Cover
Titel
Kandinsky als Pädagoge.


Autor(en)
Graeff, Alexander
Erschienen
Herzogenrath bei Aachen 2013: Shaker Verlag
Anzahl Seiten
328 S.
Preis
€ 34,00
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Kerrin Klinger, Friedrich-Schiller-Universität Jena / Humboldt-Universität zu Berlin

Die heutige Bekanntheit des russischstämmigen Malers Wassily Kandinsky (1866–1944) beruht nicht zuletzt auf seiner Nähe zum Bauhaus, wo er zwischen 1922 und 1933 lehrte. Auch Graeff konzentriert sich in seiner Darstellung auf diese Phase im Leben Kandinskys. Im Fokus seiner Analyse steht jedoch dessen schriftstellerisches Werk; das künstlerische Schaffen klammert Graeff dagegen weitgehend aus. Er legt seine Untersuchung als eine erziehungswissenschaftliche Arbeit an, bei der es ihm in erster Linie um das pädagogische Denken Kandinskys auf theoretischer Ebene gehe, betont Graeff. Bislang sei nur Kandinskys praktische Lehrtätigkeit am Bauhaus untersucht worden. Damit grenzt er seine Untersuchung explizit von kunstwissenschaftlichen Diskursen zu Kandinsky ab.

Ausgangspunkt für die Studie, mit der Graeff im Fachbereich Erziehungswissenschaften an der Humboldt-Universität in Berlin promoviert wurde, sind die folgenden Hypothesen: Erstens, Kandinsky ist Pädagoge, er rezipiert zweitens die zeitgenössischen Diskurse zur Reformpädagogik, wobei drittens „okkult-esoterische Anschauungen“ integrale Bestandteile sind. Graeff stützt sich für seine Untersuchung im Wesentlichen auf Quellen aus dem Bauhaus-Archiv in Berlin sowie auf edierte Texte Kandinskys, vor allem aus dem Nachlass. Diese Schriftquellen wertet er hermeneutisch aus und analysiert zentrale Begriffe und Motive, die er als „Kandinskys subjektive Sinnkonstruktionen“ (S. 33) begreift und als Kristallisationspunkte von Kandinskys Bildungsvorstellungen betrachtet.

Graeff eröffnet mit der Kontextualisierung von Kandinskys pädagogischen Äußerungen ein Potpourri von weltanschaulichen Strömungen und Ideen in der Zeit der Weimarer Republik. Im ersten inhaltlichen Hauptkapitel „Das Pädagogische bei Kandinsky“ erläutert Graeff Kandinskys Schlüsselbegriffe, die weniger einen pädagogischen als philosophisch/esoterischen Anstrich haben. Entlang von Zitaten Kandinskys und anderer Zeitgenossen spannt Graeff einen Bogen von der idealistischen Philosophie Schlegels und Hegels, über die Darwinrezeption der Monisten bis zur französischen Lebensphilosophie Bergsons. Kandinskys Bildungsgedanken rückt er in die Nähe Humboldts: „Kandinsky betrachtet Bildung wie Humboldt als individuellen, lebenslangen Wachstumsprozess.“ (S. 104). Auch einen volksaufklärerischen Anspruch konstatiert Graeff für Kandinskys Pädagogik, die er am Bauhaus realisiert habe.

Im zweiten Hauptkapitel „Kontextualisierung des Pädagogischen“ verortet Graeff Kandinskys Überzeugungen detailreich in den zeittypischen Strömungen von Esoterik, Okkultismus und Spiritualismus, aber auch in der Kunsttheorie, der Lebensreformbewegung und Reformpädagogik. Kandinsky wird abschließend als ein Lehrer charakterisiert, der sich seelsorgerisch um die „innere Einsicht“ (S. 250) seiner Schüler bemüht habe.

In seinem Fazit kommt Graeff auf Klaus Mollenhauers Konzept der ästhetischen Bildung zurück, ein Ansatz, den er eingangs als richtungsweisend für seine Studie angeführt hatte: „Kunst und Ästhetik verweisen auf einen von pädagogischen Trends unabhängigen Modus des Weltzugangs sich bildender Menschen, und sind somit zentrale Themen der Pädagogik, insbesondere der Bildungstheorie.“ (S. 277) Graeff geht also von der ästhetischen Bildung als ganzheitlicher, emotionaler wie rationaler, Bildung aus. Es gehe in diesem Zusammenhang um eine „ästhetische Alphabetisierung“, so Mollenhauers Formulierung, durch Kunstrezeption und Kunstproduktion. Im Grunde wird mittels der historischen Untersuchung der Nutzen ästhetischer Bildung – zur Weltorientierung und nicht zur bloßen Entspannung – mit Kandinsky Überlegungen begründet. Kunst fungiert für Graeff wie für Kandinsky als Medium der Selbst- und Welterkenntnis.

Indem er komplexe Deutungszusammenhänge aufzeigt, zielt Graeff auf Grundfragen: „Als allgemeines Plädoyer dieser Arbeit kann auch hervorgehoben werden, dass keine Pädagogik – theoretisch wie praktisch – unabhängig von den Bildern betrachtet werden sollte, die sich die Subjekte von sich selbst und der Welt machen.“ (S. 281) Kandinskys bildungstheoretische Grundidee ziele, so Graeff, auf einen ‚neuen‘ Menschen im Modell des „Übermenschen“ im Sinne eines zu erstrebenden Ideals (besonders S. 265f.). Seine Motivation als Lehrer sei sowohl aus einer kulturkritischen Grundhaltung als auch der Überzeugung erwachsen, dass der Mensch zu einem besseren erzogen werden könne. Für Kandinsky vollziehe sich diese Erziehung in der schöpferischen Auseinandersetzung mit Kunst. Grundsätzlich stellt Graeff heraus, dass sich Kandinsky mit der Erziehung Erwachsener auseinandergesetzt und er Begriffe wie ‚Kind‘ oder ‚Jugend‘ eher metaphorisch verwendet habe (S. 242ff.).

Kandinsky hat sich in seinen schriftlichen Äußerungen selbst als Pädagoge bezeichnet. Graeff nutzt dieses als ‚Selbstbiographie‘ seit Diesterweg bekannte Sujet zur Darstellung pädagogischer Überzeugungen kaum1. Auch Ansätze zu einer pädagogischen Biographieforschung, wie sie Sarah Paschelke erst jüngst im Überblick vorstellte2, greift Graeff nicht auf. Biographie und Pädagogik werden hier nicht systematisch aufeinander bezogen. Wünschenswert wären überdies eine stärkere historische Einbindung und eine größere quellenkritische Distanz in der Darstellung gewesen.

Graeff erweist sich aber als ein detailreich informierter und ambitionierter Autor. Er nutzt Kandinskys Selbstbeschreibung als Ausgangspunkt, um verschiedene zeithistorische Denkansätze zu verknüpfen. Inwiefern die Nähe zu Titeln wie Nietzsches „Schopenhauer als Erzieher“3 oder Langbehns „Rembrandt als Erzieher“4 beabsichtigt ist, lässt er jedoch offen. In seiner Konzentration auf Kandinskys Texte gelingt es Graeff, ein Netz vielschichtiger weltanschaulicher Bezüge aufzuzeigen. Auf der inhaltlichen Ebene kann somit an der Person Kandinskys die Wirkungs- bzw. Rezeptionsgeschichte der Reformpädagogik über die schulische Hemisphäre hinaus exemplarisch nachgezeichnet werden. Mit seiner interdisziplinären Herangehensweise breitet Graeff in einer historischen Momentaufnahme das ideengeschichtliche Netz aus, in das Kandinskys pädagogische Überzeugungen und Praktiken eingebunden sind.

Anmerkungen:
1 Christina Thor, „Selbstbiographien“ im Entstehungsprozess der modernen Schule Friedrich Adolph Wilhelm Diesterwegs Sammlung „Das pädagogische Deutschland der Gegenwart“ Selbstbiographien im Entstehungsprozess der modernen Schule, Hamburg 2014, Kovač, S. 11.
2 Sarah Paschelke, Biographie als Gegenstand von pädagogischer Forschung und Arbeit Möglichkeiten einer konstruktiven pädagogischen Biographiearbeit, Bad Heilbrunn 2013, Klinkhardt, S. 22.
3 Friedrich Nietzsche, Unzeitgemässe Betrachtungen. Stück 3. Schopenhauer als Erzieher, Schloss-Chemnitz 1874.
4 Julius Langbehn, Rembrandt als Erzieher, Leipzig 1890.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
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