Cover
Titel
Lessings Kiste. Nicolais Plan und das Grimm'sche Wörterbuch


Autor(en)
Kappeler, Manfred
Erschienen
Anzahl Seiten
168 S.
Preis
€ 19,95
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Sabine Hering, Department Erziehungswissenschaften / Psychologie, Fakultät II, Universität Siegen

Just zu dem Zeitpunkt, an dem in Frankreich ein erbitterter Kampf um die deutsche Sprache geführt wird, genauer gesagt, um den Erhalt des von Seiten der Regierung für unnötig erachteten – Unterrichts der deutschen Sprache an den Schulen, legt Manfred Kappeler ein Buch vor, in dem er sich mit dem Kampf um die Anerkennung der deutschen Sprache und gegen die Dominanz der französischen Sprache in Preußen zur Zeit Friedrich II. beschäftigt. Ohne diese Koinzidenz hätte Kappeler zweifellos ein interessantes Kapitel deutscher Kulturgeschichte aufgeschlagen, aber vor dem Hintergrund der aktuellen Ereignisse in Frankreich bekommt die Frage nach der Bedeutung von Fremdsprachen und Muttersprache noch eine ganz andere Brisanz.

Um was geht es in dem Buch – und was befand sich in ‚Lessings Kiste‘? Manfred Kappeler, der weder Germanist noch Historiker, sondern Erziehungswissenschaftler und Sozialpädagoge ist, gelingt es – wie schon in vorangegangenen Veröffentlichungen1 – erneut, durch unerwartete Blickwinkel und transdisziplinäre Verknüpfungen Erkenntnisse hervorzulocken, deren Tragweite beeindruckend ist. Denn in Lessings (verloren gegangener!) Kiste befanden sich unter anderem die Materialien, die fast 100 Jahre später den Grundstein zum Grimm’schen Wörterbuch und damit zur bedeutendsten Manifestation der deutschen Sprache legten – und zwar nicht in einem streng enzyklopädischen Sinne, sondern geprägt vom liberalen Geist der Aufklärung.

Die Protagonisten der Studie sind neben den Gebrüdern Grimm das „Dreigestirn der Berliner Aufklärung“, also Gotthold Ephraim Lessing, Moses Mendelssohn und Friedrich Nicolai auf der einen Seite – und ihr Zeitgenosse Friedrich II. von Preußen, der schon seit 15 Jahren an der Regierung war, als sich Lessing, Mendelssohn und Nicolai 1755 noch jung an Jahren in Berlin begegneten. Die drei Freunde trafen sich fast täglich, um an den Plänen für ein ‚Allgemeines Deutsches Wörterbuch‘ zu arbeiten. Dabei handelte es sich um ein „nationalpolitisches Projekt, das weit über die Hebung der bürgerlichen Kultur ihrer Zeit hinausging […]. Ausgehend von ihrem Befund, dass die Sprache das einzige Gemeinsame der in vielen Kleinstaaten zersplittert lebenden Deutschen sei, sahen sie in der Schaffung einer verbindlichen deutschen Nationalsprache den Weg zur politischen Emanzipation des Bürgertums“ in einem vereinten Deutschland (S. 10f.).

Bei Friedrich II., der überwiegend französisch sprach, trafen sie damit auf wenig Gegenliebe. Der König war der deutschen Sprache nur bruchstückhaft mächtig, hielt sie aber trotz seiner mangelnden Kenntnisse derselben für zu barbarisch, um gehobene Formen der Literatur hervorzubringen. In seinem 1780 veröffentlichten Pamphlet über die deutsche Literatur2 stellte er anschaulich unter Beweis, dass er keines der deutschsprachigen Werke der vergangenen Jahre auch nur zur Kenntnis genommen hatte. Zu diesem Zeitpunkt wurde „Mendelssohns ‚Phädon‘ schon in ganz Europa gelesen, Lessings ‚Minna von Barnhelm‘ war gegen den Widerstand der preußischen Zensur seit Jahren auf den Bühnen und seine ‚Emilia Galotti‘, die international als Höhepunkt des deutschen Trauerspiels gefeiert wird, seit vier Jahren fertig.“ (S. 51)

Die von ihm gegründete ‚Akademie der Wissenschaften‘, auf welche die deutschen Intellektuellen mit so großen Erwartungen lange Zeit gewartet hatten, stellte ‚der Philosoph auf dem Königsthron‘ lieber unter die Oberhoheit eines mittelmäßigen Franzosen, als dass er einem Deutschen diese Aufgabe hätte übertragen mögen. Aber es gab noch mehr Enttäuschungen: Statt der erhofften Abschaffung der Zensur wurde diese unter Friedrich II. mehrfach verschärft. Auch sein „hartes Regime gegen die Juden“ (S. 39ff.) war mit der Aura eines fortschrittlichen Monarchen kaum vereinbar. Der Vorschlag, den inzwischen europaweit anerkannten Philosophen Moses Mendelssohn in die ‚Akademie der Wissenschaften‘ aufzunehmen, wurde von Friedrich mehrfach unerbittlich zurückgewiesen.

Trotz dieser misslichen Rahmenbedingungen kam es zwischen 1755 und 1760 zu bemerkenswerten Vorarbeiten an dem geplanten Wörterbuch, welche nicht nur vom aufklärerischen Geist der drei Kombattanten getragen waren, sondern auch von ihrer tiefen Liebe zur deutschen Sprache und ihrem Gespür für deren Feinheiten. Doch da Lessing Berlin 1760 verließ, weil seine Bemühungen, in Berlin eine feste Anstellung zu finden ebenso wie die Mendelssohns fehlgeschlagen waren, war es vor allem Friedrich Nicolai, der weiter an den Plänen zu einem Deutschen Wörterbuch arbeitete. Erst 1769 gab auch er die Bemühungen mit großem Bedauern auf, als bekannt wurde, dass die Kiste mit den ‚Collectaneen‘, die Lessing mitgenommen hatte, verloren gegangen war. Seine eigenen Vorarbeiten zum Wörterbuch erklärte er in einer kurzen Abhandlung zu einer Art Vermächtnis: „Ich mache hier die Hauptidee bekannt; vielleicht kann sie jemand nutzen.“ (S. 70)

Der Rückbezug darauf dauerte zwar fast 100 Jahre, aber die Vermutung ist naheliegend, dass Jacob und Wilhelm Grimm die Ideen von Friedrich Nicolai aufgenommen und zur Grundlage ihres Wörterbuchs gemacht haben, dessen erster Band 1854 – und der letzte 1961 erschien. Ein gigantisches Projekt, an dem die Grimms selbst zusammen mit vielen Mitarbeiter/innen über 40 Jahre gearbeitet und damit Grundsätze geschaffen haben, die ‚werkgetreu‘ weitergeführt werden konnten.

Soweit die von Manfred Kappeler rekapitulierten Ereignisse. Die Botschaften, die er damit verbindet, sind vielfältig und wohldurchdacht. In mosaikartig zusammengesetzten Kapiteln beschäftigt er sich mit unterschiedlichen thematischen Zugängen zur Interpretation der einzelnen Facetten der Geschichte von ‚Lessings Kiste‘.

Einer der wichtigsten Zugänge ist die Beschäftigung mit den politischen Hintergründen, genauer gesagt: mit dem Spektrum, das sich zwischen dem Wunsch des liberalen Bürgertums nach einer gemeinsamen deutschen Sprache angesichts der deutschen Kleinstaaterei bis hin zu einem völkischen Sprach-Chavinismus erstreckt, der von Anfang an zwar mitangelegt war, aber erst im Nationalsozialismus zur vollen Entfaltung kam: „Nicolai, Lessing und Mendelssohn diskutierten über ein ‚Allgemeines Deutsches Wörterbuch‘, als in Berlin der absolutistisch regierende und philosophisch der französischen Aufklärung anhängende König auf dem Höhepunkt seiner Macht war. Die Grimms begannen ihre Arbeit in der Zeit der Restauration und veröffentlichten den ersten Band ihres Wörterbuches nach dem Scheitern der bürgerlichen Revolution von 1848, die ihr königlicher Mäzen, Friedrich Wilhelm der IV. von Preußen, in Berlin hatte blutig niederwalzen lassen.“ (S. 78) Dass beide Pläne trotz der unterschiedlichen Rahmenbedingungen mehr Ähnlichkeiten als Unterschiede aufwiesen, beruht – so Kappeler – auf der konstant gebliebenen Überzeugung, dass die Vereinheitlichung und Verbreitung der deutschen Sprache (auch im Adel) eine der wichtigsten Voraussetzung für den ersehnten deutschen Nationalstaat sei.

Andere anregende interpretative Zugänge ergeben sich aus der Beschäftigung Kappelers mit der Bedeutung der biographischen Hintergründe von Friedrich II., Lessing, Mendelssohn und Nicolai für das jeweilige Verhältnis zur Muttersprache und zu den Fremdsprachen (S. 90–140), oder aus dem Rückblick auf Motive und Mentalitäten von ‚Sprachreinigern‘ in den Zeiten vor der Aufklärung (S. 74f.).

Da es Kappeler in seinem aufwendig recherchierten und überaus lesenswerten Buch neben der Reflexion des politischen Stellenwerts von Sprache hauptsächlich um die Verbindung von Sprache und Aufklärung als Grundlage fortschrittlichen Denkens und Handelns geht, überlässt er die nachdenklich stimmende Schlussbemerkung dem Philosophen Moses Mendelssohn: „Die Aufklärung ist kein einmal erreichter und dann für alle Zeiten gesicherter Zustand, sondern eine von Menschen immer wieder neu herzustellende Praxis, die die Keime ihres Scheiterns allemal in sich trägt.“ (S. 144) Quod errat demonstrandum.

Anmerkungen:
1 Über die Bildungsbiographien Klaus Manns und seiner Geschwister: Manfred Kappeler, „Wir wurden in ein Landerziehungsheim geschickt…“. Klaus Mann und seine Geschwister in Internatsschulen, Berlin 2013.
2 Friedrich II., De la littérature allemande, des défauts qu’on peut lui reprocher, quelles en sont les causes, et par quels moyens on peut les corriger, Berlin 1870.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
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