Titel
Freiheit und Vernunft in der unversöhnten Moderne. Max Webers kritischer Dezisionismus als Herausforderung des politischen Liberalismus


Autor(en)
Schwaabe, Christian
Erschienen
München 2002: Wilhelm Fink Verlag
Anzahl Seiten
371 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Michaela Rehm, Geschwister-Scholl-Institut fuer Politische Wissenschaft, Universität München

Max Weber hat der Moderne viele Stichwörter zu ihrer eigenen Ortsbestimmung geliefert. Er gehört zu den herausragenden geistigen Gestalten und großen politischen Denkern des 20. Jahrhunderts, der von mehr als einer Disziplin als einer ihrer Gründerväter beansprucht wird, so in den Kulturwissenschaften oder der politischen Soziologie. Es gibt eine Fülle an Literatur zu Weber. Und doch herrschte bislang ein seltsamer Mangel in dieser breiten Auseinandersetzung mit Webers Werk vor: Wer sich für Weber aus Sicht der praktischen bzw. politischen Philosophie interessierte, dem stand keine systematische Auseinandersetzung mit diesen Aspekten seines Denkens zur Verfügung, die über die verbreitete Fokussierung auf die Herrschaftstypologie, die Verantwortungsethik oder Webers Äußerungen zur deutschen Politik entscheidend hinausginge. Wohl gibt es u.a. bei Mommsen, Tenbruck, Peukert, Schluchter und Hennis, nicht zu vergessen den frühen Henrich, bedeutsame Studien, die v.a. für Weber-Kenner unverzichtbar sind und bleiben. Doch selbst in diesen Studien wird beim Leser letztlich vorausgesetzt, die Grundlagen des Weberschen Denkens und seiner philosophischen Diagnose der Moderne irgendwie (und recht mühsam) selbständig erarbeitet zu haben. Das hat endlich auch damit zu tun, daß seitens der Philosophie solch systematische Vorarbeit wohl v.a. deshalb fehlte, weil Weber mit seinem weitschweifenden Interesse keiner Disziplin verbindlich zuzuordnen ist, jedenfalls nicht als Klassiker der (praktischen) Philosophie gelten kann.

Schwaabes Buch verspricht eine ebensolche Einführung in das politische Denken Max Webers zu bieten, „die zugleich als Analyse des Politischen in der Moderne gelesen werden kann“ – und löst dieses Versprechen auf eindrucksvolle Weise ein. Zunächst aber ist das Buch stilistisch zu loben: es ist einfach schön zu lesen, sprachlich elegant wie auch gedanklich klar. Das bereitet nicht nur Lesevergnügen, sondern kommt auch dem Verständnis der nicht leichten Materie zugute. Das Buch unterteilt sich in drei große Abschnitte. Teil A behandelt „Die rationalistische Moderne und die Grenzen der Vernunft“, und umfaßt zum einen das erkenntnis- und wissenschaftstheoretische Fundament des Weberschen Denkens, insbesondere mit Blick auf die Folgen für die praktische Philosophie, zum anderen das, was man Webers Diagnose der Moderne nennen könnte. In Teil B wird kritisch rekonstruiert, welche Folgen dies bei Weber für die Frage nach der „Freiheit des Handelns in der unversöhnten Moderne“ hat, zum einen bezüglich der ethischen Orientierung des Einzelnen, zum anderen und vor allem bezüglich dessen, was bei Weber als Begriff und Wesen des Politischen erscheint. Teil C baut auf den ersten beiden Teilen auf und fragt, – kritisch mit wie auch gegen Weber – wie sich das schwierige Verhältnis von Vernunft und Freiheit in eben dieser Weberschen Moderne gestaltet, insbesondere inwieweit der politische Liberalismus Webers Einsichten zu berücksichtigen hat, wo er aber auch über Weber hinausgehen bzw. ihn ergänzen muß, um das Ziel politischer Freiheit verwirklichen zu können.

Webers Diagnose einer „unversöhnten“ Moderne wird im ersten Teil v.a. mit Blick auf ihre Konsequenzen für die praktische Philosophie rekonstruiert. Die eng gezogenen Grenzen des modernen Vernunftbegriffs lassen jenen Polytheismus der Werte sichtbar werden, der das Verhältnis von Freiheit und Vernunft so prekär und zu einer zentralen Herausforderung der Moderne macht. Schwaabe stellt zunächst klar, daß Weber hier nicht weniger als das „Ende der praktischen Philosophie“ in ihrer klassischen Gestalt postuliert, daß diese Moderne – gegen alle Hoffnungen und Relativierungen, auch gegen alle letztlich hilflose moralische Besorgnis – in ihrem Kern unversöhnt ist und bleiben muß. Dies wird insbesondere in Auseinandersetzung mit der praktischen Philosophie Kants geleistet: eine, vielleicht die zentrale Unklarheit in Webers Absage an die Hoffnungen der Aufklärung. Sehr gelungen ist u.a. auch die Auseinandersetzung mit dem Logischen Empirismus als einem Weber sehr nahen Wissenschaftsverständnis, v.a. aber die Klärung des Verhältnisses zu Nietzsche. Hier betont Schwaabe, um wie viel näher Weber Nietzsche war, als es manch „wohlmeinender“ Weberianer manchmal sehen möchte. Die durchgängig ambivalente Position Webers wird dann an jenem „Nebeneinander von Positivismus und Existentialismus“ herausgearbeitet, die laut Schwaabe sowohl Signum des Weberschen Denkens wie auch der von diesem „auf den Begriff gebrachten“ Moderne ist. Abgerundet wird dieser erste Teil mit einer Würdigung der bedeutendsten Kritiker Max Webers, die in der einen oder anderen Weise „Einsprüche gegen die ‚Zerstörung der Vernunft’“ erhoben haben.

Man kann gerade diesem ersten Teil gewisse Längen vorwerfen; andererseits gelingt es Schwaabe gerade so, eine wirklich fundierte Einführung in Webers Denken zu geben und zu verdeutlichen, daß letztlich alle moralphilosophischen Probleme nach Weber auf dem Boden der von ihm analysierten Problematik stehen. So auch kann Schwaabe am Ende des ersten Teils einen sehr interessanten Blick auf den „philosophischen Diskurs der Moderne“ (Habermas) werfen: nicht in Hegel (so Habermas) oder in Kant (Schnädelbach) kommt das moderne Bewußtsein zu seinem Ausdruck, sondern – auf diesen aufbauend – in Webers tragisch-ambivalenten Denken, das den Kantischen Kritizismus mit der ernüchterten Einsicht in die Unmöglichkeit einer Versöhnung der modernen „Entzweiungen“ verbindet.

Wie prekär dieses moderne Selbstverständnis für die menschliche Praxis ist, wird im anschließenden zweiten Teil deutlich gemacht. Weber hat sich mit seinem erkenntnistheoretischen Fundament und seiner Nähe zu Nietzsche das Problem eingehandelt, den durchaus bejahten „Irrationalismus“ und Dezisionismus zu bändigen und vernünftiger Kritik zugänglich zu halten. Weber geht es um Mündigkeit und Freiheit des Individuums, wie auch um eine Politik, die diese Freiheit gegen das „Gehäuse der Hörigkeit“ verteidigen könnte. Im besonderen ist es Weber um die Rettung des genuin Politischen in einer von Versteinerung bedrohten Moderne zu tun. Ergebnis ist ein liberaler bzw. „kritischer Dezisionismus“, der keineswegs ohne Widersprüchlichkeiten durchzuhalten ist – dessen Widersprüche und Ambivalenzen freilich nicht nur Weber betreffen, sondern letztlich als Grundzug moderner Politik, ja der conditio humana in der Moderne zu betrachten sind. „Kontingenz und Dezision“ werden als Grundlagen und Grundproblem moderner Politik verdeutlicht, und zwar gerade auch in scheinbar ganz „undämonischen“ Politikfeldern. Daß Weber vor diesem Hintergrund zwar als liberaler politischer Denken betrachtet werden muß, daß er seinen Begriff moderner Freiheit selbst aber nicht – etwa unter Rückgriff auf den Typus der „wertrational fundierten legalen Herrschaft“ – entschieden zu einem genuin politischen Liberalismus ausgebaut hat, wird zum Abschluß von Teil B problematisiert und bietet zugleich den Anknüpfungspunkt für den letzten Teil des Buches.

Schwaabe zeigt in diesem Teil C in Auseinandersetzung u.a. mit Habermas, Schluchter, Rawls und Rorty auf, daß auch der politische Liberalismus in diesen Problemen noch da verfangen bleibt, wo er Weber zu recht ergänzen will, ihn aber nie wirklich überwinden kann. Dazu wird zunächst geklärt, über welche Möglichkeiten Webers Form sozialphilosophischer Kritik überhaupt noch verfügt, insbesondere: wie seine „Bestimmtheit im Negativen“ im Sinne des politischen Freiheitszieles fruchtbar gemacht werden kann, aber auch auf welchen z.T. problematischen Voraussetzungen sie beruht. Schwaabe arbeit heraus, daß Webers Ethik verantworteter Freiheit auf Kompetenzen und Erfahrungshorizonte angewiesen bleibt, die Weber mit seinem erkenntnistheoretischen Skeptizismus und den daraus gezogenen Konsequenzen (Teil A) eigentlich in Frage gestellt hat. Zur besonderen Herausforderung wird dabei, so Schwaabe, daß „der bloße Appellcharakter der Vernunft“ den vernünftigen und redlichen Kritizismus Webers auszuhöhlen drohe. Der politische Liberalismus also – so folgert Schwaabe – ist auf „regulative Ideen der Verständigungsbereitschaft“ angewiesen, sofern der Polytheismus liberal – und also durchaus in Webers Sinne – gehegt werden soll, wenn im besonderen verhindert werden soll, daß der kritische, redliche Dezisionismus in einen bellizistischen umschlägt. Dieser Teil des Buches ist vor allem deshalb so stark, weil er in erster Linie einige grundlegende Probleme des politischen Liberalismus diskutiert und zentrale Fragen aufwirft, aber bewußt darauf verzichtet, scheinbar eindeutige Antworten zu geben. Nahe an Weber, auch mit erkennbarer Sympathie, führt Schwaabe in die Gedankenwelt Webers wie auch in die daraus sich ergebenden Probleme ein; am Ende aber findet sich der Leser nicht auf eine, z.B. Webers Position gleichsam eingeschworen, sondern wird im letzten Kapitel auf „Anknüpfungspunkte praktischer Philosophie“ verwiesen, die explizit anregen, über Weber hinaus zu denken. Entkommen aber kann man, so Schwaabe, der Weberschen Moderne und ihren Konsequenzen schwerlich.

Auch deshalb lohnt eine gründliche Beschäftigung mit Weber selbst heute noch, da manche, wie z.B. Schöllgen, ihn bereits zum alten Eisen soziologischer „Klassiker“ legen wollen. Mit Schwaabes Buch ist eine Grundlage solcher Beschäftigung bereitgestellt, die sich nicht zuletzt dadurch empfiehlt, daß sie alle Widersprüchlichkeiten des Weberschen Denkens kritisch aufzeigt und diskutiert, Weber also weder vorschnell verwirft noch unangemessen glättet. Am Ende muß und kann man seine eigenen Antworten auf Webers Fragen durchdenken und suchen – und gerade das hat der Aufklärer Weber wohl auch immer gewollt.

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