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Titel
"Wir sind doch Brüder!". Der evangelische Kirchentag und die deutsche Frage 1949-1961


Autor(en)
Palm, Dirk
Reihe
Arbeiten zur kirchlichen Zeitgeschichte 36
Erschienen
Göttingen 2002: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
360 S.
Preis
€ 49,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Peter Maser, Ostkirchen-Institut, Westfälische Wilhelms-Universität Münster

Klaus Rainer Röhl, einst Herausgeber von KONKRET und heute bei den Demokratischen Rechten, mag Kirchentage nicht. In seinem „Deutschen Phrasenlexikon“ von 1995 definiert er das „Kirchentagsdeutsch“, das „sich in den siebziger Jahren aus einer Mischung der jahrhundertealten Sprache der evangelischen Pfarrhäuser und dem zerfallenden 68er Idiom bildete“ 1. Der Publizist, der sich von einem Saulus zu einem Paulus wandelte, muss nicht jedermann liegen, aber er macht auf ein Grundproblem des Phänomens Kirchentag aufmerksam, nämlich dessen Verhaftung im jeweils herrschenden Zeitgeist. Peter Steinacker, Kirchenpräsident der Evgl. Kirche in Hessen und Nassau, spricht genau davon, wenn er als Aufgabe des Kirchentags beschreibt, „auch ‚Seismograph’ für gesellschaftliche Stimmungen [zu] sein“ 2.

Um die Kirchentage und auf den Kirchentagen hat es immer Streit gegeben, innerhalb der evangelischen Kirchen und noch mehr außerhalb der Kirchenmauern. Das hängt vor allem damit zusammen, dass „alle gesellschaftlichen Kräfte den Kirchentag als einzigartiges Forum der Auseinandersetzung, Selbstdarstellung und Selbstkorrektur suchen“ 3. Bis heute ist es nicht gelungen, präzise zu erfassen, was da eigentlich alle zwei Jahre unter den weißen Fahnen mit den violetten Kreuzen bei den mehrtägigen Großveranstaltungen mit (seit 1981) regelmäßig mehr als 100.000 „Dauerteilnehmern“ passiert.

Kirchentage sind Schauplatz theologischer und kirchenpolitischer Auseinandersetzungen, bieten Politikern, Parteien und allen möglichen und gelegentlich auch unmöglichen Gruppierungen („Markt der Möglichkeiten“) ein Forum, sind Ereignisse von ökumenischem Rang. Ihre Beachtung in den Medien ist vergleichsweise ansehnlich und ihre innerkirchlichen und gesellschaftlichen Folgewirkungen beträchtlich. Im Umfeld der Kirchentage werden nicht nur kirchliche Karrieren (u.a. Wolfgang Huber, Margot Käßmann), sondern durchaus auch politische Karrieren geschmiedet (u.a. Richard von Weizsäcker, Klaus von Bismarck, Helmut Simon, Erhard Eppler, Ernst Benda). Die Schwierigkeiten, das Phänomen Kirchentag angemessen zu beschreiben, haben aber auch mit dessen Charakter als Massenveranstaltung zu tun. Dieser gestattet es den verschiedensten Milieus – von den Alternativen über die Frauenhilfen, Posaunisten und Ökofreaks bis hin zu den ganz Bibeltreuen oder liturgisch Bewegten -, sich mit ihren spezifischen Mentalitäten so im großen Ganzen zu etablieren, dass alle „ihren“ Kirchentag begehen können und sich manchmal nicht nur wundern, was da alles noch neben ihnen als Kirchentag firmiert.

Wundern mag man sich auch darüber, dass der Kirchentag bisher noch nicht zum Gegenstand einer historischen Monografie gemacht worden war. Insofern leistet Dirk Palm, jetzt Verlagsleiter in Erfurt, aber westdeutscher Herkunft und auf Grund seiner Untersuchung in Gießen im Fach Mittlere und Neuere Geschichte promoviert, mit seiner Studie „Wir sind doch Brüder!“ Pionierarbeit: „Eine historische Erforschung des Deutschen Evangelischen Kirchentages wäre bis vor wenigen Jahren ohnehin unmöglich gewesen, denn die Akten des Kirchentages, ein Depositarbestand im Evangelischen Zentralarchiv in Berlin, sind noch nicht lange zugänglich.“ (S. 18) Wer die Akten der Kirchentage bis zum letzten gesamtdeutschen Kirchentag im Juli 1961, unmittelbar vor dem Mauerbau, unter Leitung Palms zur Kenntnis nimmt, wird sich über deren langfristige Unzugänglichkeit allerdings nicht allzu sehr wundern. Goethe meinte bekanntlich: „Es ist die ganze Kirchengeschichte Mischmasch von Irrtum und von Gewalt.“ 4 Für die frühen Kirchentage trifft dieses Verdikt gewiss zu; wahrscheinlich aber nicht nur für diese.

Palm schildert eingehend, welche wechselnden Einflüsse auf das Unternehmen Kirchentag einwirkten. Da war dessen „Erfinder“ Reinold von Thadden-Trieglaff (1891-1976), Spross eines prominenten und erweckten Adelsgeschlechts aus Pommern, dessen persönliche Motivation Palm wohl zu flapsig beschreibt, wenn er behauptet, es sei Thadden darum gegangen, „nach der Vertreibung aus seiner pommerschen Heimat einen Platz in westdeutschen Kirchenkreisen zu finden, der ihm die Unabhängigkeit sicherte, die der ehemalige Gutsbesitzer gewohnt war“ (S. 303). Immerhin hatte Thadden schon 1935 die volksmissionarisch ambitionierten „Evangelischen Wochen“ ins Leben gerufen, die als direkter Vorläufer des Kirchentages betrachtet werden müssen (vgl. S. 36). Da gab es die Evangelische Akademiearbeit Eberhard Müllers, den Berliner Laientag, den Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), die mächtigen Landesbischöfe und auch mancherlei charismatische Einzelfiguren aus dem Bestand der Bekennenden Kirche, die sich häufig nur noch sehr begrenzt „brüderlich“ liebten.

Aus dem nichtkirchlichen Bereich wirkten die jeweiligen Bundesregierungen, die westdeutschen Parteien, aber auch der amerikanische Hohe Kommissar und natürlich auch die DDR-Regierung, die SED-Führung und das MfS dahin, den Kirchentag ihren diversen Zwecken dienstbar zu machen. Wo so viele einander widerstreitende kirchlich-theologische, politische und persönliche Interessen im Spiel waren, war das Chaos eigentlich vorprogrammiert. Dass der Kirchentag trotzdem zur Erfolgsstory wurde, könnte der Theologe schlicht als Wunder erklären. Der Historiker muss sich da etwas mehr Mühe geben.

Palm versucht den „Mischmasch“ der Quellenüberlieferung zu sortieren, indem er „die unterschiedlichen Individualinteressen, die auf den Kirchentag einwirkten“, mit „drei idealtypischen Konzepten“ in Beziehung setzt: „dem volksmissionarischen, dem akademisch-problemorientierten und dem politisch-symbolhaften Kirchentagskonzept“ (S. 15). Dieses Ordnungsprinzip mag sinnvoll sein, wenn Palm auch selber eingesteht, „daß es sich bei diesen Ansätzen um ein theoretisches Konstrukt handelt. Die Konzepte entsprachen nicht festgelegten Gruppierungen, sie konnten Wandlungen unterliegen, und die Übergänge zwischen ihnen waren nicht immer eindeutig [...]“ (S. 306). Immerhin hilft das Raster dieser Konzepte aber, die zahlreichen Verwerfungen genauer nachzuzeichnen, denen die Kirchentage von 1949 an unterworfen waren. Wirklich im Gedächtnis geblieben sind von diesen nur die Berliner Kirchentage von 1951 und 1961. Sie wurden tatsächlich zu gesamtdeutschen Massenveranstaltungen mit all den Begleiterscheinungen, die in der Zeit des Kalten Krieges und der sich ständig verschärfenden deutschen Teilung unvermeidlich waren.

Die Politisierung der Kirchentage unter dem Stichwort der „deutschen Frage“ war deshalb unvermeidbar. Die Frage nach der deutschen Wiedervereinigung signalisierte die alles überlagernde Problematik jener Jahre. Der Streit um die Westbindung und Wiederbewaffnung der Bundesrepublik oder die Nöte der DDR-Christen mit dem von der SED teilweise mit terroristischen Mitteln betriebenen Staatsatheismus, liefen immer wieder auf das Bekenntnis des Berliner Kirchentages 1951 zu: „Wir sind doch Brüder!“ Welche kirchliche, vor allem aber politische Sprengkraft solchem Bekenntnis eigen war, erzählt Palm mit unzähligen Details, die die meisten der Beteiligten, ihre Motive und Aktionen, nicht immer in ein sympathisches Licht rücken. Trotzdem gilt: „Die Behandlung der deutschen Frage war dem Kirchentag von außen aufgedrängt worden. Aber ohne dieses Thema hätte der Kirchentag nie seine historische Bedeutung erlangt und würde vielleicht schon lange nicht mehr bestehen“ (S. 306).

Die Untersuchung Palms konzentriert sich auf die Matadore des jeweiligen Geschehens. Die heute oft genannte „Basis“ kommt bei dieser Aktenanalyse nicht zur Geltung. Auch seine Auswertung der zeitgenössischen Medien scheint im Wesentlichen auf die große Politik innerhalb und außerhalb der Kirche begrenzt gewesen zu sein. Die „Befragung von Zeitzeugen“ spielt „nur ganz am Rande“ eine Rolle: „Die Zeitzeugenaussagen dienten bei der Recherche lediglich zur Untermauerung desjenigen Bildes, was sich aus der Analyse der übrigen Quellen ergab“ (S. 21). Goethe hätte da möglicherweise räsoniert: „Mit Kirchengeschichte was hab’ ich zu schaffen?/ Ich sehe weiter nichts als Pfaffen;/ Wie’s um die Christen steht, die Gemeinen,/ Davon will mir gar nichts erscheinen.“ 5

Die Askese, die sich Palm selbst auferlegt hat, hindert ihn zunächst einmal an einer überzeugenden Beantwortung der Frage: Was machte die Kirchentage denn nun tatsächlich zum Erfolgsmodell? Der Hinweis auf die überragende Bedeutung der „deutschen Frage“ weist dabei jedoch schon in die richtige Richtung. Die Kirchentagsteilnehmerinnen und –teilnehmer nahmen die meisten Hintergrundaktivitäten, theologischen und politischen Streitigkeiten, aber auch persönlichen Eifersüchteleien überhaupt nicht wahr. Sie erlebten die unterschiedlichen Formen grenzüberschreitender Gemeinschaft, die ihnen das elastische Konzept des Kirchentages ermöglichte. Sie feierten „ihren“ Kirchentag als Zeugnis der Gemeinschaft in einer Welt, in der alle Zeichen auf Abgrenzung und Konfrontation standen.

Wie schwierig die Beurteilung eines konkreten Kirchentages alleine nach Aktenlage werden kann, demonstriert Palms Schilderung des Berliner Kirchentages 1961 (vgl. S. 298ff.). So verkennen die Erörterungen zur Zahl der Dauerteilnehmer aus der DDR vollständig, dass damals eine reguläre Anmeldung zum Kirchentag für DDR-Bürger praktisch kaum noch möglich war. Fast schon infam ist der angedeutete Verdacht, „viele der Teilnehmer dürften angesichts der sich immer weiter verschärfenden politischen Lage eine Fluchtmöglichkeit aus der DDR gesucht haben“ (S. 299f. mit Anm. 155). Die von Palm hierzu genannten Zahlen sprechen nicht gerade für die Haltbarkeit dieser These. Wer damals in den Westen gehen wollte, brauchte den Umweg über den Kirchentag nicht. Ebenso falsch ist die Behauptung der späteren Oberkirchenrätin Christa Lewek, „daß viele der östlichen Kirchentagsteilnehmer keine Veranstaltungen im Westteil Berlins besucht hätten“ (S. 301). Das traf allenfalls auf die wenigen zu, die ihren Frieden mit dem SED-Regime gemacht hatten und die sehr viel zahlreicheren Besucher aus dem Osten, die von den DDR-Grenzorganen aus den Zügen geholt und oft über Stunden festgesetzt wurden. Die ganz überwiegende Zahl der DDR-Teilnehmer aber fand den Weg nach West-Berlin, wurde dort – auch ohne offizielle Registrierung - herzlich aufgenommen und erlebte jene christliche Gemeinschaft, die die SED-Machthaber in ihrem Bereich zu behindern versuchte, wo immer das möglich war. Unsinnig ist deshalb Palms Urteil: „Der Berliner Kirchentag [1961] ist mithin [nicht] in die Reihe der gesamtdeutschen Kirchentage zu rechnen“ (S. 301). Das genaue Gegenteil trifft zu, dafür spricht schon das gewaltige Aufgebot, das die DDR-Führung einsetzte, um diesen Kirchentag im geteilten Berlin zu verhindern.

Die Diskussion, ob der Kirchentag Einfluss auf den Termin des Mauerbaus gehabt habe, ist ursprünglich von Präses Kurt Scharf begonnen worden, der der Meinung war, das Kirchentreffen habe die Errichtung der Mauer „um mindestens drei Wochen“ verzögert. Das war schon damals einigermaßen absurd und wird auch nicht besser, wenn Palm nun sinniert: „Der Kirchentag in Berlin 1961 hat dadurch, daß er den Druck auf Berlin erhöhte, den Mauerbau allenfalls beschleunigt“ (S. 301). So wichtig war kein Kirchentag! Neben dem ständig zunehmenden Flüchtlingsstrom hat allerdings auch der Kirchentag den SED-Machthabern im August vor aller Welt demonstriert, wie wenig sie die ihnen Unterworfenen für ihr Regime hatten gewinnen können.

Anmerkungen:
1 Vgl. Klaus Rainer Röhl: Deutsches Phrasenlexikon. Lehrbuch der Politischen Korrektheit für Anfänger und Fortgeschrittene, Berlin 1995, S. 14.
2 Vgl. Peter Steinacker: Art „Kirchentage“, in: Theologische Realenzyklopädie 19 (1990), S. 101-110, bes. S. 106.
3 Ebd., S. 108.
4 Johann Wolfgang v. Goethe: Werke, hg. von Erich Trunz, Bd. 1, München 1998, S. 334.
5 Ebd.

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