Cover
Titel
Zwischen Schuld und Sühne. Evangelische Kirche und Juden in der SBZ und DDR 1945-1990


Autor(en)
Ostmeyer, Irena
Reihe
Studien zu Kirche und Israel 21
Anzahl Seiten
400 S.
Preis
€ 15,20
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Carsten Dippel, Potsdam

Zur Geschichte der Juden in der DDR wurde in den vergangenen Jahren eine Reihe wissenschaftlicher Untersuchungen veröffentlicht. Irena Ostmeyer wendet sich diesem Thema aus einer bisher wenig beachteten Perspektive zu, indem sie speziell nach der Beziehung zwischen der Evangelischen Kirche und Juden in der SBZ/DDR fragt. Sie will mit ihrer Dissertation nicht nur eine Forschungslücke schließen, sondern die Besonderheit der Beziehung zweier Religionen in einem atheistischen Staat - eine spannungsgeladene Dreieckskonstellation - herausstreichen. Ziel ihrer Arbeit ist es zum einen, den innerkirchlichen Prozess der Auseinandersetzung mit dem Judentum zu analysieren, zum anderen der Entwicklung eines christlich-jüdischen Dialogs in der DDR nachzugehen.

Durch die äußeren politischen Rahmenbedingungen bildeten sich im Verhältnis zwischen Evangelischer Kirche und Jüdischen Gemeinden in der SBZ/DDR Besonderheiten heraus, die nur im Kontext der DDR-Geschichte zu verstehen sind. Die Jüdischen Gemeinden in der DDR waren denkbar klein und ihre Mitglieder stark überaltert, 1976 zählten sie gerade noch 728 Angehörige. Juden waren in der Gesellschaft der DDR damit so gut wie nicht präsent. Die SED verstand es immer wieder, sie für ihre Interessen zu instrumentalisieren. Doch die Evangelische Kirche, sich selbst auf einer schwierigen Gratwanderung zwischen Loyalität und kritischer Distanz zum SED-Staat befindend, konnte Autonomieräume wahren, die ihr eine eigene, von der offiziellen SED-Doktrin abweichende Haltung zu Fragen des Judentums ermöglichte. Ihre Einstellung zum Judentum und zu Juden in der DDR war von der Erfahrung der eigenen schuldhaften Verstrickung in die Verbrechen des Nationalsozialismus und der theologischen Reflexion über ihre eigenen religiösen Wurzeln geprägt.

Im ersten Teil ihrer Untersuchung thematisiert Irena Ostmeyer den innerkirchlichen Prozess der Reflexion über das Judentum. Im Mittelpunkt des kirchlichen Verhaltens stand über die gesamte DDR-Zeit hinweg die Frage nach dem Schuldbekenntnis, der Eigenverantwortung für das, was Juden während des Nationalsozialismus angetan worden war. Neben der Auswertung kirchlicher Presseerzeugnisse – Periodika, kirchliche Zeitungen, Zeitschriften und Informationsblätter – untersuchte sie vor allem kirchliche Lehr- und Unterrichtsmaterialien zum Judentum. Gerade der kirchliche Unterricht sowie die Verkündigung seien, so die Autorin, für die Weitergabe von Informationen über die jüdische Religion ein entscheidender Faktor gewesen. Dabei kommt sie in ihrer Analyse zu dem Schluss, dass in der Praxis der Lehre und Verkündigung tradierte problematische Bilder über das Judentum durchaus weiterexistierten, obwohl die kirchenoffiziellen Stellungnahmen längst selbstkritischere Positionen bezogen hatten.

So habe einerseits nur beschränkt ein Interesse an der Vermittlung von Kenntnissen über das Judentum bestanden, andererseits wirkten tief verankerte theologische Vorurteile weiter. Wenn in der theologischen Ausbildung wenige, überwiegend traditionelle, Informationen über die jüdische Religion vermittelt wurden, so verwundere es nicht, dass beispielsweise gerade in der Pfarrerschaft wenig Interesse an Fragen zum Judentum bestand. Demzufolge seien auch, so die Autorin, Predigten überwiegend überkommenen Mustern verhaftet geblieben.

Im Kontrast dazu hebt Irena Ostmeyer Beispiele individuellen Engagements in der Begegnung mit dem Judentum hervor und nimmt u.a. Bezug auf die Pflege verwaister jüdischer Friedhöfe durch die Mitglieder von Jungen Gemeinden. Jüdische Friedhöfe als Zeichen der Versöhnung und Verantwortung zu pflegen, war eines der erklärten Ziele, die in den frühen Nachkriegsverlautbarungen der EKD formuliert worden waren. Dabei verweist Ostmeyer auf die wiederholt anzutreffende Spannung zwischen kirchlichem Engagement, SED-Interesse und Jüdischen Gemeinden. So konnte der mehrfach geplante Bau einer Schnellstraße über den Jüdischen Friedhof in Berlin-Weißensee Mitte der 80er Jahre durch das Einschreiten verschiedener kirchlicher Stellen und Personen verhindert werden, obwohl die Jüdische Gemeinde sich selbst dem SED-Anliegen nicht zu widersetzen vermochte.

Ostmeyer macht an diesem Beispiel deutlich, dass die Kirche aufgrund ihrer weitaus größeren Autonomie, als sie die Jüdischen Gemeinden in der DDR je besaßen, oftmals bessere Einwirkungsmöglichkeiten auf SED-Entscheidungen innehatte und damit nicht zuletzt aus ethischer Verantwortung heraus sich auch für deren Anliegen stark machen konnte.

Im Gedenken an die Pogromnacht vom 9. November 1938 können nach Ansicht der Autorin die unterschiedlichen Phasen im Umgang mit der eigenen Verantwortung am Judenmord sowie die jeweils aktuelle Einstellung gegenüber dem Judentum abgelesen werden. Das Bekennen der eigenen Schuld gestaltete sich allerdings als ein langwieriger Prozess. Als die Kirche 1963 erstmals öffentlich der Pogromnacht gedachte, stand dies ganz unter dem Eindruck neuer antisemitischer Tendenzen in der Bundesrepublik, des Eichmann-Prozesses in Jerusalem sowie einer sich verändernden theologischen Haltung zum Judentum.

In den nachfolgenden Jahren konnte hingegen auch von Seiten der Kirche kaum öffentlichkeitswirksam gedacht werden, da dies von der SED aus politischen Motiven – diese hatte nach den beiden arabisch-israelischen Kriegen von 1967 und 1973 Israel scharf attackiert - unterbunden wurde. Erst 1978, zum 40-jährigen Gedenken, gelang es der Evangelischen Kirche, durch verschiedene Gedenkaktivitäten - wie beispielsweise einem gemeinsamen jüdisch-christlichen Gottesdienst in der Leipziger Thomaskirche - die Erinnerung an die Pogromnacht von 1938 stärker ins öffentliche Bewusstsein zu rücken. In deutlicher Distanz zur offiziellen SED-Doktrin fand man dabei auch den Mut, gegenüber dem Staat Israel eine ausgewogenere Haltung einzunehmen.

Für die eigene, vor allem theologische Reflexion über das Judentum bedeutete das 78er Gedenken ebenso einen Markstein. Deutlicher als zuvor wurde nun die menschliche Schuld von einzelnen Christen und der Kirche an der Shoah bekannt. Allerdings sollten noch weitere zehn Jahre vergehen, bis man 1988 in einem gemeinsamen Wort der EKD und des DDR-Kirchenbundes auch die über Jahrhunderte gewachsene theologische Schuld eingestand. Endlich, so Ostmeyer, befand man selbstkritisch, dass traditioneller kirchlicher Antijudaismus erst den Boden für den letztlich radikalen Antisemitismus bereitete.

Im zweiten Teil ihrer Untersuchung geht Irena Ostmeyer auf Theorie und Praxis des christlich-jüdischen Dialogs in der DDR ein. Wiederholt verweist sie dabei auf die paradoxe Situation, dass auf der einen Seite kirchliches, vor allem individuelles, Interesse an einem Dialog bestand. Auf jüdischer Seite hingegen, so ihre Analyse, fehlte aufgrund der demographischen Probleme vielfach das Interesse und die fachliche Kompetenz - vor allem was die theologischen Implikationen eines solchen Dialogs betraf. In der theologischen Sichtweise dieses christlich-jüdischen Gesprächs hat sich die Evangelische Kirche allmählich vom Gedanken der „Judenmission“ gelöst und zu einem offenen und fairen „Dialog“, der das Gegenüber als gleichberechtigten Partner sieht, gefunden. Durch Aktivitäten der „Aktion Sühnezeichen“, vor allem aber durch verschiedene Arbeitskreise und Gesprächsforen, hat sich allmählich auch eine Praxis des Dialogs entwickelt. Im Gegensatz zur bisherigen Forschung macht Ostmeyer dabei deutlich mehr Aktivitäten - vor allem besser untereinander koordinierte Arbeitskreise – aus.

Die durch eigene Autonomieräume bedingte Sonderstellung der Evangelischen Kirche bot ihr zeitweise auch die Chance, von der offiziellen Staatslinie abweichende Positionen zum Judentum zu beziehen. Dies äußerte sich nicht nur in der unabhängigen Gestaltung offizieller Gedenkformen, sondern wiederholt auch in kritischen Tönen gegenüber der SED-Haltung zum Staat Israel. Und letztlich habe sich, so Irena Ostmeyers überraschendes Fazit, trotz eines weitverbreiteten Desinteresses innerhalb der Kirche und trotz wenig ermutigender SED-Positionen eine Debatte über Fragen zum Judentum entwickeln können. Damit war es wohl vor allem den Initiativen der Evangelischen Kirche und vieler engagierter Christen zu verdanken, dass das Interesse für Juden in der DDR weitaus stärker geweckt und ins öffentliche Bewusstsein gerückt werden konnte, als dies angesichts des staatlich organisierten Antifaschismus vorgesehen war. Die Autorin kommt hier zu einem deutlich positiveren Urteil als die bisherige Forschung.

Irena Ostmeyer hat ihrer quellen- und interviewgestützten Studie einen umfangreichen Dokumententeil angefügt sowie durch einige Zeittafeln die Orientierung zur Geschichte von Kirche und Jüdischen Gemeinden in der DDR erleichtert. Sie geht in ihrer Untersuchung immer wieder deutlich auf Distanz zur bisherigen Forschung, beispielsweise zu den Arbeiten von Michael Wolffsohn und Lothar Mertens. Irritierend wirken zuweilen die häufigen Zitate aus der Sekundärliteratur; ebenso wäre eine stärkere Differenzierung und tiefere Ausleuchtung bestimmter Einzelaspekte wünschenswert gewesen. Eine eher starre Strukturierung, die beispielsweise resümierende Gedanken in Stichpunkten zusammenfasst, Einleitung und abschließendes Resümee denkbar kurz behandelt, geht zum Teil auf Kosten differenzierterer Antworten zum Verhältnis Staat-Kirche-Judentum in der SBZ/DDR. Zum Verständnis der Situation und der Haltungen der Jüdischen Gemeinden in der DDR trägt die Arbeit hingegen viel bei. Parallel bietet sie wichtige Einblicke in die Geschichte der Evangelischen Kirche in der DDR, die bisher aus dieser Perspektive nur allenfalls am Rande betrachtet wurde, und leistet damit einen wichtigen Beitrag zur Kirchengeschichte der SBZ/DDR.

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