C. Thonfeld: Rehabilitierte Erinnerungen?

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Titel
Rehabilitierte Erinnerungen?. Individuelle Erfahrungsverarbeitungen und kollektive Repräsentationen von NS-Zwangsarbeit im internationalen Vergleich


Autor(en)
Thonfeld, Christoph
Erschienen
Anzahl Seiten
362 S.
Preis
€ 34,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ulrike Jureit, Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur

Sinaida Baschlai war eine von mindestens dreizehn Millionen Zwangsarbeitern, die während des Zweiten Weltkrieges aus den von NS-Deutschland besetzten Ländern verschleppt wurden. Geboren 1914 im russischen Belgorod wuchs sie mit zwei Geschwistern in Charkow (Ukraine) auf, wo sie vor dem Krieg die chemisch-technologische Hochschule absolvierte. Als die deutsche Wehrmacht im Oktober 1941 in Charkow einmarschierte, wurde Sinaida Baschlai nicht evakuiert, sondern im Frühjahr 1942 zur Zwangsarbeit nach Deutschland verschleppt. Sie musste bis April 1945 sowohl als Dienstmädchen in Berlin wie auch in verschiedenen Industriebetrieben arbeiten, unter anderem für die Firma Schwarzkopf und in der kriegswichtigen Sprengstoffproduktion. Zunächst im April von US-amerikanischen Truppen befreit, kehrte Sinaida Baschlai im Herbst 1945 nach Charkow zurück und arbeitete bis zu ihrer Pensionierung 1977 als Chemikerin. Sie empfand – wie die meisten anderen ehemaligen Zwangsarbeiter/innen – ihren Arbeitseinsatz in Deutschland zeitlebens als ein „Brandmal“, das erhebliche biographische, soziale und politische Auswirkungen auf ihren Lebensweg nach 1945 gehabt hat.

Viele ehemalige Zwangsarbeiter/innen sahen sich nach dem Krieg massiven Kollaborationsvorwürfen ausgesetzt, erlebten berufliche und soziale Benachteiligungen und versuchten daher ihre Zwangsarbeitserfahrungen so gut es eben ging zu verschweigen. Neben gesundheitlichen Schädigungen waren es oft familiäre und berufliche Folgen, die das Leben in den europäischen Nachkriegsgesellschaften erschwerten und belasteten. Familienangehörige distanzierten sich von den vermeintlichen „Verrätern“, Schul- und Berufsausbildungen konnten nicht fortgesetzt werden, soziale Aufstiegschancen blieben den aus Deutschland Repatriierten verwehrt. In den meisten Nachkriegsgesellschaften trafen die ehemaligen Zwangsarbeiter/innen auf eine Mischung aus Desinteresse, Misstrauen und offener Ablehnung. Manche Rückkehrer mussten jahrelang in den Lagern des stalinistischen Gulags wiederum Zwangsarbeit verrichten. Erst in den 1980er-Jahren setzte ein allmählicher Wandel im Umgang mit dieser europäischen Kollektiverfahrung ein, so dass nun die Frage der bisher ausgebliebenen Kompensationen politisch an Brisanz gewann. Als der Deutsche Bundestag im August 2000 schließlich die Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ ins Leben rief, begann nicht nur die überfällige Entschädigung der im Nationalsozialismus zur Zwangsarbeit rekrutierten Opfer, es begann auch eine Sammlung und Auswertung von Zeitzeugeninterviews, die 2005/2006 im Auftrag der Stiftung in insgesamt 26 Ländern durchgeführt wurden. Fast 600 lebensgeschichtliche Interviews sind aus dem vom Institut für Geschichte und Biographie der Fernuniversität Hagen koordinierten Zeitzeugenprojekt hervorgegangen. Sie wurden mittlerweile in einem von der FU Berlin betreuten Online-Archiv „Zwangsarbeit 1939–1945“ für Forschung, Lehre und Bildungsarbeit zugänglich gemacht.

Christoph Thonfeld, der selbst Mitarbeiter des genannten Zeitzeugenprojektes war, hat für seine Studie insgesamt 86 lebensgeschichtliche Interviews mit ehemaligen Zwangsarbeitern/innen ausgewählt und vergleichend ausgewertet. Seine Untersuchung konzentriert sich dabei weniger auf die im Interview erzählten Lebensgeschichten der Gesprächspartner (sie wurden bereits in anderen Publikationen reflektiert), Thonfeld interessiert sich viel mehr für die Erinnerungs-, Deutungs- und Verarbeitungsbedingungen der erlebten Zwangsarbeit in den unterschiedlichen Nachkriegsgesellschaften. Wie sind die Zeitzeugen, die nach Kriegsende nach Frankreich, Tschechien oder in die Ukraine zurückkehrten, mit ihren Erfahrungen umgegangen, und wie unterschieden sich ihre dortigen Lebensbedingungen von denjenigen, die in Deutschland blieben oder nach Israel auswanderten? Thonfeld nimmt das Verhältnis von individueller und gesellschaftlicher Erinnerung in sechs Nachkriegsgesellschaften in den Blick und fragt angesichts fortschreitender Globalisierungstendenzen nach der Relevanz nationalstaatlich geprägter Erinnerungs- und Deutungsmuster. Er versteht die mündlich erfragten Lebenserzählungen der ehemaligen Zwangsarbeiter als ein Widerlager zu gegenwärtigen Forschungstendenzen, nach denen der Nationalstaat als Referenzpunkt für Erinnerungen seine Bedeutung verliere und Zeitzeugeninterviews primär von der Gegenwart der Erzählenden geprägt seien. Statt das Verhältnis von Vergangenheit und Erinnerung unter einen strengen Gegenwartsvorbehalt zu stellen, will Thonfeld die „stärkere Wirkmächtigkeit der Vergangenheit in die Gegenwart hinein“ (S. 61) berücksichtigt wissen.

Nach Einleitung und Forschungsstand sowie weiteren Ausführungen zu „theoretischen und methodischen Zugängen“, die nicht immer den direkten Weg zum Argument nehmen, widmet sich Thonfeld dem eigentlichen Thema seiner Studie. Er differenziert seine Forschungsfrage an den Perspektiven der nach Frankreich, Tschechien und in die Ukraine zurückgekehrten Zwangsarbeiter/innen und kontrastiert sie mit denjenigen, die in Deutschland geblieben beziehungsweise nach Israel und England immigriert sind. Deutlich wird anhand des internationalen Vergleichs, dass trotz der divergierenden Lebens- und Arbeitsbedingungen der Zeitzeugen nach 1945 nahezu alle damit konfrontiert waren, dass ihre Zwangsarbeitserfahrungen wenig, zuweilen keinerlei politische und gesellschaftliche Anerkennung fanden, sie im Gegenteil sogar mit erheblichen Nachteilen und Diskriminierungen leben mussten. Zwar hatte die gesellschaftliche Ächtung der ehemaligen Zwangsarbeiter/innen in Frankreich deutlich andere Konsequenzen und Konnotationen als in der Ukraine, und auch die Erfahrungen der nach Israel Ausgewanderten unterschieden sich in Form und Intensität von denjenigen, die aus familiären oder anderen Gründen in Deutschland blieben, doch spiegelt sich in allen Erzählungen der Zeitzeugen die generelle Unfähigkeit und Unwilligkeit der Nachkriegsgesellschaften wider, sich mit globaler Zwangsmigration und massenhaftem Kriegsarbeitseinsatz differenziert auseinander zu setzen. Die Erinnerungen an die in Deutschland erbrachte Zwangsarbeit haben „keinen festen Ort im Gedenken der jeweiligen Gesellschaften zugewiesen bekommen“ (S. 316).

In den mündlich erfragten Lebensgeschichten werden die persönlichen Erfahrungen als Zwangsarbeiter individuell sehr unterschiedlich gewichtet und bewertet. Nicht in jeder Biographie ist der Arbeitseinsatz in Deutschland der schwierigste oder gar der schmerzhafteste Lebensabschnitt, während für manch anderen die Deportation nach Deutschland schlichtweg die Katastrophe seines Lebens war. Thonfeld gelingt es, die wechselseitige Durchdringung der erlebten und der erzählten Geschichte zu veranschaulichen, auch wenn sich der Leser an der einen oder anderen Stelle eine stärker lebensgeschichtlich orientierte Interpretation gewünscht hätte. Die Biographien der Zeitzeugen bleiben aufgrund des thematischen Zuschnitts manchmal zu blass, um die an sich überzeugende Argumentation des zeitlichen Ineinandergreifens von historischer Erfahrung und aktueller Vergegenwärtigung empirisch zu entfalten. Denn neben der individuellen Erfahrungsverarbeitung ist der soziale, gesellschaftliche wie auch der politische Einfluss der jeweiligen Deutungs- und Erinnerungskontexte unverkennbar und es gehört zu den Stärken des Buches, die Spannung zwischen individueller und sozialer Erinnerung nicht einseitig aufzulösen, sondern interpretativ zu nutzen.

Gleichzeitig offenbart die Studie von Thonfeld allerdings auch ein Dilemma. Lange Zeit galt die Oral History – nicht immer zu Unrecht – als eine fragwürdige, methodisch ahnungslose und zuweilen naive Forschungsmethode, die die subjektiven Perspektiven der mündlich erfragten Erzählungen unreflektiert reproduziere und somit allenfalls Material für eine wissenschaftlich doch weitgehend unergiebige Betroffenheitsgeschichte liefere. Kritiker sahen vor allem in den Geschichtswerkstätten unbeholfene „Barfußhistoriker“ am Werk, die es vor ihrer eigenen Arglosigkeit zu schützen galt. Auch wenn der Streit um den subjektiven Faktor in der Geschichtsschreibung längst nicht ausgefochten ist, hat die wissenschaftliche Kontroverse erheblich an Komplexität gewonnen. Oral History gehört mittlerweile zu den anerkannten, wenn auch nicht von allen geschätzten Forschungsmethoden, die sich – anders als manch anderer historiographischer Ansatz – differenziert und interdisziplinär den theoretischen Herausforderungen einer „kulturgeschichtlich erweiterten Sozialgeschichte“ gestellt hat. Die Studie von Christoph Thonfeld zeigt sich über die zentralen Knackpunkte einer auf mündlich erfragten Geschichtsquellen beruhenden Untersuchung bestens informiert und argumentiert auf Augenhöhe. Allerdings wirkt die Ausführlichkeit, mit der auf die vorhandene Forschungsliteratur Bezug genommen wird, zuweilen sehr darum bemüht, nun wirklich jede Nuance der interdisziplinär breit gefächerten Interviewforschung zu erwähnen, ohne dass den referierten Ansätzen in der Untersuchung irgendeine Relevanz zukommt. Nahezu zwangsläufig gerät das Buch dadurch in eine gewisse Schieflage, die nicht nur misslich ist, sondern auch vermeidbar gewesen wäre. Oral History braucht sich heute nicht mehr durch fleißige Literaturberichte zu legitimieren, entscheidender ist es, die nur mithilfe mündlich erfragter Geschichtsquellen zu gewinnenden Erkenntnisse klar zu benennen. Die Studie von Christoph Thonfeld bilanziert zwar die Forschung auf hohem Niveau, schöpft aber das Potential ihrer mündlichen Zeugnisse zu wenig aus.

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