M. Zeller: Das sowjetische Fieber

Cover
Titel
Das sowjetische Fieber. Fußballfans im poststalinistischen Vielvölkerreich


Autor(en)
Zeller, Manfred
Reihe
Soviet and Post-Soviet Politics and Society 136
Erschienen
Stuttgart 2015: Ibidem Verlag
Anzahl Seiten
323 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Nils Havemann, Abteilung Neuere Geschichte, Historisches Institut, Universität Stuttgart

Die Bedeutung des Fußballsports als Teil der modernen Massenkultur hat sich mittlerweile auch unter Wissenschaftlern herumgesprochen. Längst sind es nicht mehr „nur“ Journalisten oder Fans, welche die Perspektive auf diesen Sport weit über den Kampf zwischen 22 Spielern um das nächste Tor hinaus erweitert haben. Fußball ist im vergangenen Jahrzehnt zu einem beliebten Forschungsfeld herangereift, auf dem Historiker, Soziologen, Ökonomen und Politologen ihr theoretisches Rüstzeug angewandt und mit ihren Ergebnissen zum Verständnis komplexer Gesellschaften beigetragen haben. Manfred Zeller hat nun eine Studie über sowjetische „Fußballfans im poststalinistischen Vielvölkerreich“ veröffentlicht, die zweifellos zu den wichtigen wissenschaftlichen Publikationen auf diesem Feld gehört.

Dabei ist ihr Ansatz nicht einmal sonderlich originell, sondern folgt vielfach erprobten kulturhistorischen Pfaden: Fußball ist auch für Zeller eine Sportart, in der sich Kollektive, Identifikationen und kulturelle Befindlichkeiten herausbilden. Er analysiert daher Narrative aus dem sowjetischen Fußball, um daraus „eine Geschichte von Gemeinschaft und Gegnerschaft im poststalinistischen Vielvölkerreich zu schreiben“ (S. 17). Inhaltlich ist dies deshalb spannend, weil Zeller sich das Ziel setzt, über diesen Ansatz „’das Klischee der russischen Masse’“ (S. 18) zu überwinden und es durch eine differenziertere Beschreibung gesellschaftlicher Konflikte zwischen unterschiedlichen Gruppierungen in der sowjetischen Gesellschaft zu ersetzen. Gerade für die Analyse von Gesellschaften in Diktaturen wie der Sowjetunion ist dies ein kluger Gedanke, weil der vermeintlich „unpolitische“ Fußballsport als Massenspektakel viele scheinbar unverfängliche Möglichkeiten zur Demonstration von politischer Zustimmung, Enthaltung oder Resistenz eröffnet.

Es bedarf keiner großen Kenntnis der sowjetischen Geschichte, um sich vorstellen zu können, dass die Verwirklichung dieses Ansatzes allein schon mit Blick auf die Quellenlage eine Herausforderung ist. Mögen die Beherrschung der russischen Sprache und eine fundierte Kenntnis des russischen und ukrainischen Archivwesens für einen Osteuropahistoriker eine Selbstverständlichkeit sein: Die richtige Auswahl der Quellen ist bei Themen zur öffentlichen Meinung in Diktaturen ein generelles Problem. Zeller vertraut dabei einem breiten Mix aus Archivquellen, Presseberichten, Filmen und selbst geführten Interviews, um die unterschiedlichen Wahrnehmungshorizonte und die daraus resultierenden Narrative zuverlässig zu rekonstruieren.

Nachdem die für eine wissenschaftliche Arbeit erforderlichen Grundlagen in der Einleitung ausgebreitet sind, nimmt der Autor seine Leser auf eine faszinierende Reise durch den sowjetischen Fußball von der unmittelbaren Nachkriegszeit bis in die 1980er Jahre mit. Sie ist deshalb spannend, weil der Fokus einmal nicht auf Deutschland oder Westeuropa, sondern auf einer Region liegt, die – wie auch die jüngsten politischen Konflikte offenbart haben – den meisten aus unterschiedlichsten Gründen eher fremd geblieben ist. Die Mythen und Narrative, die sich um Real Madrid, Inter Mailand oder den FC Bayern München ranken, sind daher von der Forschung mittlerweile vielfach unter den unterschiedlichsten Gesichtspunkten analysiert worden. Aber kaum jemand kennt die entsprechenden Geschichten der Moskauer oder Kiever Vereine, die auf der Bühne der europäischen Wettbewerbe bisweilen imponierende Auftritte zeigten, aber in der gegenwärtigen europäischen Erinnerungskultur im Fußball im Schatten der großen Vereine aus England, Spanien, Italien oder Deutschland stehen.

Dabei beschränkt sich Zeller nicht darauf, viele neue beziehungsweise vergessene Fakten und Anekdoten aus dem sowjetischen Fußball zutage zu fördern, weshalb dieses Buch auch für den „normalen“ Fan eine anspruchsvolle, aber durchaus interessante Lektüre sein kann. Vielmehr löst der Autor tatsächlich sein Versprechen ein, über die Narrative in den Anhängerschaften unterschiedliche Gemeinschaften in der sowjetischen Gesellschaft ausfindig zu machen, die sich über diesen Sport von anderen abzugrenzen versuchten. Sympathien für einzelne Vereine oder Spieler waren daher auch in der Sowjetunion nicht nur ein rein „sportliches“ Bekenntnis, sondern oft ein zunächst belanglos erscheinendes Statement. Wie der Autor es selbst in seiner Zusammenfassung formuliert, wurden damit „Vorbehalte Moskaus gegenüber Kiev, Vorbehalte Kievs gegenüber Moskau, Vorbehalte der multinationalen Peripherie gegenüber dem Zentrum, Vorbehalte des Zentrums gegenüber der multinationalen Peripherie, Vorbehalte diverser sozialistischer Organisationen untereinander, vom Komsomol bis zu Armee und Innenministerium“ zum Ausdruck gebracht (S. 275).

Zeller hat eine Studie vorgelegt, die den Historikern einmal mehr die Notwendigkeit verdeutlicht, bei der Beschreibung gesamtgesellschaftlicher Entwicklungen die politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Aspekte des Fußballsports als eines der größten Massenphänomene der vergangenen Jahrzehnte stets im Blick zu behalten.

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