A. Jah: Die Deportation der Juden aus Berlin

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Titel
Die Deportation der Juden aus Berlin. Die nationalsozialistische Vernichtungspolitik und das Sammellager Große Hamburger Straße


Autor(en)
Jah, Akim
Erschienen
Berlin 2013: be.bra Verlag
Anzahl Seiten
756 S.
Preis
€ 54,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christoph Kreutzmüller, Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz, Berlin

Allzu oft und allzu lang wurde Berlin im Nationalsozialismus eher als Chiffre genutzt denn als Forschungsgegenstand behandelt. Es ist trotzdem immer wieder verblüffend, wie groß die Desiderate auch bei der Erforschung der Judenverfolgung in Berlin noch immer sind. Wie lief beispielsweise die „Polenaktion“ im Oktober 1938 in der Reichshauptstadt ab? Wo waren die „Judenhäuser“? Während uns Eichmann und sein Büro in der Berliner Kurfürstenstraße geläufig sind, wissen wir sehr wenig über Gerhard Stübs, Eichmanns lokalen Stellvertreter in der Berliner Burgstraße. Wussten wir sehr wenig, kann es jetzt heißen. Denn das Ziel von Akim Jahs Studie ist es „einen fundierten Überblick über den Ablauf und die Zusammenhänge der Deportationen aus Berlin zu geben sowie zu einer instruktiven Analyse der Ereignisse und Entwicklungen des Sammellagers Große Hamburger Straße zu gelangen“ (S. 15). Diesen Anspruch löst das Buch ein.

Jah beginnt seine Studie mit einer Analyse der Mitarbeiter des Judenreferats der Stapoleitstelle Berlin. Er kann nachweisen, dass diese sich kaum von den Referaten in anderen Städten unterschied. Auch in Berlin stellten neben einigen Fachkräften in den Leitungsfunktionen vor allem Schutz- und Kriminalpolizisten, die sich bis dahin nicht als Nationalsozialisten hervorgetan hatten, das Gros des Personals. Mit einer Belegung von zwanzig Mann war das Referat auf die Zuarbeit anderer Behörden und Polizeidienststellen und die erzwungene Mitarbeit jüdischer Organisationen angewiesen, die Jah als „Instanzen der Ohnmacht“ charakterisiert.

In einem nächsten Schritt analysiert der Autor Sammellager als Teil des auf Europa ausgreifenden nationalsozialistischen Lagersystems. Dabei betont er in Anlehnung an H. G. Adler die integrale Bedeutung dieser Lager als Schleusen des Massenmords. In diesem Kontext betont Jah, dass im besetzten Europa „ganze Stadtteile bzw. Ortschaften faktisch als Sammellager […] fungiert“ hätten (S. 135). Ohne die sich hieraus ergebende Frage zu klären, was dann der Unterschied zwischen Ghettos und Sammellagern ist, tritt der Autor nun einen Schritt zurück und wendet sich der Geschichte des Altenheims der Jüdischen Gemeinde in der Großen Hamburger Straße zu, bevor es zum Lager wurde. Vor dem Hintergrund zunehmender Ausgrenzung und Verfolgung durchliefen Altenheime ab 1933 einen Funktionswandel und wurden zu Schutzräumen für eine steigende Anzahl sozial Bedürftiger. In der Großen Hamburger Straße verdoppelte sich so die Zahl der Bewohner zwischen 1932 und 1940 fast.

Im zweiten Hauptteil gibt Jah zunächst eine Übersicht über die ersten großen Deportationen aus Berlin ab Oktober 1941. Er stellt dabei heraus, dass dabei entgegen der Absprache zwischen den Landesarbeitsamt und der Stapoleitstelle immer wieder auch einige der insgesamt ca. 20.000 jüdischen Zwangsarbeiter deportiert wurden. Jedoch scheiterten die Überlegungen der Gestapo, die Zwangsarbeiter wie Kriegsgefangene in Lagern in der Nähe der Arbeitsorte zu konzentrieren, zunächst an dem Unwillen der Betriebe, solche Lager einzurichten und verliefen später im Sande. Sodann wendet er sich dem seinerzeit wichtigsten Sammellager in der ehemaligen Synagoge in der Levetzowstraße zu, das „bis Ende Oktober 1942 das einzige Sammellager für die Transporte ‚in den Osten’ aus Berlin“ war (S. 275). Dessen Aufbau, Funktionsweise und Akteure beschreibt Jah detailliert. Besonders eindringlich ist die Vorstellung, dass die Juden in „Gruppen zu 50 bis 100 Personen“ zu Fuß von dem Sammellager zu den Deportationsbahnhöfen gingen. Ab Juni 1942 wurde parallel zu diesem weitgehend ausgelasteten Lager das Altenheim Großen Hamburger Straße zum Sammellager ausgebaut, wobei zunächst alle Insassen verschleppt wurden, im Wesentlichen aber auf die vorhandenen Strukturen zurückgegriffen wurde. Zwischen Juni und November 1942 fungierte die Große Hamburger dann als „zentraler Sammelort für die Transporte nach Theresienstadt“ (S. 330).

In diesem Kontext analysiert Jah auch die brutale Räumung der anderen in der Stadt noch bestehenden Altersheime und die hieraus resultierenden großen Deportationstransporte nach Theresienstadt im August 1942. Danach plante das RSHA die Deportation der als Zwangsarbeiter eingesetzten Juden. Die „Schlußaktion“ verzögerte sich allerdings – unter anderem weil massive Unterschlagungen im Judenreferat aufgedeckt worden waren und ein Gutteil des Personals ausgetauscht werden musste. Auch Stübs war betroffen und nahm sich in seinem Dienstzimmer in der Burgstraße das Leben. Schließlich wurde eigens der Eichmann-Vertraute Alois Brunner aus Wien nach Berlin beordert. Dieser veränderte die Praxis der Deportationen und baute das Lager in der Großen Hamburger Straße zum zentralen Sammellager auch für Transporte in die Vernichtungslager um. Erst nach Brunners Entsendung (nach Thessaloniki) jedoch kam es Ende Februar /Anfang März 1943 zu den Massendeportationen der sogenannten Fabrikaktion. Im Juni 1943 wurde die Jüdische Gemeinde aufgelöst, ihre Mitarbeiter wurden deportiert. Danach diente das Sammellager als Haftort für untergetauchte Juden, die gefasst worden waren, als Gestapo-Gefängnis, als Aufenthaltsort für Juden, die mit Nicht-Juden verheiratet waren sowie als Wohnung für jüdische Fahnder. Im März 1944 wurde es dann zu einem erweiterten Polizeigefängnis. Die Funktion des zentralen Sammellagers in Berlin übernahm nun das Lager in der Schulstraße.

Die Studie entwirft ein umfassendes Bild des nationalsozialistischen Deportationsapparats und der Sammellager in Berlin. Sie glänzt mit vielen unbekannten Details, fordert aber vom Leser viel Geduld. Geduld, die selbst der Rezensent nicht immer aufbringen konnte. Ist es denn beispielweise für eine Lokalstudie wirklich nötig, die Ergebnisse der Wannsee-Konferenz oder den Aufbau des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz noch einmal relativ ausführlich zu referieren? Fast scheint es, als ob das Buch mehr sein will, als „nur“ die Geschichte der Deportationen aus Berlin, eine Verwaltungsgeschichte des Judenmords auf lokaler Ebene und eine Analyse der Sammellagers in der Großen Hamburger Straße und der Levetzowstraße. Dieser Anspruch wird zwar nicht formuliert, tut aber dem Buch nicht immer gut und lässt es zuweilen zerfasern. Das mindert zwar den Lesefluss, nicht aber den Quellenwert der Studie, die auf jahrzehntelangem, intensivem und kreativem Aktenstudium beruht.

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