits bekannten und zentralen Akteure: die USA, Großbritannien, Frankreich, Russland, Deutschland. Hinzu kommen China und Japan. Es ist also eine Geschichte, die durch den erkennbar rückwärts gewandten Blick des Historikers ihre Fragen bezieht, eines Wissenschaftlers, der um die Bedeutung dieser Nationen in der Zeit nach 1945 weiß und erkannt hat, wie bedeutend die Prozesse, die zwischen 1916 und 1931 angestoßen wurden, auch für unsere jetzige Welt sind. „Sintflut“ ist sicherlich keine kontrafaktische Studie des „Was-wäre-wenn“, aber dadurch, dass Tooze immer wieder auch Vergleiche anstellt mit teilweise entsprechenden Voraussetzungen nach 1945, könnte der Eindruck entstehen, es handele sich allein um eine Geschichte der Versäumnisse, um eine Analyse des Scheiterns des Westens (S. 29), eines Versagens, das den Boden bereitete für die verheerenden Entwicklungen, die in den Zweiten Weltkrieg mündeten. Aber obwohl Tooze die Frage nach Versäumnissen häufig und provokativ in seinem Text andeutet, ist dieser weit entfernt von einer plakativen und wenig ergiebigen Schuldzuweisung an die Siegermächte oder gar an die USA, sie hätten ein Versprechen gegenüber Europa und dem Rest der Welt nicht eingelöst und seien daher verantwortlich für all jene Entwicklungen, die in Krieg und Holocaust mündeten.

Tooze verbindet die Wirkungsmächtigkeit von handels- und finanzpolitischen Entscheidungen, die häufig im Vordergrund seiner Analyse stehen, mit den großen Fäden der internationalen Politik und fasst dies in einem insbesondere die nördliche Erdhalbkugel umspannenden Geflecht zusammen. Er bedient sich dabei an dem überaus reichhaltigen Reservoir der vorhandenen Sekundärliteratur, und er konzentriert sich auf die wichtigen internationalen Protagonisten der Diplomatiegeschichte.

Dabei spielt Woodrow Wilson eine zentrale Rolle. Er war Pfarrerssohn, Rektor der Princeton University, kurzzeitiger Gouverneur von New Jersey, und wurde als Präsident mit einem Krieg konfrontiert, aus dem er sein Land heraushalten wollte. Diese Einstellung traf – bei aller Kriegsbegeisterung ethnischer Gruppen wie den Deutschen und den Iren, die ihren eigenen Krieg gegen England kämpften – auf breite Zustimmung der amerikanischen Bevölkerung. Wilsons Wahlversprechen 1916, die Vereinigten Staaten nicht in die Händel der Europäer zu verwickeln, fußte auf einer politischen Kultur, die bis auf George Washingtons Farewell Address zurückgeht. Erstmals sichtbar wurde dies durch den Krieg gegen Spanien 1898 durchbrochen, auch wenn die Schlachten in der Karibik und im Pazifik stattfanden. Der Diskurs über die außenpolitische Rolle der USA, insbesondere ob die Vereinigten Staaten ein formelles Imperium mit Kolonien werden wollten, ob die Verfassung dann überall dort gelten würde, wo der Star-Spangled-Banner gehisst würde, war in der Zeit vor der Jahrhundertwende ein wichtiger Meilenstein in der Debatte um die Neuausrichtung der entstehenden Weltmacht. Wilson mag, wie Tooze schreibt, vom Bürgerkrieg in den USA mit seinen horrenden Verlusten geprägt gewesen sein, wenn es um die Entscheidung ging, ob die USA sich militärisch am Krieg in Europa beteiligen würden. Aber wir sollten dabei nicht vergessen, dass die Vereinigten Staaten auch gerade einen Kolonialkrieg hinter sich gebracht hatten: Auf den Philippinen starben mehr als 4.200 amerikanische Soldaten, etwa 20.000 republikanische Kämpfer, und vermutlich 200.000 Zivilisten wurden Opfer der indirekten Auswirkungen des Krieges, bis 1901 die Kampfhandlungen offiziell eingestellt wurden. Das lag sehr viel näher bei den Überlegungen, wieder amerikanische Soldaten in ein Land fernab der Heimat in einen Krieg zu schicken als der Bürgerkrieg. Wilson war es dann auch, der ab 1913 eine graduelle Politik der Unabhängigkeit der Inselgruppe einleitete.

Die USA waren zu Beginn des Ersten Weltkriegs noch stark von der Suche nach einer politischen Verortung im globalen System der Großmächte geprägt, eine sich noch findende Weltmacht, an der zwar schon vor 1914 nichts mehr vorbeiging, die ins Kalkül der anderen Großmächte einbezogen, die immer wieder um Vermittlung gebeten wurden, diese Rolle aber eher zögerlich übernahm oder ablehnte. Das muss berücksichtigt werden, wenn man die nicht immer gradlinige Politik Wilsons und seiner Nachfolger einordnen will.

1917 ließ die deutsche Seite dem Präsidenten dann keine Wahl mehr: die Wiederaufnahme des uneingeschränkten U-Bootkrieges, das Zimmermann-Telegramm und die deutsche Spionage- und Sabotagetätigkeit vor 1917 machten den Kriegseintritt unausweichlich. Es wäre hilfreich gewesen, wenn auf den 700 Seiten einige wenige Sätze stünden zu der Ungeheuerlichkeit der deutschen Entscheidung, Handelsschiffe nun wieder (wie vor der Versenkung der Lusitania im Mai 1915 mit mehr als 1.200 Toten) ohne Vorwarnung zu torpedieren und damit von den Grundsätzen des Kreuzerkrieges und der Prisenordnung abzuweichen, die das Leben von Nicht-Kombattanten auf Hoher See schützen sollten. Die USA waren 1812 mit dem Schlachtruf „free ships make free goods“ in den Krieg gegen Großbritannien gezogen; auch hier also ist ein Standpunkt tief in das politische Denken der Vereinigten Staaten eingegraben. Hinzu kam das unsägliche Zimmermann-Telegramm, von den Briten insgeheim aus dem amerikanischen Transatlantikkabel abgeschöpft, dessen Benutzung Wilson den Deutschen zur Verfügung gestellt hatte, um ein Ende des Krieges durch Vermittlung möglich zu machen. Die auch in der amerikanischen Presse breit kolportierten Sabotageaktivitäten, zu einem großen Teil unter der Leitung des seinerzeitigen Militärattachés Franz von Papen, erwähnte Wilson prominent in seiner Rede vom 2. April 1917. Es hätte in „Sintflut“ noch deutlicher werden können, wessen es wirklich bedurfte, um Wilson umzustimmen; militärisch vorbereitet auf den Krieg waren die USA jedenfalls nicht. Dann wäre auch erklärlicher, weshalb Wilson versuchte, die Waage zu halten zwischen nun unumgänglicher Einmischung und Zurückhaltung, um „entangling alliances“, vor denen Thomas Jefferson 1801 warnte, möglichst zu vermeiden. Wichtigstes Gebot war es, die Handlungsfreiheit der USA zu behalten, Anstöße zu geben, Vorschläge zu machen, wie eine Weltordnung aussehen könnte, die zukünftige Kriege vermied. Dass die USA die ihr zugewachsene Rolle nicht insoweit ausfüllten, als dass sie sich zum Hegemon über alle anderen Nationen erhoben, mag man möglicherweise bedauernd zur Kenntnis nehmen, aber das hätte die Vereinigten Staaten, ihre Politiker und die Bürger überfordert; der Widerstand wäre zudem überwältigend gewesen. Es ist aber erstaunlich, wie selbstbewusst die USA in dieser Phase agierten, den von Frankreich gewünschten Sicherheitspakt gegen Deutschland kurzerhand in einen multilateralen Pakt zur Ächtung des Krieges ummünzend. Der Fingerzeig des republikanischen Nachfolgers Wilsons war deutlich: dies ist der Weg, den wir alle gemeinsam gehen sollten.

Der Begriff der „Chain Gang“, den Tooze immer wieder benutzt, ist auch in diesem Zusammenhang als Metapher sehr gut gewählt. Er zeichnet das Bild von aneinander geketteten Nationen, eine unfreiwillige Verbindung, die die amerikanische Politik beförderte, um die Nationen dazu zu bewegen, konstruktiv zusammenzuarbeiten, ihre Probleme anders zu lösen als mit dem Griff zu den Waffen. Tooze hat richtig erkannt, dass dieses Bemühen einer zutiefst konservativen Politik geschuldet war, die darauf abzielte, Stabilität herzustellen, um durch den Austausch von Waren, Dienstleistungen und Ideen langfristig Veränderungen herbeizuführen, die zu Strukturen führen würden, die denen der USA ähnelten – wenn denn die anderen Nationen nur den Geboten der Vernunft folgen würden. Während Wilson bereit war, diesen Weg konsequent zu beschreiten, zogen sich seine Nachfolger stärker aus der offiziellen internationalen Politik zurück. Die Vereinigten Staaten blieben aber auch unter Warren G. Harding, Calvin Coolidge und Herbert Hoover die Kraft, an der sich andere Nationen orientierten. Auf diese Akteure allerdings verwendet Tooze vergleichsweise wenig Raum, obwohl sich gerade hier doch eine gute Gelegenheit gefunden hätte, herauszuarbeiten, inwieweit die USA auch als nur informell aktive Weltmacht weiterhin von zentraler Bedeutung waren. Vielleicht tut Tooze auch deshalb die Verbindung Hoovers mit der Wall Street zu leichtfertig ab: Es war Thomas W. Lamont, J.P. Morgan-Partner, der Hoover in einem Telefonanruf am 5. Juni zu einem Moratorium riet aber bat, dass Hoover die Quelle für den Vorschlag geheim halte. Hoover erwies sich als entscheidungsschwach, trotz der begeisterten Zustimmung seines Außenministers am selben Tag. Es waren dann die sich überstürzenden Ereignisse, die ihn zwei Wochen später nötigten „sein“ Moratorium vorzustellen; zu spät, um einen starken Effekt zu haben.

Sehr viel wirklich Neues findet sich in „Sintflut“ nicht, denn das Buch fußt ja auch nicht auf neuen Dokumenten und Archivforschung. Aber Tooze vermag es ganz ausgezeichnet, die hochkomplexe Gemengelage der politischen Entscheidungen und insbesondere ihre wirtschafts- und finanzpolitischen Bedingungen in den Nationen, ihre Auswirkungen in Politik und Gesellschaft, auf die er sich konzentriert, zu einem sehr gut lesbaren und auch spannenden Narrativ zusammenzuführen. Es gelingt ihm, weit über den Tellerrand einer Nationalgeschichte hinauszublicken und das Credo der Multiperspektivität umzusetzen; dass die USA sich nach dem Ende des Krieges in die Isolation zurückgezogen hätten, kann spätestens nach diesem Buch niemand mehr ernsthaft vertreten. Dass nicht alle Aspekte der historischen Prozesse, und auch nicht alle relevanten, berücksichtigt werden können, braucht nicht erwähnt zu werden. Man muss als Leser allerdings ein gewisses Durchhaltevermögen aufweisen, 700 Seiten sind nicht leicht zu bewältigen, und die Zeitsprünge, die der Autor einbaut, die Rückgriffe und Exkurse in parallele Entwicklungen machen es fast notwendig, das Buch an einem Stück zu lesen. Dann ergibt sich durch den weit aufgespannten Fächer und die gleichzeitige Konzentration auf einzelne Stränge der Prozesse zwischen 1916 und 1931, die Tooze zu so manch hellsichtiger Analyse führt, ein spannender Lesegenuss, der vieles klärt – aber natürlich auch zu vielen weiteren Fragen anregt. Allan G. Bogue, mein akademischer Lehrer an der UW-Madison, hat einmal gesagt, dass viele Bücher besser Aufsätze geworden wären und dass kein akademisches Buch mehr als 250 Seiten umfassen sollte; Toozes Sintflut bestätigt, dass es für diese Regel eine wichtige Ausnahme mehr gibt.

Anmerkung der Redaktion: Eine Übersicht über das Review-Symposium zu Adam Tooze: Sintflut finden Sie hier: <http://www.hsozkult.de/text/id/texte-2859>.

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