Titel
War der Kaiser an allem schuld?. Wilhelm II. und die preußisch-deutschen Machteliten


Autor(en)
Mommsen, Wolfgang J.
Erschienen
Anzahl Seiten
296 S.
Preis
€ 25,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Markus Bußmann, Westfälische Wilhelms-Universität Münster

Rhetorische Fragen haben eine eigenartige Wirkkraft. Sie erwecken den Anschein, als ob eine auffällige, offensichtlich vom Konsens abweichende Meinung tatsächlich ernsthaft vertreten würde. Sie konstruieren dem Leser eine Gegenposition, die er unmittelbar zu verneinen geneigt ist. Dies alles geschieht, um dann den selbst gegebenen Antworten, die die Suggestivfrage als wenig haltbare Position weiter entlarven sollen, eine besondere Glaubwürdigkeit zu verleihen.

Wolfgang J. Mommsen nutzt für den Titel seines jüngsten Buches über Wilhelm II. dieses bekannte Stilmittel. Doch wer behauptet überhaupt, "der Kaiser war an allem schuld"? Diese Frage beantwortet Mommsen nicht explizit. Er spricht lediglich davon, dass "der britische [!] Historiker John C.G. Röhl den Monarchen bereits seit geraumer Zeit wieder in den Mittelpunkt der Betrachtung" rücke, ihn "als eigentlichen Entscheidungsträger im Kaiserreich" porträtiere und ihm "ganz wesentlich die Fehlentwicklungen der deutschen Politik zu[rechne], die zur 'Urkatastrophe' des Ersten Weltkrieges (George F. Kennan) führten."1 Mommsen findet sogar lobende Worte für den Autor der "großen eindrucksvoll dokumentierten Biografie"2, der "Quellenmaterial [...] in überwältigender Fülle zusammengetragen" habe (S. 7) und dessen "materialreiche" Untersuchungen "in vieler Hinsicht ganz neue Perspektiven eröffnet" hätten und "schlechthin unentbehrlich" seien (S. 12) – übrigens auch für Mommsens eigene Publikation, die, worauf er selbst verweist, zu nicht geringen Teilen auf den von Röhl geborgenen Quellen fußt.3

Aber weshalb – um Mommsens rhetorisches Mittel aufzugreifen – flicht er in das Lob über Röhls Kaiser-Biografie den Halbsatz ein, dass diese "allerdings bislang nur bis zur Jahrhundertwende gediehen" sei (als ob nicht bekannt wäre, dass Röhl bereits mitten in den Vorbereitungen für den dritten Band steckt, der die Zeit bis 1914/18 umfassen soll)? Und warum qualifiziert er Röhl so dezidiert als "britischen Historiker", obwohl er durchaus weiß, dass John Röhl (nomen est omen) aufgrund seiner binationalen Eltern ebenso Deutscher ist? Sind dies Zufälle, oder präzise gesetzte Nadelstiche – Nuancen oder bewusste Distanzierungen? Suggeriert Mommsen hier nicht, dass Röhl zwar sehr viele wichtige Einzelheiten zusammengetragen habe, aber seine angebliche Grundthese, der Kaiser wäre "an allem schuld", völlig falsch sei; weshalb der Düsseldorfer Emeritus sie sogleich auf knapp 300 Seiten widerlegt und dabei auf die anderen, nämlich die "preußisch-deutschen Machteliten" verweist?

Jeder mag den Stil dieser fein ziselierten Angriffe selbst beurteilen. Prüfen wir hier die Inhalte und beschränken uns auf ein prägnantes, von Mommsen besonders hervorgehobenes Beispiel: die Erste Marokkokrise. Nach dem Abschluss der englisch-französischen Entente im April 1904 war der erste Schritt in der deutschen Selbstauskreisung offenbar geworden. "Erzfeind" Frankreich war nun – vornehmlich aufgrund eigener außenpolitischer Fehler des Kaiserreichs – nicht mehr nur mit Russland, sondern auch mit der Weltmacht England eng verbunden. In Berlin suchte man daraufhin den sich langsam zuziehenden "gegnerischen Ring" an der Scharnierstelle aufzubrechen. Diesen Plan verfolgten allerdings nicht nur Bülow, Holstein und die Militärs, sondern auch – sehr aktiv – Wilhelm II. Im November 1904 forderte der Kaiser von seinem designierten Generalstabschef von Moltke: "Man soll [...] sich, da die Franzosen jetzt so mit den Engländern liiert sind, daß man sie als deren Bundesgenossen behandeln kann, in dieser schwierigen Situation an diese halten und sie angreifen" 4. Auch in den kommenden Wochen hielt Wilhelm II. an diesen Ideen fest 5 und forderte zum Jahreswechsel 1904/05 explizit von seinem Reichskanzler: "Paris muß gelegentlich eins ausgewischt bekommen!"6 Zumindest eine außenpolitische Schlappe wollte der Kaiser Frankreich beibringen.

Es ist wahr: Die Art und Weise, wie Bülow dieses Vorhaben dann drei Monate später einfädelte, gefiel dem Kaiser zunächst gar nicht: "Guillaume le timide" (den Spitznamen zog er sich in der Ersten Marokkokrise zu) zögerte, denn er mochte sich ungern persönlich zur Speerspitze eines Angriffs machen lassen, indem er selbst in Tanger an Land ging, um Frankreich zu demonstrieren, dass seine Verabredungen mit England über eine friedliche Durchdringung Marokkos wertlos waren. Da er aber das Ziel dieser Aktion, nämlich Frankreich eine Lektion zu erteilen und von Englands Seite zu vertreiben, vollauf billigte (schließlich hatte er selbst dazu den ursprünglichen Auftrag erteilt!), ließ sich Wilhelm letztlich doch zur Tanger-Landung am 31. März überreden. Mehr noch: Es war der Kaiser und niemand anderer, der aus einer deutschen Demonstration der Stärke eine offene Provokation Frankreichs machte – und damit die außenpolitische Lage entscheidend verschärfte. Wilhelm II. setzte sich über die dringenden Empfehlungen seines Kanzlers Bülow, während der Stippvisite in Marokko strikte Zurückhaltung gegenüber Frankreich zu üben, hinweg und wies den Sekretär der französischen Gesandtschaft in Tanger, Graf Chérisey, offen zurecht: "Er werde [...] allerhöchst seinen berechtigten Ansprüchen Geltung zu verschaffen wissen und erwarte, daß diese auch von Frankreich gebührend respektiert würden." 7 Als sei diese diplomatische Herausforderung noch nicht genug, verlieh der Kaiser zudem noch demonstrativ einem französischen Hauptmann, der die angetretenen marokkanischen Truppen befehligte, keinen Orden – wohl aber dessen englischem Pendant.8

Kann man angesichts dessen wirklich davon sprechen, "dass der Kaiser auf die zentralen außenpolitischen Entscheidungen in weit geringerem Maße Einfluss nahm, als die Zeitgenossen glaubten und es gemeinhin auch in der Forschung angenommen wird", und dass man Wilhelm II. "insbesondere das Debakel der deutschen Marokko-Politik im Jahre 1905 [...] nicht anlasten" (S. 8) könne? Mommsen rechnet Wilhelm II. hoch an, dass er im weiteren Verlauf der Ersten Marokkokrise ein weiteres Mal zögerte, indem er den Krieg scheute, den einige in Berlin präventiv führen wollten. In der Tat: Trotz seiner häufigen militaristischen Ausfälle und Auftritte scheute der Kaiser einen Krieg nicht nur zu diesem Zeitpunkt, sondern immer wenn es darauf ankam. Mommsen übergeht bei seinem Lob Wilhelms, der, "ungeachtet seiner großsprecherischen Reden, ein besseres Gespür als seine Berater dafür hatte, wo die Grenzen der Anwendbarkeit kriegerischer Gewalt liegen" (S. 114), allerdings, dass der Kaiser im Übrigen aber – gerade 1905 und auch durch diese Reden – vieles dafür tat, sowohl unbewusst als auch bewusst das Risiko eines Krieges zu erhöhen.

Mommsen bezieht die oben zitierten Ausführungen Wilhelms nicht in seine Abhandlung mit ein. Man muss sie aber ernst nehmen, trotz des sprunghaften und auf den ersten Blick häufig widersprüchlichen Charakters kaiserlicher Äußerungen. Denn hinter den sich (gerade in der Zeit des Abschlusses der Entente) mehrfach widersprechenden außenpolitischen Konzepten und Forderungen stand doch eine Konstante, nämlich das Ziel einer deutschen Suprematie über alle anderen Mächte, inklusive und gerade auch über Großbritannien. Freilich war der Kaiser mit diesem Weltmachtstreben nicht allein, diesen Traum hatten vor einem Jahrhundert viele Deutsche in teils unterschiedlichen Varianten. Aber Wilhelm war eben der oberste Entscheidungsträger – sein Traum war politisch-militärischer Auftrag.

Mommsen stellt die berechtigte Frage, "weshalb die deutschen Führungsschichten das 'persönliche Regiment' Wilhelms II. hingenommen haben, obwohl längerfristig kaum zu übersehen war, wie schädlich sich dieses auf die Stellung des Reiches in der Welt auswirkte" (S. 7). Es ist durchaus angebracht auszuloten, "welchen Anteil die preußisch-deutschen Führungsschichten an dem Debakel des 'persönlichen Regimentes' des Monarchen hatten" (S. 8). Selbstverständlich nutzten sie die Aura des Kaisers, um sich unter dessen Schutzmantel eigene Einflusssphären auf- und auszubauen. Diese konnten allerdings niemals so weit gehen, dass sie offen gegen kaiserliche Absichten gerichtet waren. Der Hinweis auf Verantwortung und fatalen Einfluss der wilhelminischen Eliten ist richtig; er kann aber nicht zur Entschuldigung Wilhelms II. herhalten – denn es waren seine (!) Eliten: vom Kaiser ernannt, von seiner Gunst abhängig, von ihm gelegentlich ausgetauscht, in seinem Sinne tätig.

Der Souverän war zwar beeinflussbar, aber nicht Marionette seines Umfelds, sondern häufig genug Inspirator der Politik und zudem Entscheidungsinstanz zwischen rivalisierenden Elitegruppen. Allerdings wurde seine Position, worauf Mommsen zu Recht verweist, in den Jahren seit der Daily-Telegraph-Affäre 1908 und der damit einhergehenden allgemeinen Kritik an Wilhelm II. schwächer; eine Entwicklung, die sich ab dem Kriegsbeginn 1914 noch verstärkte. Im letzten Jahrzehnt seiner Herrschaft war vom "persönlichen Regiment" des Kaisers nicht mehr viel übrig: Parteien, Politiker, Verbände und andere gewannen an Macht. Doch vermochten auch die preußisch-deutschen Eliten nicht, das außenpolitisch isolierte und innenpolitisch unruhige Reich zu stabilisieren; weil sie nicht konnten und weil sie nicht wollten.

Mommsen interpretiert das "persönliche Regiment" Wilhelms II. eher im Sinne einer verdeckten Herrschaft der Hofkamarilla unter dem Deckmantel des Kaisers. Das trifft die Machtbalance aber ebenso wenig wie die vom Monarchen (und übrigens auch von seinen Widersachern) behauptete Alleinherrschaft. Wilhelm II. hatte weder alle noch gar keine Macht, sondern "nur" sehr viel davon. Letztlich ist es müßig, in der Symbiose zwischen Monarch und monarchistischer Elite, die sich gegenseitig brauchten und bedingten, einseitige Schuldzuweisungen vornehmen zu wollen – ebenso wie ein Wilhelminismus (von dem man zu Recht spricht) ohne Wilhelm schlicht nicht denkbar wäre. Mit dem von Norbert Elias entlehnten Konzept des "Königsmechanismus" bietet Röhl einen Deutungs- und Erklärungsansatz für die Machtverflechtungen: Es war der Kaiser, der letztendlich über konkurrierende Gruppierungen und Konzepte innerhalb der preußisch-deutschen Machteliten entschied. Damit bestimmte er den Kurs des Staates und bildete insofern die oberste Instanz, "den Mittelpunkt dieses Systems" 9. Von Alleinschuld allerdings spricht Röhl an keiner Stelle. Mommsen erwähnt den "Königsmechanismus", interpretiert ihn allerdings als "Abhängigkeit der Führungseliten von den selbstherrlichen und nicht selten willkürlichen Personalentscheidungen" (S. 8). Dies ist insofern etwas verkürzend, als es die freimütige Ergebenheit insbesondere des Adels an das Monarchiekonzept und die Politik gestaltende Macht Wilhelms geringer gewichtet.

Beispielsweise kann man den Ausführungen Mommsens zu den Intrigen wider Caprivi durchaus zustimmen. Die Tatsache einer preußisch-reaktionären Kamarilla und ihrer Wühlarbeit gegen Reformen bedeutet jedoch nicht gleich, dass Wilhelm II. "ohne dies selbst zu erkennen gleichsam zur Beute des hochkonservativen Lagers geworden" war (S. 72). Vielmehr jonglierte der Kaiser mit seinen Eliten, pendelte mal eher zum reformerischen Lager und dann wieder zurück zu seiner reaktionären Grundüberzeugung; ihn brauchte wahrlich niemand vom Hass gegen die Sozialdemokratie zu überzeugen. Wilhelm II. war kein Instrument seiner Umgebung, sondern diese hatte sich nach seinen Wünschen und Prägungen auszurichten. Politiker, Höflinge und Militärs konnten versuchen, diese Wünsche und Prägungen zu verstärken oder abzuschwächen, gänzlich ändern konnten sie sie nicht. Immer blieb der Kaiser der letztendliche Entscheidungsträger. Sein neoabsolutistisches Gebaren muss man vielleicht nicht in jedem Fall ernst nehmen, seine reale Machtausübung jedoch schon – zumindest bis zum Jahr 1908. Wilhelm blieb bei seiner Ansicht, dass er als Herrscher auch zu herrschen habe, und handelte entsprechend. Beispiel Flottenpolitik: "In Konteradmiral Alfred von Tirpitz fand Wilhelm II. schließlich den Mann, der bereit war, seine Pläne allen politischen Hindernissen zum Trotz zu verwirklichen" (S. 86). Hier benennt Mommsen deutlich das Abhängigkeits- und Auftragsverhältnis.

Mommsen stellt zu Recht fest, "dass die Persönlichkeit des Monarchen dem Idealbild, das man sich außerhalb des kaiserlichen Palastes von ihm machte, nicht entsprach. Die Sprunghaftigkeit und Impulsivität seines Handelns, die theatralische Art seines öffentlichen Auftretens und die fehlende Stetigkeit seiner Lebensführung machten rationale Politik, gleich welcher Couleur, zu einer Quadratur des Kreises" (S. 45f.). Ist es aber Zufall, dass die Politik des Kaiserreichs, zumal die Außenpolitik der "nervösen Großmacht" (Volker Ullrich), ein fast exakter Spiegel der Persönlichkeit des Monarchen war: sprunghaft, impulsiv, theatralisch, unstet und letztlich irrational? Oder besteht nicht zwischen beidem ein enger kausaler Zusammenhang? Will sagen: Der Charakter der Politik weist ganz zwangsläufig große Ähnlichkeiten mit dem Charakter des Mannes auf, der ihre Grundlinien bestimmte – und das war eben Kaiser Wilhelm II.

Führt die von Mommsen beobachtete "Tendenz, dem Monarchen die unheilvollen Entwicklungen vor allem auf dem Gebiet der Außenpolitik persönlich anzulasten" wirklich zu einem "simplizistische[n] Bild von Wilhelm II. und seiner politischen Rolle" – oder ist sie nicht doch eine adäquate Beschreibung der Entscheidungsabläufe und Zielsetzungen im Kaiserreich? Entschuldigt ihn Mommsen nicht zu sehr, wenn er behauptet, dass Wilhelm II. "die Kette von Fehlentscheidungen in der deutschen Außenpolitik [...] keinesfalls voll mitgetragen hatte: die Burenpolitik mitsamt der Krüger-Depesche, das doppelbödige ... Vorgehen während der Ersten Marokko-Krise, das Debakel der deutsch-russischen Bündnisverhandlungen auf Björko, schließlich die machiavellistische Risikostrategie des Staatssekretärs Kiderlen-Wächter 1911/12" (S. 257)? Ist es richtig, dass "die Führungsschichten, die die Monarchie für ihre politischen und gesellschaftlichen Interessen instrumentalisierten, [...] in weit höherem Maße [als der Kaiser] für die großen Entscheidungen verantwortlich [waren], die zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges führten" (S. 263)?

Es waren und blieben die Kanzler des Kaisers, die letztlich seine (!) Politik betrieben, teils auch betreiben mussten. Durch die Bismarcksche Verfassungsstruktur war vorgegeben, dass der Reichskanzler und die Staatssekretäre allein von der Gunst des Monarchen abhingen, wie auch Mommsen mehrfach betont (vgl. S. 49, 93, 109). Gegen den Souverän konnte im Deutschen Kaiserreich keinesfalls regiert werden; schon gar nicht unter diesem Kaiser, der sich nicht herumschubsen ließ und nicht dem Kanzler das politische Feld überließ, wie dies sein Großvater Wilhelm I. gegenüber Bismarck getan hatte. Mommsen erliegt einer gegenläufigen Tendenz, die Rolle des Monarchen eher herunterzuspielen. Teils erscheint dies berechtigt, teils aber auch nicht. In einigen, nach dem Jahr 1908 angesiedelten Fällen, wie beispielsweise der Zweiten Marokkokrise, an der Wilhelm II. weniger aktiv beteiligt war als gemeinhin angenommen, kann man Mommsens Urteil durchaus folgen. In anderen Fällen schießt er allerdings, wie die Erste Marokkokrise zeigt, über das Ziel hinaus.

Zwar stimmt es, dass Wilhelm II. nicht alles von Anfang an gewusst hat und in einzelnen Punkten nicht immer mit den Entscheidungen seiner Politiker völlig einverstanden war. Die Verantwortung des Kaisers muss aber auf zwei Ebenen angesiedelt werden: derjenigen der direkten politischen Handlungen und derjenigen der politischen Billigung. Es gibt durchaus Fälle, in denen der Kaiser außenpolitische Abläufe nicht aktiv bestimmte oder sogar punktuelle Kritik äußerte. Aber selbst wenn dies der Fall war, so hat er doch weder Bülow wegen der Burenpolitik entlassen noch Kiderlen-Wächter wegen der Zweiten Marokkokrise. Vielmehr trug der Kaiser deren Außenpolitik letztlich mit, weil sie mit seinem grundsätzlichen Ziel einer angestrebten deutschen Suprematie in Europa mit weltweitem Einspruchsrecht übereinstimmte. Und dieses Ziel war es – ungeachtet außenpolitischer Einzelentscheidungen – das letztlich ohne Weltkrieg nicht umsetzbar war. Deshalb ist Wilhelm II. zwar nicht allein, aber eben doch auch – und zwar ganz wesentlich! – gerade für die außenpolitischen Fehler während seiner Regentschaft verantwortlich.

Insofern muss das Urteil über Mommsens Buch zwiespältig ausfallen. Es will keine neuen Quellen erschließen, sondern steht auf breiter Kenntnis der Literatur, bilanziert Einzelthemen des Kaiserreichs gewohnt souverän und ist ausgesprochen gut lesbar. Mommsen zeigt viele richtige und wichtige Facetten der Persönlichkeit und der Politik Wilhelms II. auf. Für ihn steht weiterhin "außer Frage, dass der Kaiser die Hochrüstung des Deutschen Reiches, die schließlich den Ersten Weltkrieg nahezu unvermeidlich machte, insbesondere den Schlachtflottenbau, ganz wesentlich mit zu verantworten hatte" (S. 9), sowie dass sich "das System negativer Führungsauslese" und "der persönliche Herrschaftsstil des Monarchen höchst schädlich auf das politische System und mehr noch auf die politische Kultur in Deutschland" (S. 11) auswirkten. Eine "Sternstunde", wie Johannes Willms in der Süddeutschen Zeitung urteilte, ist das Buch angesichts einiger fragwürdiger Gewichtungen jedoch nicht. Mommsens allgemeine Aussagen über die wilhelminische Gesellschaft, Innen- und Weltpolitik sind treffend, bei der Positionierung des Kaisers in diesem Geflecht sind aber einige Fragezeichen zu setzen. Röhl ist letztlich mit seiner Deutung, in Wilhelm den "eigentlichen Entscheidungsträger im Kaiserreich" vor sich zu haben, der "ganz wesentlich die Fehlentwicklungen der deutschen Politik" zu verantworten hat (S. 7), nicht widerlegt. Der Kaiser war nicht an allem schuld, an vielem aber eben doch.

Anmerkungen:
1 Während Mommsen natürlich bekannt ist, von wem das oft zitierte Wort von der "Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts" stammt, schreibt der Verlag es auf dem Schutzumschlag leider Golo Mann zu.
2 Röhl, John C.G., Wilhelm II. Die Jugend des Kaisers 1859-1888, München 1993; Ders., Wilhelm II. Der Aufbau der persönlichen Monarchie 1888-1900, München 2001.
3 Zu nennen ist neben der Kaiserbiografie vor allem die monumentale Edition von Röhl, John C.G. (Hg.), Philipp Eulenburgs politische Korrespondenz, 3 Bde., Boppard 1976-1983.
4 Zedlitz-Trütschler, Robert Graf von, Zwölf Jahre am deutschen Kaiserhof, Berlin 1923, S. 86f. (Tagebucheintrag vom 3. November 1904).
5 Vgl. ebd., S. 103.
6 Kaiser Wilhelm II. an Bülow, 28. Dezember 1904, in: Große Politik 19/1, Nr. 6146.
7 Schoen an Auswärtiges Amt, 31. März 1905, in: Große Politik, 20/1, Nr. 6589.
8 Vgl. Kühlmann, Richard von, Erinnerungen, Heidelberg 1948, S. 232.
9 Röhl, John C.G., Kaiser, Hof und Staat, Wilhelm II. und die deutsche Politik, München 1995, S. 11. In diesem Sammelband findet sich auch der entsprechende Aufsatz: Der "Königsmechanismus" im Kaiserreich, ebd. S. 116-140, ursprünglich in: Historische Zeitschrift 236 (1983), 539-577.

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