E. Martin: „Ich habe mich nur an das geltende Recht gehalten“

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Titel
„Ich habe mich nur an das geltende Recht gehalten“. Herkunft, Arbeitsweise und Mentalität der Wärter und Vernehmer der Stasi-Untersuchungshaftanstalt Berlin-Hohenschönhausen


Autor(en)
Martin, Elisabeth
Reihe
Andrássy Studien zur Europaforschung 14
Erschienen
Baden-Baden 2014: Nomos Verlag
Anzahl Seiten
465 S.
Preis
€ 84,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Philipp Springer, Berlin

Forschungen zu den hauptamtlichen Mitarbeitern des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) sind rar. Über die Gründe für dieses Phänomen lässt sich nur spekulieren: Liegt es an der Dominanz des Themas „Inoffizielle Mitarbeiter“, das vermeintlich spannender, vor allem aber öffentlichkeitswirksamer erscheint? Oder verschwinden die Hauptamtlichen hinter dem vorherrschenden Bild vom bürokratischen Apparat des MfS, der scheinbar wie ein Räderwerk und somit scheinbar ohne Personal aus Fleisch und Blut funktionierte? Liegt es an der Verschwiegenheit der ehemaligen MfS-Mitarbeiter? Oder findet sich der Grund schlicht darin, dass mit Jens Giesekes wegweisender Studie aus dem Jahr 20001 alles zu den Hauptamtlichen gesagt zu sein scheint? Anders als bei der Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus hat sich jedenfalls im Bereich der DDR-Forschung kein Schwerpunkt gebildet, der sich den zentralen Tätern des Herrschaftssystems widmen würde.

In dieser überschaubaren Forschungslandschaft bemüht sich Elisabeth Martin mit ihrer Dissertation über die Mitarbeiter zweier Diensteinheiten, die im zentralen Untersuchungsgefängnis des MfS in Berlin-Hohenschönhausen tätig waren, neue Akzente zu setzen. Dabei wählt sie mit der Hauptabteilung IX und der Abteilung XIV zwei wichtige, allerdings auch sehr unterschiedliche Diensteinheiten: Die Erstere war für die Vernehmungen von Untersuchungshäftlingen zuständig, die Letztere für den Betrieb der Untersuchungshaftanstalten. In den Mittelpunkt ihrer Analyse rückt Martin die Frage „welche Faktoren und Mechanismen [...] dafür verantwortlich“ waren, dass die Mitarbeiter „die von ihnen verlangten Tätigkeiten widerspruchslos und möglichst motiviert ausführten und den reibungslosen Haft- und Vernehmungsbetrieb [...] 40 Jahre lang garantierten“ (S. 19).

Nach einem einleitenden Kapitel, in dem Entstehung, Funktionen und Strukturentwicklungen der beiden Diensteinheiten überblicksartig dargestellt werden, nähert sich Martin ihrer Fragestellung aus drei Perspektiven. In einem ersten Schritt beschreibt sie „soziologisches Profil und Prägung der Mitarbeiter“ und arbeitet dabei vor allem die deutlichen Unterschiede zwischen den beiden untersuchten Diensteinheiten heraus. So verfügten beispielsweise die Vernehmer seit Mitte der 1960er-Jahre über ein zunehmend höheres Bildungsniveau als die Wärter – eine Erkenntnis, die keinesfalls überrascht. Auch weitere Ergebnisse von Martins Analysen stimmen mit bereits bekannten Phänomenen überein. Dies gilt etwa für die im Fazit des Kapitels getroffene Feststellung, das MfS sei „nicht zu Unrecht“ davon ausgegangen, „dass die familiäre Sozialisation ein zentraler Faktor für die Entstehung politischer Einstellungen“ ist (S. 161). Das Gleiche gilt für die Aussage, die Geheimpolizei habe bei der Rekrutierung „auch die vorherigen Berufe kontrolliert“ (S. 161). Erstaunlich mutet dagegen die Behauptung an, das MfS habe vorwiegend Facharbeiter mit 10.-Klasse-Abschluss rekrutiert, um so „die Ausprägung reflektierenden oder gar selbstkritischen Denkens und Handelns der späteren MfS-Mitarbeiter vorbeugend zu verhindern“ (S. 162).2 Dass Abitur und Studium keineswegs davor bewahren, in Diktaturen aktiv mitzuwirken, dürfte schon aus der Geschichte des Nationalsozialismus hinlänglich bekannt sein.

In einem zweiten Schritt untersucht Martin die „Arbeitsweise und -methoden“ der Wärter und Vernehmer. Dabei stützt sie sich vor allem auf Aussagen ehemaliger Häftlinge und auf dienstliche Richtlinien und Anweisungen. Eine Analyse konkreter Fälle, etwa durch die Betrachtung ausgewählter Vernehmungsprotokolle oder der Arbeit einzelner Mitarbeiter, findet dagegen nicht statt. Detailreich wird der Weg der Häftlinge von der Festnahme über Transport und Einlieferung bis in die Zelle geschildert. Vor allem aber widmet Martin der Überwachungspraxis mit all ihren Schattierungen bis hin zum Bespitzeln durch Zellengenossen breiten Raum und gibt so einen guten Überblick. Gleiches gilt für die Vernehmungspraxis, bei der Martin sich insbesondere dem System des psychischen Drucks widmet.

Schließlich thematisiert die Autorin in dem umfangreichsten Kapitel ihrer Arbeit die „Verhaltenssteuerung, Motive und mentale Prägung“ der hauptamtlichen Mitarbeiter der beiden Diensteinheiten. Dazu analysiert sie die sehr unterschiedlichen Methoden, mit denen das MfS seine Mitarbeiter im Sinne des Sozialismus für ihre Arbeit zu motivieren versuchte. Hier widmet sich die Autorin Maßnahmen der ideologischen Schulung wie Weiterbildungen, Fachschulungen an der Juristischen Hochschule des MfS oder täglichen Vorträgen in den Arbeitskollektiven. Zudem untersucht sie Mittel der „extrinsischen Motivation, sprich positive und negative Sanktionen“ (S. 376), mit denen das MfS das Verhalten der Mitarbeiter steuerte. Privilegien wie Telefonanschlüsse und Ferienheime kommen dabei ebenso zur Sprache wie das vielfältige, durch Orden, Geldprämien und Belobigungen bestimmte Anreizsystem.

Als „erschwerend“ für die „Verhaltenssteuerung“ der Mitarbeiter durch das MfS betrachtet Martin ausgewählte Verhaltensweisen, die sie vor allem anhand der Kaderakten untersucht. Fälle von Disziplinarvergehen und Alkoholmissbrauch nimmt sie dabei ebenso in den Blick wie die offenbar äußerst seltenen Selbstzweifel von hauptamtlichen Mitarbeitern. Auch bei dieser Frage bestätigt Martin allerdings weitgehend die Erkenntnisse der bisherigen Forschung.3 Interessant ist jedoch der von Martin in diesem Zusammenhang geschilderte Fall eines hauptamtlichen Vernehmers (S. 382–385), der 1984 aufgrund seiner Alkoholabhängigkeit ein Entlassungsgesuch stellte und vier Jahre später unter anderem wegen vorsätzlicher Körperverletzung wieder in Hohenschönhausen war – nun allerdings als Untersuchungshäftling. Erst jetzt sah das MfS offenbar politisch-ideologische Gründe für den vorangegangenen Abschied des Mitarbeiters.

Abschließend bemüht sich Martin anhand ihrer Aktenlektüre um Einblicke in die „Lebenswelt außerhalb der Gefängnismauern“. Dabei beschreibt sie die Eingriffe des MfS in das Privatleben der Mitarbeiter, etwa bei der Partnerwahl, bei Ehekonflikten, bei der Kindererziehung oder im Freizeitverhalten. Wie schon in anderen aktuellen Publikationen zu diesem Thema4 zeigt sich der allumfassende Kontrollanspruch des MfS. „Als Angehöriger dieser Institution hat man kein Privatleben im Sinne einer unantastbaren Intimsphäre. Auch das kleinste persönliche Refugium hat, im Zweifelsfalle, transparent zu sein“ (S. 412), zitiert Martin noch einmal den 1988 inhaftierten früheren Vernehmer.

Derartig eindrucksvolle Quellenfunde und Einzelfallschilderungen finden sich in Martins Studie allerdings selten. Stattdessen überfrachtet sie ihr Thema mit allgemeinen, allseits bekannten Aussagen wie derjenigen in ihrem Resümee, dass die Mitarbeiter des MfS „aus systemnahen Familien stammten, individuell sorgfältig ausgesucht und anschließend […] in jungen Jahren sozialisiert und ideologisch laufend geschult und beeinflusst wurden“ (S. 430). Da überrascht es kaum, dass abschließend die Arbeit auch noch als Beitrag zur allgemeinen „Demokratieforschung“ gesehen wird: „Nur wenn wir verstehen, wie Diktaturen und ihre Repressionsapparate funktionieren und ihre Herrschaftsträger denken, können wir […] gegenwärtige Verführer und Verführungen seitens des ‚linken‘, ‚rechten‘ und islamistischen Extremismus entlarven.“ (S. 441)

Darüber hinaus wäre wohl eine methodische Erweiterung sinnvoll gewesen. Insbesondere eine vergleichende Analyse, etwa mit Blick auf die Praxis des allgemeinen Strafvollzugs in der DDR oder aber auf die Arbeit von Wärtern und Vernehmern in der Bundesrepublik hätte hier vermutlich Erhellendes zu Tage gefördert. Auf diese Weise hätte Martin auch einen Beitrag dazu leisten können, die Anschlussfähigkeit der MfS-Forschung an andere geschichtswissenschaftliche Forschungsbereiche unter Beweis zu stellen. Auf der anderen Seite erscheint auch die Quellenauswahl nicht unproblematisch. Offenbar stützt sich die Arbeit vor allem auf eine Dokumentensammlung im Archiv der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen – „fehlende Dokumente wurden im Rahmen dieser Arbeit nachgewiesen und ergänzt“ (S. 29). Eine deutlicher selbstbestimmte Quellenrecherche, die stärkeres Gewicht auf die Suche nach Aussagen zum Arbeitsalltag als auf die Auswertung von Richtlinien, Anweisungen und Schulungsmaterialien gelegt hätte, wäre wünschenswert gewesen.5

Ein empfindliches Manko bei einer Arbeit, die sich auch der Mentalitätsgeschichte zuordnet, ist der Verzicht auf Gespräche mit ehemaligen Hauptamtlichen. Zwar wurden Interviews mit Häftlingen ausgewertet, die in der Gedenkstätte vorliegen, doch können diese allenfalls Hinweise auf Arbeitsabläufe geben. Der Versuch, ehemalige Hauptamtliche zu interviewen, wurde aber von Martin offenbar nicht unternommen. So kommt es, dass die in der Arbeit zitierten Selbstaussagen aus einer sehr überschaubaren Anzahl veröffentlichter Stellungnahmen ehemaliger Mitarbeiter stammen, die zudem nicht selten sogar anderen Diensteinheiten angehörten. Angesichts dieser Quellenbasis überrascht es nicht, dass dabei notgedrungen geradezu exzessiv auf den vielfach publizierten Fall des ehemaligen Vernehmers Uwe Karlstedt zurückgegriffen wird.6

Schließlich verwundert ein offenbar völlig unreflektierter Umgang mit der Nennung von Personennamen: Sämtliche hauptamtlichen Mitarbeiter – auch unterster Dienstränge – werden in der Arbeit ohne Anonymisierung genannt. Dies wäre selbst dann nicht unproblematisch, wenn es um die Beschreibung von Verhörmethoden, Straftaten oder Unrechtshandlungen ginge. Doch Martin zeigt vor allem bei der Darstellung von Disziplinarvergehen, die sie den Kaderakten der betroffenen Mitarbeiter entnommen hat, keine Scheu: Die Weigerung eines Mitarbeiters zum Alkoholentzug wird dabei ebenso namentlich gekennzeichnet wie außereheliche Affären, die Selbstmorddrohung einer Ehefrau, Trunkenheit am Steuer oder die Homosexualität des Bruders eines Mitarbeiters. Eine derartige, vermutlich unbedachte, inhaltlich völlig überflüssige Zurschaustellung von Personen (und zum Teil auch von deren Angehörigen) wirft rechtliche Fragen auf und ist auch erinnerungspolitisch fragwürdig.

Anmerkungen:
1 Jens Gieseke, Die hauptamtlichen Mitarbeiter der Staatssicherheit. Personalstruktur und Lebenswelt 1950–1989/90, Berlin 2000.
2 Nahezu wortgleich findet sich diese Behauptung auch auf S. 125 und S. 418, in ähnlicher Weise auch auf S. 101 – nur ein Beispiel für zahlreiche Redundanzen in der Studie.
3 Vgl. zum Beispiel Jens Gieseke, Abweichendes Verhalten in der totalen Institution. Delinquenz und Disziplinierung der hauptamtlichen MfS-Mitarbeiter in der Ära Honecker, in: Roger Engelmann / Clemens Vollnhals (Hrsg.), Justiz im Dienste der Parteiherrschaft. Rechtspraxis und Staatssicherheit in der DDR, 2. Aufl, Berlin 2000, S. 531–553; Sonja Süß, Politisch mißbraucht? Psychiatrie und Staatssicherheit in der DDR, Berlin 1998, S. 726–731.
4 Vgl. zum Beispiel Ruth Hoffmann, Stasi-Kinder. Aufwachsen im Überwachungsstaat, Berlin 2012; Jenny Krämer / Benedikt Vallendar, Leben hinter Mauern. Arbeitsalltag und Privatleben hauptamtlicher Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR, Essen 2014.
5 Eine Aufstellung über die benutzten Bestände der betreffenden Diensteinheiten fehlt im Anhang der Arbeit.
6 Vgl. Regina Kaiser / Uwe Karlstedt, Zwölf heißt „Ich liebe dich“. Der Stasi-Offizier und die Dissidentin, Köln 2003.

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