G. Dietze u.a. (Hrsg.): Metropolenzauber

Cover
Titel
Metropolenzauber. Sexuelle Moderne und urbaner Wahn


Herausgeber
Dietze, Gabriele; Dornhof, Dorothea
Reihe
Kulturen des Wahnsinns (1870–1930) 2
Erschienen
Anzahl Seiten
390 S.
Preis
€ 39,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Edward Dickinson, Department of History, University of California at Davis

Dieser facettenreiche Band umfasst 15 Aufsätze, die Aspekte der Schnittstelle zwischen Stadtgeschichte und der Geschichte der Sexualität ausloten. Damit verbindet er (wenigstens) zwei rasant wachsende historische Forschungsfelder. Sein großer Vorteil ist dabei das breite Spektrum an Themen, die behandelt werden – so beispielsweise Unterhaltungskultur, Literatur, Pornographie, Film, Shopping, Psychoanalyse, Skandalprozesse, Sexualwissenschaft, Wahnsinn, Architektur und Theater. Im Ganzen liegt der geographische Schwerpunkt des Bandes auf Berlin (wobei Wien, Madrid, München, Paris, New York unter anderem auch thematisiert werden); inhaltlich betonen die Beiträge vor allem die Ambivalenz des „Metropolenzaubers“. Auf der einen Seite finden sich Essays, die die sexuelle, künstlerische und kulturelle Avantgarde, die moderne städtische Massenkultur, und/oder kreative, eigensinnige, und ausgeflippte Typen behandeln; diese verkörpern eher die subversiven und kreativen Potenziale der „metroplitan modernity“. Auf der anderen Seite erkunden Essays die Gegenreaktion; hier werden eher administrative, regulative, anti-moderne Projekte, Ambitionen, und Denkmuster aufgearbeitet. Insgesamt gesehen überwiegt das Interesse an der „Faszinationskraft“ der großen Stadt mit einer „Zuspitzung auf Normsprengendes, Deviantes und Verrücktes“ (S. 7) statt auf Formen der „Zivilisationskritik“. Thematisiert wird vor allem die Moderne der Pluralisierung, Individualisierung, der Subversion von Traditionen und Macht, sowie deren Regeln und Grenzen – die Stadt erscheint als Labor dieser subversiven Moderne. Die entgegengesetzten Bemühungen, diesen Wahnsinn der großen Stadt in den Griff zu bekommen, ihn zu kontrollieren, zu klassifizieren, zu pathologisieren, zu heilen oder an den Pranger zu stellen, erscheinen vor allem als reaktiv und daher sekundär.

Im ersten Beitrag analysiert Rainer Herrn die Politik des Raumes in Magnus Hirschfelds Institut für Sexualwissenschaft: etwa die symbolische Funktion des Hauses selbst ebenso wie die seiner Lage am Rande des Tiergartens (als wichtigem Knotenpunkt der illegitimen Sexualkultur Berlins). Der Schwerpunkt des Essays liegt aber auf der Analyse radikal auseinandergehender Wahrnehmungen seiner Innenausstattung, die Herrn als Symptom eines Konflikts um „konkurrierende Alleinvertretungsansprüche“ (S. 52) innerhalb des neuen Fachs Sexualwissenschaft interpretiert. Hirschfeld brachte dabei sehr geschickt, aber nicht mit vollkommenem Erfolg, verschiedene symbolische Ressourcen zusammen, um sein Unternehmen „respectable“ erscheinen zu lassen.

Tobias Becker wendet sich in seinem Beitrag gegen die zeitgenössische Kritik der Moralisten an den Varietés in Berlin, Paris und London, die diese als kulturell wertlose und sexualbeladene Produkte der Überreizung der Nerven in der Großstadt und als Prostitutionsmärkte verurteilten und als Ausdruck der „Verbindung zwischen Großstadtleben, Sexualität, Körperlichkeit und Unterhaltung“ (S. 61) deuteten. Er argumentiert, dass die „Realität (…) komplizierter gewesen sein“ dürfte (S. 64): Realiter wurden von den Varietés konservative Wertungen der Sexualität als „an sich schlecht“ (S. 64) oder obszön sowie die „rigiden Geschlechtervorstellungen“ (S. 66) in Frage gestellt. Die „leibbejahende Körperlichkeit“ des Varietés war eine „Gegenbewegung zur Leibfeindlichkeit des bürgerlichen Theaters und der damit einhergehende Disziplinierung von Bühne und Publikum“ (S. 72). Mit seinem gemischten Publikum und Promenoirs machte das Varieté außerdem eben „Ernst mit der Demokratie“ (S. 73). Allerdings gibt Becker auch (aber eher beiläufig) zu, dass in den Varietés „bestehende Normen und Konventionen“ auch affirmiert wurden. Die Darstellung der Sexualität und des Körpers war also doppelschneidig: „[O]ft genug diente ihre Thematisierung eben gerade ihrer Repression.“ (S. 72)

Weniger ambivalent ist Elke Frietsch, die in der Architektur einer Wiener Psychiatrie-Anstalt (insbesondere ihrer Anstaltskirche) eine symbolische Aufwertung des Individuums wie auch des „autonomen Künstlers“ sieht, einen Vorstoß gegen „kirchliche und staatliche Autorität“ (S. 82), ein Zeichen für die „zunehmende Integration psychisch Kranker in die moderne Gesellschaft“ (S. 87), und einen Anlauf gegen die damals übliche Polarisierung der Geschlechter sowie gegen die Verteufelung des Weiblichen (z.B. in der Darstellung des Sündenfalls).

Norman Domeiers Aufsatz über den Eulenburg-Harden-Prozess (eine Zusammenfassung seines Buches dazu) fällt etwas aus dem Rahmen des Bandes, da er die Stadt kaum erwähnt und die Verteidigung und Zuspitzung von Normen behandelt statt deren Erosion. Er behandelt die intendierte Verschärfung der Verfolgung von Homosexuellen im Gefolge der breiten medialen Diskussion um den homosexuellen Skandalprozesses im Umfeld des kaiserlichen Hofes. Seine These von der „Sakralisierung der Heterosexualität“ (S. 145) und der Herausbildung einer demonstrativen heterosexuellen (männlichen) Libertinage als vorauseilende Verteidigung gegen den Verdacht der Homosexualität ist aber dem Thema von der Unterminierung tradierter Verhaltensnormen durch die Thematisierung der Sexualität offensichtlich nahe verwandt.

Im letzten Abschnitt des Buches findet schließlich Klaus Toepfer in der Flut enzyklopädischer Veröffentlichungen zum Liebesleben und zur Sexualität zwischen 1926 und 1932 den Ausdruck einer pornographischen Sammelwut mit politisch und sexuell radikalem Potenzial: die Veröffentlichungen implizierten „einen perversen Leser, der seine Perversion vertiefen will, statt sie zu heilen oder seine ‚Normalität‘ zu bestätigen“ (S. 325); das „Ausufern der Bilder“ hinderte die Autoren daran, sie „einem zusammenhängenden, kontrollierenden Text unterzuordnen“ und unterstützte damit „eine Übertretung der die sexuelle Begierde kontrollierenden gesellschaftlichen Regeln (‚Realität‘)“ und machte „auf befreiende Weise die Beschränkungen ‚sichtbar‘, denen die Begierde […] ausgesetzt ist“ (S. 326–328). Im Gegensatz zur Literatur der Freikörperkultur stellte diese Literatur nackte Menschen vorwiegend in Innenräumen dar, nicht in der „Natur“ (Wälder, Strände, Wiesen usw.); sie war eben ein städtisches Phänomen. Toepfer bringt diese „softcore“ Pornoliteratur in Verbindung mit sexualreformerischen Studien zur weiblichen Sexualität, insbesondere zum Problem der „Frigidität“; denn beide wollten eine „ekstatische“ Gesellschaft schaffen. „Nichts konnte ein modernes Bewusstsein besser formen als das ästhetische Verständnis für den Körper und seine Fähigkeit, Lust hervorzurufen und Freude zu bereiten.“ (S. 328)

Drei Aufsätze relativieren dieses Bild der freudigen Subversion, indem sie die Erfahrungen von Frauen analysieren, die es nicht schafften, ein unabhängiges Leben in der Großstadt zu führen. Petra Fuchs beschreibt einen Einzelfall in der psychiatrischen Klinik der Charité Mitte der 1920er-Jahre und deren Widerhall in Irmgard Keuns Erfolgsroman „Das kunstseidene Mädchen“. Hier wird die Tragik des Zusammenpralls zwischen dem Unabhängigkeitsstreben junger Frauen und den äußerst dürftigen Möglichkeiten zu deren Realisierung (und die Pathologisierung dieses Strebens und Scheiterns) deutlich. Noch tragischer erscheint das Schicksal der Baronin Elsa von Freytag-Loringhoven, deren Leben und Kunst Irene Gammel analysiert. Manisch-depressiv, sexbesessen, begabt, so fristete die Baronin ein miserables Leben in den Metropolen Berlin, München, Rom, Palermo, New York und Paris. Den Bezug ihres Lebens und Schaffens zu diesen Städten arbeitet Gammel zwar nicht systematisch heraus; trotzdem wird klar, das Freytag-Loringhoven „Szenenkünstlerin“ war, eine Art witzig-ausgeflipptes Anhängsel der großstädtischen Gesellschaft bzw. der Trust-Fund-Boheme des frühen 20. Jahrhunderts. Offensichtlich wird aber auch der Zusammenhang zwischen Geistesstörung und Armut: als alleinstehende Frau, ausgestoßen aus der Familie, ohne jedwede Berufsausbildung und alternd stand Freytag-Loringhoven offensichtlich unter ständigem zermürbenden Stress. Völlig aus dem Rahmen des Bandes zu fallen scheint beim ersten Blick Rafael Huertas und Enric Novellas Aufsatz über den Mord an der Wunderkind-Theoretikerin der sexuellen Freiheit Hildegart Rodriguez in Madrid Anfang der 1930er-Jahre. Vielleicht aber doch nicht, denn man könnte den Fall als Produkt des pathogenen Potentials der äußerst schwierigen Lage von Frauen im Europa des ersten Drittels des 20. Jahrhunderts lesen. Denn für Frauen konnte die „Mutterschaft eine der wenigen weiblichen Machtoptionen darstellen“ (S. 210). So schuf die Mutter Aurora ihre Tochter Hildegart, um die Welt zu bewegen; als diese mit 19 Jahren drohte, ihren eigenen Weg zu gehen, erschoss die Mutter ihr Kind in ihrem Bett.

Die andere Seite dieser Medaille analysiert Christine Kanz in ihrem Aufsatz über den Anarchisten, Psychoanalytiker und Nonkonformisten Otto Gross, den sie als Teil eines explizit städtischen Phänomens sieht: ein „Vernetzungskünstler“ (S. 164) der Boheme in München und Berlin. Kokainsüchtig, Psychiatriefall, Verkörperung des Vater-Sohn-Konfliktes – Gross huldigte der Promiskuität und war ein genialer Theoretiker des lockeren Lebens der Boheme. Sein Weg war „von zahlreichen realen weiblichen Opfern begleitet“ (S. 163), von denen er manchen, da er für seine Kinder nicht aufkommen wollte, den „Freitod“ anriet. Ein außerordentlich unsympathischer und verrückter Kerl also, der aber in einem bestimmten städtischen Milieu offensichtlich eine starke Faszination ausüben konnte – leider.

Drei Aufsätze schließlich behandeln die Gegenreaktionen, die die eher dunkle Seite des Wahnsinns der Metropolen hervorrief. Silke Hoklas sieht in Fritz Langs Filmen der 1920er- und 1930er-Jahre eine zutiefst kritische Vision der großen Stadt als Hort der Dekadenz – „die lasterhafte Metropole, bestimmt von Vergnügungssucht, Verbrechen und Krankheit bzw. Perversion“ (S. 242), die von Gott durch Krankheit oder Serienmörder gestraft wurde. Nina Schleif analysiert die zeitgenössische Diagnose des „Magazinitis“ – gemeint ist die Verführung zum sexuellen oder diebischen Wahnsinn (oder auch zum Gelegenheitskauf) durch Warenhäuser, deren opulente Auslagen Begehren und Wollust angeblich aufstachelten – als symbolische Aburteilung der Großstadt und des Konsumkapitalismus. Beide waren aus Sicht der Kritiker pathologisch, verbrechens- und perversionsfördernd. Petra Löffler sieht im Bild der „Kleptomanin“, von der Opulenz der Warenhäuser zum Verbrechen verführt, den „Ausdruck eines hegemonialen Geschlechterverhältnisses, in dem Geld zugleich Macht bedeutet“ und Männer das Geld haben. „Frauen emanzipierten sich demnach von der Herrschaft der Männer als Kleptomaninnen“, und schlugen „das Verbot des Genusses in den Genuss des Verbots um“ (S. 372) – zumindest in den Albträumen der Kapitalismuskritiker. Die „Diskussion der weiblichen Kleptomanie um 1900“ war also ein Versuch, „die ökonomischen, sozialen und kulturellen Zusammenhänge der Modernisierung anzuprangern, die in den Metropolen als Zauber und Gefahr gleichermaßen verhandelt“ (S. 281) und „mit Weiblichkeit gleichgesetzt“ wurden (S. 282).

Nicht alle Essays in diesem Band passen gut in den interpretativen Rahmen. Britta Langes Essay über die Bella-Coola-Völkerschau von 1885–1886, Dietmar Schmidts Beitrag zu Wedekinds „Lulu“-Dramen und deren Verfilmung und Veronika Fuechtners Aufsatz über den Pabst-Film „Geheimnisse einer Seele“ sind alle gut gelungene und interessante Aufsätze, deren Zusammenhang mit den Themen des restlichen Bandes aber unklar bleibt. Insgesamt ist der Band reich an Ideen, Perspektiven und Geschichten, ein Lesevergnügen das allen, die sich für die Geschichte der Sexualität, der Stadt und der Moderne interessieren, zu empfehlen ist.