S. Stöckel (Hg.): Die "rechte Nation" und ihr Verleger

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Titel
Die "rechte Nation" und ihr Verleger. Politik und Popularisierung im J.F. Lehmanns Verlag 1890 - 1979


Herausgeber
Stöckel, Sigrid
Erschienen
Heidelberg 2002: Lehmanns Verlag
Anzahl Seiten
328 S., 1 CD-ROM
Preis
€ 24,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christine Wolters, Hannover

Im letzten Jahr erschien im Verlag Lehmanns Media ein Buch über die Geschichte des J.F. Lehmanns Verlags 1890 – 1979. Es handelt sich jedoch nicht um eine der Festschriften, die üblicherweise zu Firmenjubiläen in Auftrag gegeben werden. Anlass zu dem Buchprojekt war die öffentliche Auseinandersetzung um die Umbenennung von der J.F. Lehmanns Fachbuchhandlungen in Lehmanns Fachbuchhandlung 1998. Eine stillschweigende Distanzierung des Unternehmens von seinem Gründer, Julius Friedrich Lehmann, durch die Tilgung der Initialen J.F. aus dem Namen des Unternehmens war zuvor misslungen. Die Geschäftsleitung suchte das Gespräch mit ihren Kritikern, u.a. mit Sigrid Stöckel, die als Medizinhistorikerin an der Medizinischen Hochschule Hannover arbeitet. Eine Gruppe von Autoren unter der Leitung von Sigrid Stöckel hat die Geschichte des Lehmanns Verlags und die damit eng verbundene Biografie Julius Friedrich Lehmanns in den vergangenen Jahren erforscht und die wichtigsten Aspekte in 11 Aufsätzen dargestellt.

In der Einleitung und der biografischen Skizze, die den anderen Beiträgen vorangestellt ist, beschäftigen sich Sigrid Stöckel und Mario Heidler mit der Lebensgeschichte von Julius Friedrich Lehmann (1864-1934) und den komplizierten Familienbeziehungen, die für die Entwicklung des Verlags als Familienunternehmen von Bedeutung waren. Julius Friedrich Lehmann „gehörte zu den schillernsten politischen Figuren des Kaiserreichs und der Weimarer Republik“ (S. 9). Er engagierte sich im Alldeutschen Verband und in der politischen Rechten der Weimarer Republik und verkörperte die Verbindung zwischen nationalkonservativem Bürgertum und rechtsradikalen Gruppierungen. In seinem Verlag vereinigte Lehmann einen medizinischen und einen „nationalen“ Bereich und verwirklichte damit die Verflechtung von Ideologie und Wissenschaft.

Der Lehmanns Verlag ist noch immer vor allem als medizinischer Fachbuchverlag bekannt. Seit seiner Gründung im Jahr 1890 hat der Verlag bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs eine große Anzahl von weit verbreiteten medizinischen Atlanten und Fachbüchern publiziert. Diesem Aspekt widmet sich Susanne Hahn in ihrem Aufsatz über die Erfolge des Verlages. Das Unternehmen gelang es innerhalb weniger Jahre, einen wichtigen Platz unter den Verlagen mit medizinischem Profil einzunehmen. Hahn sieht hierfür drei Gründe: die Orientierung an den Erfordernissen der medizinischen Forschung und der ärztlichen Praxis, die Auswahl von renommierten Autoren wie beispielsweise Otto von Bollinger, Otto Haab und Albert Hoffa und die hervorragende Qualität der Bücher.

Neben den medizinischen Werken verlegte der Lehmanns Verlag eine Reihe von Zeitschriften, die Mario Heidler detaillierter vorstellt. Mit der Gründung des Verlags übernahm Lehmann die „Münchner medizinische Wochenschrift“ (MMW). Sie war die bekannteste und für die gesamte Verlagsentwicklung wichtigste Zeitschrift. Schon 1902 begann Lehmann die erste politische Zeitschrift zu verlegen. In ihr zeigte sich sein späteres politisches Engagement. Im Ersten Weltkrieg sollten weitere politische Zeitschriften folgen, so die „Osteuropäische Zukunft“ und „Deutschland Erneuerung“, in der Lehmann die Weimarer Republik offen bekämpfte. Zeitschriften zu Rassenkunde und Rassenhygiene wie „Der Biologe“ und „Volk und Rasse“ ergänzten das Programm. Finanziell gewinnbringend wurde die Zeitschriftensparte des Verlags nicht, doch lag das Hauptanliegen auch nicht im unmittelbaren ökonomischen Erfolg, wie Heidler in seinem Beitrag klar herausstellt. Vielmehr galt es, Wissenschaftlern ein Diskussionsforum zu bieten, prominente Autoren zu gewinnen und über das Renommee der Zeitschriften absatzfördernd für andere Verlagsprodukte zu wirken.

Unter dem Titel „West-Marokko deutsch! oder: Wie werden Meinungen gemacht?“ stellt Mario Heidler die Entstehung einer Flugschrift „West-Marokko deutsch!“ vor dem Hintergrund der „zweiten Marokko-Krise“ vor. Heidler zeigt auf, wie gezielt und trickreich Lehmann in die politische Meinungsbildung seiner Zeit einzugreifen vermochte. Von der Broschüre wurden innerhalb weniger Wochen 50.000 Exemplare verteilt und Lehmann schrieb darüber zwanzig Jahre später: „Hier erkannten wir zum erstenmal, wie leicht es möglich ist, die Massen für einen Gedanken zu gewinnen.“ (S. 106)

Patrick Krassnitzer behandelt in seinem Aufsatz „An allen Fronten unbesiegt“ die Weltkriegserinnerungen und deren politische Instrumentalisierung in den Publikationen des Lehmanns Verlages. Der Kampf Julius Friedrich Lehmanns gegen die Weimarer Republik schlug sich auch in den in seinem Verlag in großer Zahl erschienen Weltkriegserinnerungen nieder. Lehmann hatte seine politische Heimat bei der antidemokratischen Rechten gefunden. Diese war, wie Lehmann selbst, unfähig, die Niederlage des Ersten Weltkriegs zu akzeptieren. Es sind vor allem vier Ziele, die Lehmann mit diesen Publikationen verfolgte: die Verbreitung der Idee eines extremen Nationalismus, der propagandistische Diskurs über die Ursachen und Folgen der Niederlage, der Kampf um die richtige Erinnerungen an den Weltkrieg und die Radikalisierung der völkischen Ideologie.

Ernst Willi Hansen widmet sich mit der „Wehrtechnik und Wehrwissenschaft im J.F. Lehmanns Verlag“ einem weiteren Teil des „nationalen“ Bereiches des Verlages. Bereits seit der Verlagsgründung publizierte Lehmann Bücher zu militärisch-technischen Themen wie die „Deutschlands Ruhmestage zur See“, in erster Linie aber den „Weyer“, das „Taschenbuch der deutschen Kriegsflotte“ von Bruno Weyer, der ab 1900 erschien. Mit Büchern wie diesen förderte Lehmann nationalistische Großmachtvisionen. Nach dem Ersten Weltkrieg knüpfte er daran an und propagierte mit aller Entschiedenheit die „Dolchstoßlegende“ und die „Kriegschuldlüge“, so Hansen. Vor diesem Hintergrund fand Lehmann früh zur NSDAP und unterstützte vorbehaltlos die nationalsozialistische Propaganda, wenn auch Lehmanns nicht zu den größten wehrwissenschaftlichen Verlagen gehörte.

Der einzige englischsprachige Aufsatz des Bandes ist von Paul Weindling, der sich mit J.F. Lehmann als Verleger medizinischer Werke und dessen Rolle bei der Verbreitung rassistischer Vorstellungen in der deutschen Medizin befasst. Lehmann unterstützte und verlegte Autoren wie Hans F.K. Günther und Walther Darré, Fritz Lenz und Ernst Rüdin. Auch wenn es eine größere Anzahl von Verlagen gab, die sich der Publikation rassenideologischer Bücher widmeten, Lehmann gelang es, die bekanntesten Autoren zu gewinnen. Der Lehmanns Verlag war „a nursery of Nazi racial activists“ (S. 169). Lehmann trug, so Weindlings These, durch die geschickte Verbindung von wissenschaftlicher Rassenhygiene und den Ideen des nordischen Rassismus entscheidend zur Popularisierung der nationalsozialistischen Rassenideologie in der deutschen Ärzteschaft bei und erreichte mit seinen Werken auch viele interessierten Laien. Darin liegt, so Paul Weindling, die besondere Bedeutung von J.F. Lehmann.

Mit der antidemokratischen Einstellung J. F. Lehmanns beschäftigt sich auch Christine Kirschstein in ihrem Aufsatz, in dem sie die Entstehungsgeschichte des Buchs „Gefesselte Justiz“ nachzeichnet. Die „Gefesselte Justiz“ ist ein herausragendes Beispiel für die gegen die Weimarer Republik gerichtete „Kampfliteratur“, so Kirschstein. Ausgangspunkt der Auseinandersetzung um die Unabhängigkeit der Justiz war ein Justizskandal im Jahr 1926, bei dem ein Mord, der von einem Mitglied der NSDAP begangen worden war, vertuscht werden sollte. Die Frage der Demokratisierung der Justiz wurde in den folgenden Jahren in der breiten Öffentlichkeit diskutiert. J. F. Lehmann griff durch die Publikation der „Gefesselten Justiz“, in die Debatte ein und stellte sich ebenso mit Büchern wie „Femgericht“ und „Femelüge“ auf die Seite der republikfeindlichen Kräfte. Kirschstein gelingt es durch die detaillierte Darstellung der Rezeption der „Gefesselten Justiz“ die wirkungsmächtigen Angriffe Lehmanns gegen die Demokratie der Weimarer Republik zu verdeutlichen.

Unter dem Titel „Man brauchte sich nicht umzustellen“ behandeln Roman Warwas und Brigitte Lohff die Monografien des Lehmanns Verlages im Nationalsozialismus. Die Monografien lassen sich vier Themenkreisen zuordnen: Rassenhygiene und Rassenkunde, Bevölkerungspolitik und Volksgesundheit; Medizin und Naturwissenschaften; Politik, Staat und Wehrmacht sowie Lebensbeschreibungen und Frauenbücher. Charakteristisch wurden für das Verlagsprogramm insbesondere die rassenbiologischen und rassenpolitischen sowie antisemitische Werke. Aber auch bei den medizinischen Publikationen stellte sich Lehmann ganz in den Dienst der Nationalsozialisten, wie Werke zur „Neuen Deutschen Heilkunde“ und zur „biologischen Medizin“ zeigen. Einen geringeren Anteil haben nach 1933 die politischen Neuerscheinungen. Unter den Frauenbüchern, die vor allem Rat bei der Bewältigung von Kindererziehung und Haushaltsführung bieten sollten, ist Johanna Haarers „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“ zu nennen.

In dem Beitrag „‚Das Buch als Tat in Deutschlands Namen‘. Die Medienpolitik des Verlegers Julius Friedrich Lehmann“ untersucht Brigitte Lohff den Standort von Lehmanns in der Verlagslandschaft der 1920er und 1930er-Jahre. Lehmanns ordnet sich als politisch-propagandistischer Verlag in die Reihe der völkischen Verlage ein. Bemerkenswert war jedoch, und hier knüpft Lohff an die Argumentation Weindlings an, der Überzeugungsdrang, mit dem der Verleger Lehmann die öffentliche Meinung zu beeinflussen versuchte. Lohff stellt in diesem Zusammenhang die „brisante Verknüpfung von Protestantismus und völkischem Nationalismus“ heraus. Lehmann wählte selbst die Autoren aus und nahm auch unmittelbar Einfluss auf die Manuskripte. Er bewarb seine Produkte in seinen eigenen Zeitschriften und gab dem Verlag ein unverwechselbares Profil. Die Bestandteile von Lehmanns Unternehmensstrategie waren gut aufeinander abgestimmt und bilden eine moderne Form der Medienpolitik.

Sigrid Stöckel beendet den Band mit einer gelungenen Überblicksdarstellung über die Geschichte des Lehmanns Verlages nach 1945. 1949 gründete Otto Spatz, wie fast 60 Jahre zuvor sein Schwiegervater, zunächst eine Buchhandlung. Im April 1950 erschien die MMW und gewann schnell ihren alten Abonnentenstamm zurück. Ansonsten gestaltete sich der Neuaufbau des Verlags schwierig, so dass Spatz auf populäre Ärztebiografien früherer Jahre zurückgriff. Aber auch eine Neuauflage von Hans F. K. Günthers „Gattenwahl“ war bald im Programm. In den folgenden Jahrzehnten verlegte Spatz vor allem medizinische Lehrbücher, konnte jedoch nicht mehr an die wirtschaftlichen Erfolge von Julius Friedrich Lehmann anküpfen.

Alle Beiträge des Buch zeichnet eine kritische Distanz und sachliche Beurteilung der Geschichte des Lehmanns Verlages aus, die andere in der letzten Zeit erschienene Untersuchungen zu großen Unternehmen vermissen lassen. Die Autoren haben sich mit vielfältigen Aspekten der Biografie Julius Friedrich Lehmanns und Verlagsentwicklung auseinandergesetzt. Dabei ist es den Autoren und der Herausgeberin Sigrid Stöckel gelungen, Redundanzen zu vermeiden, obwohl die Themen der Beiträge oft eng beieinander liegen. Die Beschränkung auf das Wesentliche verhilft dem Buch zu guter Lesbarkeit und Übersichtlichkeit. Es enthält ein Sach- und Personenregister sowie eine CD mit dem Verzeichnis der Verlagspublikationen, auf das der Leser mit einer Suchfunktion zugreifen kann.