W. Gippert u.a.: Bildungsreisende und Arbeitsmigrantinnen

Cover
Titel
Bildungsreisende und Arbeitsmigrantinnen. Auslandserfahrungen deutscher Lehrerinnen zwischen nationaler und internationaler Orientierung (1850–1920)


Autor(en)
Gippert, Wolfgang; Kleinau, Elke
Erschienen
Köln 2014: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
272 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Marianne Helfenberger, Historische Bildungsforschung und Steuerung des Bildungssystems, Universität Zürich

Die vorliegende Monographie entstand im Rahmen des Projektes Nation und Geschlecht. Konstruktion nationaler Identität in Autobiographien deutscher Lehrerinnen an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, angesiedelt an der Universität Köln. Die Untersuchung ist nicht nur in die Bildungs- und Genderforschung eingebettet, sondern zeichnet sich dadurch aus, dass sie an vielfältige theoretische, historische, soziologische und literaturwissenschaftliche Ansätze anknüpft und deren Erkenntnisse nutzt; ein besonderer Schwerpunkt liegt auf der Transferforschung.

Das Buch besteht aus zwei thematischen Blöcken, in denen Selbst- und Fremdkonstruktionen deutscher Lehrerinnen im europäischen (England und Frankreich) bzw. im außereuropäischen Ausland (Chile, das Britische Empire, Brasilien und Südwestafrika) zwischen 1850 und 1920 analysiert und kontextualisiert werden. Diese beiden Blöcke werden von einer Einleitung, einer Darstellung der heterogenen Ausgangslage hinsichtlich Ausbildungswegen und Berufsperspektiven sowie Professionalisierungsstrategien für die ins Ausland reisenden Lehrerinnen und von einem Ausblick gerahmt.

Die Publikation stellt die Ergebnisse des Projekts in der Tat „gebündelt“ dar (Vorwort). Das hat den Vorteil, dass die Kapitel für sich gelesen werden können und das Buch als Nachschlagewerk dienen kann. Nachteil dieses Vorgehens ist, dass sich etliche Redundanzen und wörtliche Wiederholungen eingeschlichen haben (Kulturschock, S. 40, 176, Fragestellungen 83, 118) und längst verwendete Begriffe spät eingeführt werden (Migrantin, S. 196). Gewichtiger ist aber die bleibende Unklarheit über Ziele und Erkenntnisinteresse der Darstellung: Geht es um die vielfältigen und aufschlussreichen Erkenntnisse zur historischen Empirie oder um eine metatheoretische Diskussion über die erziehungswissenschaftliche Disziplin?

Die Untersuchung wird von einer Arbeitshypothese geleitet, die die alltagspychologische Annahme, Auslandaufenthalte förderten den Kulturaustausch und bauten Vorurteile und Stereotype ab, hinterfragt (S. 11–13). Die Hypothese wird mit einer Reihe von pädagogischen und bildungshistorischen Fragen an das äußerst umfangreiche und heterogene, aus Ego-Dokumenten bestehende Quellenkorpus operationalisiert (S. 12, 83, 118, 149, 171). Methodisch analysieren Gippert und Kleinau die Ego-Dokumente hinsichtlich der inhärenten Identitätskonstruktionen unter Berücksichtigung literarischer Konventionen, gattungsspezifischer Merkmale, Traditionen, Entstehungsbedingungen und Adressaten sowie des zeitgenössischen diskursiven Kontexts. Darin sehen sie ein sich eröffnendes Forschungsfeld für die Erziehungswissenschaft, die bisher Ego-Dokumente selten methodisch diskutiert (S. 37) und als Quelle für pädagogische Erkenntnis untersucht habe (S. 33). Die Hypothese eröffnet demnach Fragen für die pädagogische Praxis hinsichtlich der Vermittlung von Werten wie die Toleranz gegenüber Fremden (S. 17). Identitätsbildung ist hier als Lernprozess verstanden, zumal davon ausgegangen wird, dass die in Ego-Dokumenten geschilderten Erlebnisse „möglicherweise paradigmatisch für grundlegende Erfahrungen und Erkenntnisse stehen“ (S. 39) und Situationen sichtbar werden, die Veränderungen, Konflikte und Grenzüberschreitungen dokumentieren (S. 40).

Den untersuchten Ego-Dokumenten liegt die gemeinsame Fremdheitserfahrung ihrer Autorinnen zugrunde (S. 32). Die Texte verweisen auf die Diskrepanz zwischen den Erwartungen der Lehrerinnen vor der Auslandreise und der erlebten Ernüchterung trotz beruflicher Integration vor Ort (S. 68–77). Berufsspezifische Interessen und Notwendigkeit motivierten die sozial heterogene Gruppe deutscher Lehrerinnen, die Weite zu suchen. Damit verbunden war die Hoffnung auf bessere Arbeitschancen nach der Rückkehr ins Heimatland. Die negativen Erfahrungen als Ausländerinnen (etwa fehlende private Integration) verbanden die Autorinnen mit ihrer deutschen Nationalität. Infolgedessen sei an Stelle eines interkulturellen Austauschs der Rückzug ins Private zur Pflege der eigenen deutschen Kultur getreten, der den Lehrerinnen Trost, Rückhalt und kulturelle Selbstvergewisserung gegeben habe (S. 83–89). In England und Frankreich war dieser Rückzug dadurch begünstigt, dass ein entsprechendes Netzwerk seit den 1880er-Jahren vor Ort vorhanden war und Angebot und Nachfrage steuerte.

Das Kollektiv der deutschen Lehrerinnen im Ausland habe Kulturvermittlung geleistet, als es über die Ego-Dokumente Einblicke in Alltagsleben und Bildungseinrichtungen gewährte. Das subjektiv geprägte Wissen über die ‚Fremde‘ habe die Diskussion über die Mädchen- und Frauenbildung belebt und die bildungspolitischen Anliegen der Frauenbewegung unterstützt (S. 92f., 99). Mit dem vorherrschenden gesellschaftlichen Nationsdiskurs hätten sich so kollektive Identitäten herausgebildet, die unterschiedlichen Nationalkulturen und ‚Nationalcharakteren‘ zugeordnet wurden; Entfremdung statt Verständigung im Privaten sei die Folge gewesen (S. 97).

Die untersuchten Einzelfälle dokumentieren die kulturelle Vermittlung in Richtung Heimatland und unterscheiden sich voneinander hinsichtlich der Differenzierungskategorien für die Konstruktion von Fremdheit. Der erste Einzelfall dokumentiert das auf den persönlichen Erfahrungen und kulturimperialistischen, sozialdarwinistischen und rassistischen Vorstellungen Käthe Schirmachers beruhende völkisch-nationale Konzept für die Mädchen- und Frauenbildung, bei dem den Frauen eine aktive Rolle als „biologische Reproduzentinnen“ der Nation zugekommen sei (S. 135–142). Für die Fälle außerhalb Europas stellen Gippert und Kleinau mit dem Konzept der Intersektionalität andere Abgrenzungs- und Identifikationsmomente dar. Zwar ist in allen Fällen das „Nationale“ das verbindende Kriterium, aber je nach Auswanderungsland treten soziale Schicht, Geschlecht, Religion oder Ethnie hervor, so dass eine homogenisierte europäische Identität oder andere Identifikationsmuster betont wurden. So hat sich Bertha Buchwald partiell mit der kreolischen Elite in Chile in Abgrenzung zur armen und indigenen Bevölkerung identifiziert (S. 149–170). Auguste Mues distanzierte sich von der indigenen Bevölkerung im als „vertraute Fremde“ erlebten Britischen Empire (S. 171–193). In Brasilien werden für Ina von Binzer Kultur und Zivilisation, Rasse und Geschlecht sowie Stand die relevanten Kriterien (S. 195–216). Der Schwerpunkt liegt auf der Kulturvermittlung in Richtung Heimatland. Dass die Kulturvermittlung jedoch nicht ausschließlich in Richtung Heimatland erfolgte, zeigt der Fall von Helene von Falkenhausen und Clara Brockmann in Südwestafrika, die in christlicher Mission kolonialistische Erziehungsaufgaben erfüllten. Ins Heimatland wurden ein kulturkritisches Bild und Südwestafrika als Ort weiblicher Selbstverwirklichung transportiert (S. 217–255).

Angesichts der reichhaltigen historischen Erkenntnisse ist es nicht recht nachvollziehbar, weshalb an Stelle eines abschließenden und vergleichenden Fazits ein für die Transferforschung in der Erziehungswissenschaft werbender Ausblick gesetzt wurde. Zurecht weisen Gippert und Kleinau darauf hin, dass es nicht nur das institutionalisierte Erziehungs- und Bildungswesen gibt, das Rezeptions- und Aneignungsprozessen unterworfen ist und top-down agiert. Auch alltägliche und lebensweltliche Prozesse haben historische Gestaltungskraft. In diesem Sinne bestehe die Bedeutung und Originalität der Untersuchung darin, dass sie zu einer systematischen Erklärung und einer empirischen Untersuchung zur Rolle von Frauen im Kulturaustausch beiträgt (S. 25). Insofern sind die Autorinnen der Ego-Dokumente historische Akteurinnen, die zur Stabilisierung des herrschenden Nationsdiskurses beitrugen und Elemente ihrer Kultur ins Ausland sowie ‚Wissen über die Fremde‘ ins Heimatland vermittelten (S. 263f.). Im mentalitätsgeschichtlichen Beitrag der Historischen Bildungsforschung zur Frage, wie sich nationale Identitäten biographisch entwickeln (S. 12), sehen sie die Chance, das klassische Paradigma der historischen Komparatistik aufzubrechen, wonach ‚Nationalkulturen‘ voneinander unabhängig seien (S. 17, 264). In Anlehnung an konstruktivistische Ansätze gehen sie von einem interaktiv erzeugten Nationalgefühl aus (S. 13, 17, 101).

Gippert und Kleinau wollen einer subjektorientierten, biographisch ausgerichteten Sozialisations- und Bildungsforschung mit der Annahme „pluralisierter Identitäten“ neue Impulse geben (S. 267). Wenn eine Migrationserfahrung zu einem „kreativen Prozess auf mehreren Ebenen der Persönlichkeit“ führt (S. 267), dann handelt es sich hierbei um individuelle Lernprozesse, die aber als solche historischen Wandel nicht hinreichend erklären. Dass aber die Frauen den zeitgenössischen Nationsdiskurs nicht aufzubrechen vermochten, zeigt, wie sehr sie in ihrem historischen Kontext gefangen waren. Die unterschiedliche Ausprägung des Nationalen als Identitätsmerkmal verweist damit auf die zentrale Herausforderung der Historischen Bildungsforschung, ihren Gegenstand nicht isoliert und ihre Akteure nicht individuell zu betrachten, sondern deren Rolle im historischen Wandel nachzuvollziehen. Bildungshistorische Transferforschung würde auch nach der Sicht der „Anderen“, inklusive der dem Lehrberuf nicht angehörigen Migrantinnen aus deren Perspektive fragen. Die Erkenntnisse ließen sich dann nicht auf ihre Relevanz für eine erwünschte pädagogische Praxis reduzieren. Die Resultate der historischen Untersuchung bieten viel mehr.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
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