J. Hamann: Die Bildung der Geisteswissenschaften

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Titel
Die Bildung der Geisteswissenschaften. Zur Genese einer sozialen Konstruktion zwischen Diskurs und Feld


Autor(en)
Hamann, Julian
Erschienen
Konstanz, München 2014: UVK Verlag
Anzahl Seiten
459 S.
Preis
€ 59,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gunter Scholtz, Geschichte und Theorie der Geisteswissenschaften, Ruhr-Universität Bochum

Der doppeldeutige Titel bezeichnet das Vorhaben: Es soll die geisteswissenschaftliche Bildung im Zusammenhang der historischen Herausbildung der Geisteswissenschaften dargelegt werden. Ist das schon viel, so wird gar nicht nur ihre Genese, sondern ihr Wandel bis zur Gegenwart zum Thema gemacht, und zwar in verschiedenen Kontexten – zweifellos ein ungewöhnliches Dissertationsprojekt.

Julian Hamann hat sich entschieden, die „Geburtsstunde der modernen Geisteswissenschaften“ auf die Zeit um 1800 festzusetzen (S. 21). Es sei eine deutsche Wissenschaftsgruppe, gekennzeichnet durch Akademisierung und einen neuen säkularisierten Bildungsbegriff und aufgewachsen im Kontext von Neuhumanismus und Idealismus. Bis in die Gegenwart – so wird aus der Literatur zitiert – seien diese Wissenschaften durch jenen Beginn geprägt. Diese Kontinuität hat der Verfasser mit seiner Darstellung dann allerdings nicht bestätigt. Denn er vertritt die Auffassung, dass in den 1960er- und 1970er-Jahren das „traditionelle geistesgeschichtlich-hermeneutische Wissenschaftsverständnis in den Geisteswissenschaften wohl endgültig sein Ende“ fand (S. 216). Diskontinuitäten wären schon früher deutlich geworden, wenn z.B. dem Streit um Wilhelm Scherer und Karl Lamprecht Beachtung geschenkt worden wäre – einmal ganz abgesehen von den Einflüssen der politischen Großideologien. Schon weil die Geschichte der entsprechenden Disziplinen seit der Zeit um 1800 starke Divergenzen zeigt, leuchtet es wenig ein, dass unter den Titeln „humanities“ und „sciences humaines“ (S. 18) sowie in der gesamten Aufklärung keine Geisteswissenschaften zu finden sind, zumal berichtet wird, dass man später an die Aufklärung anknüpfte (S. 330). Deshalb ist es sinnvoller, allenfalls von einer „(Neu)Begründung“ der Geisteswissenschaften um 1800 zu sprechen, wie es an einer Stelle heißt (S. 18).

Die Sichtweise der Arbeit basiert auf dem älteren Vorurteil, nach welchem in der Aufklärung die universitären Wissenschaften nur auf den unmittelbaren Nutzen ausgerichtet waren (S. 18, 82f.). Wer einen Blick in die Literatur jener Zeit warf, wird das nicht bestätigen können. Schon die Metaphysik widerlegt das Vorurteil. Natürlich waren die Geisteswissenschaften in diesem „Jahrhundert der Pädagogik“ auch für Bildung und Erziehung zuständig. Laut Diderot war auch die große Enzyklopädie für die „Bildung“ gedacht, wie ja überhaupt „Enzyklopädie“ ebenso wie „humaniora“ ursprünglich pädagogische Begriffe waren. Hamann berichtet aus der Literatur, welch große Bedeutung die ästhetische Bildung für das beginnende 19. Jahrhundert hatte (S. 96). Aber auch das war ein Erbe des 18. Jahrhunderts.1 Die erste Aesthetica erschien bekanntlich 1750. Ohne Rückgang auf die Aufklärung und auf Autoren wie Giambattista Vico und Johann Gottfried Herder lässt sich die Genese der Geisteswissenschaften mit ihrem Bildungsbegriff um 1800 nicht darstellen.

Der Verfasser versucht sein gewaltiges Vorhaben zu bewältigen, indem er vier Phasen aus der Geschichte der Geisteswissenschaften und ihrem Bildungsdiskurs heraushebt: 1793–1821, 1872–1925, 1945–1968 und 1986–2012. Es sind für ihn „Kristallisationspunkte“ – kein sehr glücklicher Ausdruck, da es keine Punkte, sondern längere Zeitstrecken sind und nichts in ihnen kristallin und fest wird, sondern sich starke Veränderungen, ja Umbrüche in ihnen vollziehen. Es sollen in Anlehnung an Michel Foucault jeweils Ordnungen ausgewiesen werden. Aber damit darf man nicht signifikante Differenzen einebnen. Für die zweite Phase wird resümiert, Bildung sei jetzt vor allem wissenschaftlich, und dominant sei noch immer die humanistische Orientierung (S. 190). Max Weber und Werner Jaeger werden nebeneinander als Zeugen zitiert. Aber die Pointe ist doch das Spannungsverhältnis zwischen dem Dritten Humanismus und den Wissenschaften. Jaeger nahm mit seinem Werk Paideia betont Abstand von bloß wissenschaftlicher Forschung, um dem in relativistischem Historismus versinkenden Zeitalter ein Bildungs- und Kulturideal zu vermitteln, was mit Webers Wissenschaftsethos unvereinbar war. Noch aus Hans-Georg Gadamers herablassenden Bemerkungen über Weber hört man die Dissonanz zwischen dem Humanismus und den Wissenschaften heraus.

Der Autor versichert, jene vier „Kristallisationspunkte“ des Bildungsdiskurses „induktiv“ gefunden zu haben (S. 22, 171), und er informiert für alle Phasen in seinem Text und mit eigenen Tafeln genau über die Anzahl der Autoren, der Texte und sogar über die Zahl der Seiten seiner Quellen (S. 375-386). Dadurch entsteht der Eindruck, es sei – vielleicht mit Hilfe der Computerlinguistik – die gesamte Literatur nach dem Bildungsbegriff durchsucht worden und es hätten sich dabei irgendwie jene vier Phasen als besonders wichtig herausgestellt. Aber die historischen Zäsuren stammen zumeist aus der realen Geschichte (S. 127, 159, 261), und das Text-Corpus besteht aus einer Sammlung, dessen Auswahlkriterium im Dunkeln bleibt. Wenn zum geisteswissenschaftlichen Bildungsdiskurs Immanuel Kants Schrift über den Streit der Fakultäten und Wilhelm von Humboldts Abhandlung über die Geschichtsschreibung gehören, warum dann nicht erst recht auch Friedrich Asts programmatische Schrift von 1805 zur Philologie mit ihrem signifikanten ästhetischen Bildungsbegriff, Friedrich Schleiermachers Pädagogik, die auch der Bildung an den Universitäten gilt, Friedrich Schlegels Vorlesungen zur Literaturgeschichte, wo – anders als bei Kant – von Bildung wirklich die Rede ist, usw.?2 Die Vermessung des Bildungsdiskurses steht auf sehr wackeligen Füßen. Die Textbasis führt auch zu Fehleinschätzungen. So wird im Zusammenhang mit der Erwähnung von Friedrich Nietzsche und Jacob Burckhardt Erstaunen darüber geäußert, dass es trotz des großen Einflusses des Historismus „fast hundert Jahre“ gedauert habe, „bis sich die Historie auch als Bildungsobjekt“ durchgesetzt habe (S. 183). Aber das trifft nicht zu, sonst hätte Nietzsche wohl kaum Kritik geübt. Zum Beispiel heißt es 1837 in der Historik von Georg Gottfried Gervinus, die Geschichte sei „wie die Achse aller menschlich moralischen Bildung“, bei Heinrich von Sybel findet sich Ähnliches, und einige Passagen in Gustav Droysens Historik gehören viel eindeutiger zum Bildungsdiskurs als die wissenschaftstheoretischen Abhandlungen von Wilhelm Windelband und Heinrich Rickert (S. 378), in denen es nur um Begriffsbildung geht.

Mit der Einschätzung der Geschichtswissenschaft tut sich Hamann generell schwer. Während sich das 19. Jahrhundert schon selbst das „historische Jahrhundert“ nannte und die Geisteswissenschaften jetzt wesentlich historisch-philologische Wissenschaften wurden, sieht der Autor eine „historistische Häresie“ am Werk, welche die Philosophie entthront habe, und er belegt das mit Leopold von Rankes Abgrenzung von Hegel (S. 87, 90). Aber das ergibt ein schiefes Bild. Zwar ist es richtig, dass die Geschichtswissenschaft der Philosophie den Rang ablief. Aber die Berliner Akademie hielt schon lange vor Rankes Kritik ihre Tore für die spekulative Philosophie geschlossen. Die Akademien mit ihren einschlägigen Großprojekten tauchen in Hamanns Arbeit nirgends auf. Mit Begriffen wie Orthodoxie und Häresie, die er gern benutzt, lässt sich das Verhältnis von Philosophie und Geschichte im 19. Jahrhundert nicht klar darstellen. Sie wurden früh auch eng verknüpft, und eine „Orthodoxie des Idealismus“ (z.B. S. 151) hat es nie gegeben.

Obwohl Hamann jeweils auf die „institutionelle Struktur“ abhebt, erfahren wir nirgends genau, welche Disziplinen zu den Geisteswissenschaften hinzugehörten und welche nicht. Das ist aber ebenso wichtig für die Einschätzung der Diskurse wie die deutliche Unterscheidung zwischen der geisteswissenschaftlichen Bildung und der Bildung in anderen Disziplinen. In einer Tabelle zählen auch Musik, Bildende Kunst und Theologie zu den geisteswissenschaftlichen Fächern (S. 390), aber nur hier. Sonst scheinen Theologie und Jurisprudenz für Hamann keine Geisteswissenschaften zu sein, obwohl sie z.B. für Wilhelm Diltheys und Erich Rothackers Geschichtsschreibung zentral waren und Gadamer an ihnen das Verfahren der Geisteswissenschaften erläuterte. Auch Teile aus Diltheys Werken werden in den „Bildungsdiskurs“ eingereiht, aber es wird nicht gesagt, dass bei Dilthey – wie bei Wilhelm Wundt – zu den Geisteswissenschaften auch alle Sozialwissenschaften sowie zum Teil auch die Psychologie gehörten und wann diese theoretisch und institutionell abgetrennt wurden. Obwohl die Arbeit dem Bildungsbegriff beziehungsweise den „Ausdeutungen des Bildungsbegriffs“ oder auch den „Bildungsbegriffen“ gilt, zeigt der Autor wenig Interesse an der reichen Literatur zu diesem Begriff. Dabei findet man in einer neueren Publikation eigene Kapitel über die geisteswissenschaftliche, die philologische, die historische Bildung usw., die für Hamann hätten hilfreich sein können.3

Der Verfasser versteht seine Darstellung als „historisch informierte Wissenschaftssoziologie“ (S. 26), die er einleitend ausführlich erläutert. Man kann das Verfahren aber auch eine Geschichtsschreibung nennen, welche die erreichten Kenntnisse überwiegend mit den Begriffen Pierre Bourdieus und Foucaults formuliert und interpretiert. Wir lesen allenthalben, dass sich Strukturen öffnen und schließen, und es wird Machterhalt und Machtverlust konstatiert: Die Geisteswissenschaften verlieren ihre einst „souveräne Macht“ und gehen über den „Versuch des Machterhalts“ zum „Versuch der Existenzsicherung“ über (S. 361). Die Arbeit handelt also nicht von der „Bildung“ und „Genese einer sozialen Konstruktion“, sondern von ihrer Rückbildung. Hamann hat als Kontexte jeweils die „Population“, die „institutionelle Struktur“, das „Wissenschaftsverständnis“ und die „Akteurspositionen“ ausführlich darzustellen versucht und eine große Menge an Informationen zusammengetragen (das Literaturverzeichnis hat über 50 Seiten, der Tabellenanhang 27 Seiten). Für die Erklärung der Veränderungen der Geisteswissenschaften wurde dadurch aber nicht viel erreicht, und es tritt auch wenig Neues zutage. Noch für den vierten „Kristallisationspunkt“ wird penibel „rekonstruiert“, dass die Bildung an den Universitäten als „wissenschaftlich“ verstanden wird, was aber schon für die erste Phase galt und niemand anders erwartet hat. Zwar ist es ein Vorteil des Ansatzes, dass der Bildungsdiskurs in seiner relativen Eigenständigkeit gezeigt wird. Aber Text und Kontext bleiben sich weitgehend fremd. Wenn es im Resümee heißt, der Bildungsdiskurs zeige keine „außerordentlich hohe Autonomie von dem Kontext“ (S. 365), fragt man sich, ob sich der Aufwand gelohnt hat.

Anmerkungen:
1 Dimitri Liebsch, Die Geburt der ästhetischen Bildung aus dem Körper der antiken Plastik. Zur Bildungssemantik im ästhetischen Diskurs zwischen 1750 und 1800, Hamburg 2001.
2 Friedrich Ast, Ueber den Geist des Alterthums, und dessen Bedeutung für unser Zeitalter, Landshut 1805; Schleiermachers Pädagogische Schriften. Unter Mitwirkung von Theodor Schulze hrsg. von Erich Weniger. Erster Band: Die Vorlesungen aus dem Jahre 1826. 2. Aufl., Düsseldorf 1966; Friedrich Schleiermacher, Texte zur Pädagogik. Kommentierte Studienausgabe in zwei Bänden, hrsg. von Michael Winkler / Jens Brachmann, Frankfurt am Main 2000; ders., Pädagogik. Die Theorie der Erziehung von 1820/21 in einer Nachschrift, hrsg. von Christiane Ehrhardt / Wolfgang Virmond, Berlin 2008; Friedrich Schlegel, Geschichte der alten und neueren Literatur. Vorlesungen, gehalten zu Wien im Jahre 1812. Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe Band 6, hrsg. von Ernst Behler, Paderborn 1961.
3 Michael Maaser / Gerrit Walther (Hrsg.), Bildung. Ziele und Formen, Traditionen und Systeme, Medien und Akteure. Stuttgart / Weimar 2011; vgl. die Sammelrezension von Rebekka Horlacher in: H-Soz-Kult, 10.09.2012, <http://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-17858> (07.01.2015).