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Titel
Bildungswege zu "1968". Eine Kollektivbiografie des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes


Autor(en)
Wienhaus, Andrea
Reihe
Histoire 63
Anzahl Seiten
310 S.
Preis
€ 29,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christina von Hodenberg, School of History, Queen Mary University of London

Diese Dissertation aus dem Feld der historischen Bildungsforschung hat sich zum Ziel gesetzt, die Träger der westdeutschen Studentenbewegung kollektivbiografisch näher zu beleuchten. Andrea Wienhaus konzentriert sich dazu auf eine Hochburg der Bewegung, nämlich West-Berlin, und wertet die Beitrittsformulare und Studienunterlagen von 181 dem Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) angehörenden Studenten der Freien Universität Berlin aus dem Jahr 1967 aus. Dabei werden einige interessante Ergebnisse zutage gefördert. Insgesamt aber bleibt der Ertrag dieser Studie enttäuschend.

Die 270 Textseiten sind zwar gut geschrieben, aber durch häufige Wiederholungen und themenferne Exkurse aufgebläht. So beginnt die eigentliche Quellenauswertung erst auf Seite 93. Nach einer kenntnisreichen Einführung in den Forschungsstand zu „1968“ und der Reformphase der „langen sechziger Jahre“, die leider die umfangreiche englischsprachige Literatur nicht zur Kenntnis nimmt, folgt ein detailliertes Kapitel zum Gesamtverband des SDS und seinem Berliner Landesverband. Dieser letzteren Gruppe widmet sich dann die „Kollektivbiografie“, wobei es Wienhaus darum geht, „wer die Akteur_innen wirklich waren“ (S. 17), also ihre soziale Herkunft, Bildungskarrieren und typische Sozialisationsverläufe zu erfassen.

Die Analyse beruht auf einem in strenger Abgeschlossenheit für sich betrachteten Sample von 181 Studenten der Freien Universität Berlin, die im Jahr 1967 dem SDS-Landesverband angehörten bzw. beitraten. Diese Personen wurden aufgrund einer im Universitätsarchiv der FU überlieferten Mitgliederliste aus dem Frühsommer 1967 und Beitrittsformularen der zweiten Jahreshälfte 1967 erfasst. In einem zweiten Schritt wurden aus den Immatrikulationsakten der FU die Bewerbungs- und Studienunterlagen erhoben, zu denen auch Formulare mit Angaben zur Person und ausgeschriebene Lebensläufe gehören. Letztere werden als „Ego-Dokumente“ und Selbstdarstellungen von „Leistungsgeschichten“ interpretiert. Nacheinander werden die so erhobenen Daten kapitelweise erörtert: Geburtsjahrgänge, Familienstand, Geschlecht, regionale Herkunft und Mobilität, soziale und familiäre Herkunft, Bildungswege bis zur Hochschulreife und danach sowie Bildungsthemen und Selbstdarstellungen in den Lebensläufen der Probanden.

Neu und hervorhebenswert sind die folgenden Ergebnisse der Studie: Die Mitglieder des SDS waren nicht ganz so elitär-bildungsbürgerlich wie bisher oft angenommen. Neben den Abkömmlingen aus bildungsbürgerlichen Familien stammte auch ein großer Teil (etwa 40 Prozent) aus dem neuen und alten Mittelstand und aus Beamtenfamilien. Dieses Resultat verdichtet die Autorin zu der etwas fragwürdigen These einer „Entbürgerlichung“ der Studentenschaft jener Zeit (S. 145). Zugleich zeigt sie aber, dass der Anteil der Arbeiterkinder nach wie vor extrem niedrig lag (bei 7 Prozent) und dass die SDS-Mitglieder sich in ihren selbst verfassten Lebensläufen oft auf ein bürgerliches Bildungsverständnis bezogen.

Zudem geht aus Wienhaus’ Sample hervor, dass etwa ein Viertel der untersuchten Aktivisten weiblich war. Die „68er“-Bewegung sollte daher weniger ausschließlich als bisher aus männlicher Perspektive betrachtet werden, betont die Autorin. Sie fragt nach „der Berechtigung der insgesamt männerzentrierten Darstellung von SDS und Studentenbewegung in der Forschung“ (S. 105). Mit Bezug auf die Frauen im SDS und die diagnostizierte „Entbürgerlichung“ kritisiert sie die Gleichsetzung der Protestbewegung mit einem Vater-Sohn-Konflikt in wohlhabenden gutbürgerlichen Häusern, die in Hans-Ulrich Wehlers „Deutscher Gesellschaftsgeschichte“, aber auch in Jürgen Habermas’ und Max Horkheimers zeitgenössischen Schriften oft im Vordergrund stehe. Dass neuere Darstellungen bereits ein wesentlich differenzierteres Bild der „68er“ zeichnen, bleibt außen vor.

Die weiteren Ergebnisse der Dissertation sind wenig überraschend. Weit überwiegend wurden als Studienfächer Soziologie, Politologie und die Geisteswissenschaften gewählt und nach „recht langen“ Studienzeiten von durchschnittlich 15 Semestern mit „mäßigem“ Erfolg abgeschlossen, wobei sich die SDS-Gruppe nicht wesentlich von anderen Studenten der Jahre um 1967 unterschied (S. 209). Über ein Fünftel der SDS-Mitglieder war vaterlos aufgewachsen, und viele hatten im Krieg erzwungene Mobilität und Flucht erlebt – ganz wie dies bei einer in den 1930er- und frühen 1940er-Jahren geborenen Kohorte zu erwarten ist. Die Studenten im SDS kamen aus allen Regionen des ehemaligen Deutschen Reiches und waren überwiegend urban sozialisiert; auch letzteres ist angesichts des weitgehenden Fehlens von Arbeiter- und Bauerkindern nicht erstaunlich.

Die Auswertung der Quellen krankt leider an erheblichen Problemen. Das Sample ist keineswegs repräsentativ für „die 68er“, „den SDS“ oder selbst den Berliner SDS-Landesverband. Denn erstens liegt die Momentaufnahme aus dem Jahr 1967 zeitlich etwas zu früh für die wichtigste Phase der Studentenbewegung, und wir wissen aus den Immatrikulationsakten zu wenig über die Tätigkeit der Akteure während der Proteste und ihre darauf folgenden Karrieren. Zweitens fragt man sich, warum aus der SDS-Mitgliederliste nur die (141) Studenten der FU, nicht aber die (102 zusätzlichen) Studenten anderer Berliner Universitäten herausgegriffen wurden. Und waren manche der hier verzeichneten SDS-Mitglieder gerade der älteren Jahrgänge nicht nur „Karteileichen“? Warum wurden keine zusätzlichen Materialien zu den Aktivisten im Sample hinzugezogen, über die Studienakten der FU hinaus? Welche Personen im Sample traten öffentlich als Träger von Protesten in Erscheinung, welche nicht?

Hätte das Sample aus den Mitglieds- und Immatrikulationsakten als Ausgangsbasis weiterer Recherchen gedient, hätten viele der hier aufgeworfenen Forschungsfragen überzeugender geklärt werden können. Aber die Verfasserin unterlässt es, ihre Quellen und die untersuchten Personen durch anderweitige Überlieferungen zu ergänzen oder abzugleichen. Dies ist umso mehr zu beklagen, als Wienhaus durch die Anonymisierungsauflagen des Archivs an wörtlichen Quellenzitaten und detaillierten Einzelfallschilderungen gehindert ist (S. 60). Dadurch gerät insbesondere das Kapitel über die „Konstruktionen eines akademischen Selbst“ aus den Bewerbungs-Lebensläufen etwas blutleer.

Die Autorin geht aber auch die quantitative Auswertung ihrer Daten mit völlig unzureichenden Mitteln an. Langatmig werden Einzelmerkmale und -fälle aneinandergereiht, ohne je Merkmale statistisch miteinander zu verbinden. Die verwendeten statistischen Mittel beschränken sich auf die Errechnung des Durchschnitts und manchmal die Angabe modaler Häufungen. Mit Kreuztabellen, Streuungsmaßen und grafischen Darstellungen wird überhaupt nicht gearbeitet. Dadurch bleibt es bei oft nichtssagenden Ergebnissen. Deutlich wird dies etwa bei der Auswertung der Geburtsjahrgänge, die von 1927 bis 1949 reichen; hier hätten dringend Streuungsmaße herangezogen werden müssen. Auch hätten beispielsweise die Merkmale Geschlecht und soziale Herkunft, oder Geschlecht und Geburtsjahrgang, miteinander verknüpft werden müssen.

Trotz der Blindstellen der vorliegenden Quellen und des unzureichenden Methodenspektrums wagt Andrea Wienhaus sich abschließend an weitreichende Thesen – etwa, dass die Akteure des Protests keine Wohlstandskinder gewesen seien (S. 221) und dass sie eher einer „Generation der Kriegskinder“ als einer „68er-Generation“ angehört hätten. Ohne nähere Belege konstatiert die Autorin auch, das Schulsystem sei ein wesentlicher Faktor für die studentische Protestbewegung gewesen (S. 269). Solche Schlüsse sind mit Vorsicht zu genießen, denn sie basieren auf einer brüchigen Quellengrundlage und deren methodisch unzulänglicher Auswertung. Eine echte „Kollektivbiografie des SDS“ bleibt also weiterhin ein Desiderat der Forschung.