P. Becker: Verderbnis und Entartung

Titel
Verderbnis und Entartung. Eine Geschichte der Kriminologie des 19. Jahrhunderts als Diskurs und Praxis


Autor(en)
Becker, Peter
Reihe
Veröfftlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 176
Erschienen
Göttingen 2002: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
416 S., 21 Abb.
Preis
€ 46,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Urs Germann, Schweizerisches Bundesarchiv, Bern

Untersuchungen über die Entwicklung der Kriminologie haben derzeit Hochkonjunktur. Wissenschaftsgeschichtliche Perspektiven, bei denen die Repräsentationen des Kriminellen in juristischen und medizinischen aber auch in literarischen und politischen Diskursen im Vordergrund stehen, ergänzen nach und nach die Fragestellungen der Historischen Kriminalitätsforschung. Von zentraler Bedeutung ist dabei die Erkenntnis, dass die Vorstellungen des Verbrechers, wie sie von Kriminalisten und Kriminologen im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts propagiert wurden, in einem hohen Maße von narrativen Mustern geprägt waren, die sich an den Eckwerten des bürgerlichen Werte- und Verhaltenskanons orientierten. 1 Mit den Interdependenzen zwischen Kriminalitätsdiskursen und den Praktiken der Strafverfolgung beschäftigt sich seit längerem der am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz tätige Peter Becker. Nach der Publikation einer Reihe einschlägiger Aufsätze legt Becker nun eine umfassende Geschichte der Kriminologie im 19. Jahrhundert vor, die zugleich seine Habilitationsschrift ist.

Ausgangslage für Beckers Studie ist die Feststellung, dass die Kriminologie des 19. Jahrhunderts in ihrer Annäherung an den Verbrecher einer binären Logik gefolgt sei, die eine Dichotomie zwischen dem bürgerlichen Subjekt und einem kriminellen Andern hergestellt habe. Die Identität des Verbrechers erscheint so als „Negation der bürgerlichen Identität“ (S. 12), die das Unbehagen der bürgerlichen Gesellschaft über die Grenzen ihrer eigenen Integrationsfähigkeit spiegelt. Das kriminelle Andere wurde dabei nicht in erster Linie juristisch, d.h. über konkrete Straftatbestände, sondern moralisch und später medizinisch definiert. Die Orientierung am bürgerlichen Wertekanon stellte dabei eine der wesentlichen Kontinuitäten des kriminologischen Diskurses des 19. Jahrhunderts dar. Was sich im Laufe der Zeit veränderte, war freilich die Art und Weise, wie Abweichungen von den bürgerlichen Normen definiert wurden. Becker modelliert den kriminologischen Diskurs als Abfolge zweier Erzählmuster, die sich in Bezug auf die Interpretation von Delinquenz unterschieden: „So bezog man das Anderssein der Verbrecher während des 19. Jahrhunderts entweder auf seine Verderbnis, d.h. auf eine Veränderung der sittlichen-moralischen Handlungsleitlinie oder auf seine Entartung – die Bestimmung zum Anderssein durch Vererbung und Umwelteinflüsse.“ (S. 30f.) Als entscheidend für das Verständnis dieses Wandels auf der Ebene der Formationsregeln kriminologischer Aussagen erweist sich für Becker der Blick auf die Teilnehmer des Kriminalitätsdiskurses. Wurden moralisch-sittliche Erzählmuster in der ersten Jahrhunderthälfte primär von „Praktikern“ getragen, die als Strafrechtsexperten, Moralreformer und forensische Mediziner über einen „Wirklichkeitsbezug“ (S. 22) verfügten, in dem sich lebensweltliche Bezüge und theoretisches Wissen verbanden, so wurde der Kriminalitätsdiskurs der Jahrhundertwende von Kriminologen dominiert, die den Kriminellen mittels des Methodenkanons der Human- und Sozialwissenschaften erforschen wollten.

Im ersten Teil seiner Studie (Kapitel 1–4) untersucht Becker Struktur und Konsequenzen des Erzählmusters des „gefallenen Menschen“, das die Wahrnehmung und Präventionsstrategien der frühen Kriminalisten maßgeblich prägte. In offener Analogie zum christlichen Sündenfall modellierte dieses Erzählmuster kriminelles Verhalten als eine willentliche Abkehr von einem moralisch-sittlichen Lebensentwurf. Am Anfang einer kriminellen Tat oder Karriere stand demnach eine „verkehrte Gesinnung“, für die das Individuum zur Verantwortung gezogen werden konnte. Konsequenzen zeigte diese Argumentation etwa bei der strafrechtlichen Behandlung des Rückfalls und in den noch vergleichsweise seltenen Fällen, in denen die Willensfreiheit von Delinquenten zweifelhaft schien. Namentlich ein übermäßiger Alkoholkonsum wurde als Auslöser für eine fortschreitende „Entsittlichung“ betrachtet, wobei die Kriminalisten die Kriminellen weniger für die unter Alkoholeinfluss begangenen Taten als für die Trunksucht an sich zur Verantwortung zu ziehen gedachten. Gleichzeitig forderten sie präventive Maßnahmen gegen die Trunksucht wie die Erhöhung der Schanksteuer oder die Zwangserziehung „gefährdeter“ Jugendlicher. Eine ähnliche Rolle wie der Alkoholkonsum spielte die Prostitution. Becker zeigt, dass die Aussperrung der Prostituierten aus der bürgerlichen Gesellschaft zu einem guten Teil der Verhinderung der moralischen Korruption der Bürger dienen sollte. Sittenpolizeiliche Maßnahmen bekamen die Funktion eines „Grenzschutzes“ (S. 157) der bürgerlichen Gesellschaft vor dem bedrohlichen Anderen. Einerseits galt es, junge Männer vor der „Verderbnis“ durch „liederliche“ Frauen zu bewahren, andererseits sollten junge Mädchen vor dem sittlichen Fall und der kriminellen Halbwelt geschützt werden. Die „Gefahr“, die von der Prostitution für die „anständigen“ Bürger und Bürgerinnen ausging, legitimierte den Aufbau eines polizeilich-bürokratischen Kontrollapparats, der die Prostitution zunehmend ausgrenzte und stigmatisierte.

Becker verdeutlicht ebenfalls, wie das Erzählmuster des „gefallenen Menschen“ mit einem wachsenden Interesse der Kriminalisten an den Biografien kriminell gewordener Menschen einherging. Die „biographischen Obsessionen des Justizapparats“ (S. 59) hatten in der ersten Jahrhunderthälfte eine Ausweitung des polizeilichen Blicks zur Folge, der mittels einer effizienten Informationsverarbeitung und -vernetzung wie dem Aufbau von Strafregistern und anderen personenbezogenen Datenbeständen ein immer dichter werdendes „Netz kapillarer Kontrolle“ (S. 74) aufspannte. Das Interesse am Biografischen hatte aber auch Auswirkungen auf die Interpretation von Delinquenz. So meinte 1842 der Berliner Kriminalist A. F. Thiele: „Gerade der Lebenslauf charakterisiert erst den Gauner.“ (S. 70) Lebensläufe, die von der bürgerlichen Norm abwichen, ließen sich als Zeugnisse einer „verkehrten Gesinnung“ lesen, die ihrerseits am Anfang einer kriminellen Existenz stand. Über die Erfassung individueller Lebensläufe hinaus machten sich die Kriminalisten an die Rekonstruktion einer kriminellen Gegenwelt, die ihnen als „verkehrte Welt“ (Riehl) erschien, welche bürgerliche Leitwerte wie Gemeinsinn, Arbeit oder Mäßigkeit pervertierte. Becker zeigt, wie die Kriminalisten die Lebensbedingungen und Familienverhältnisse von Gaunern als „Gegenordnung“ und nicht etwa als Chaos modellierten. Die Bedrohung, die von dem Kriminellen als einem Anderen ausging, ließ sich so rationalisieren und gleichzeitig die Mittel zur Bekämpfung des Verbrechens wie die Kontrolle der nicht sesshaften Bevölkerung oder die Polizeiaufsicht über entlassene Straftäter perfektionieren. Einen neuralgischen Punkt stellte dabei die angebliche Fähigkeit der Gauner dar, sich mittels Verstellung und Simulation dem Zugriff durch die Behörden zu entziehen und falsche Identitäten vorzutäuschen, wodurch eine klare Grenzziehung zwischen der bürgerlichen und der kriminellen Welt in Frage gestellt wurde. Bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwarfen die Kriminalisten deshalb eine „Semiotik des Gaunertums“ (Wennmoh), die sichere Unterscheidungen zwischen respektablen Bürgern und Kriminellen erlauben sollte.

Im zweiten Teil (Kapitel 5/6) zeigt Becker, wie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts das Erzählmuster des „gefallenen Menschen“ zunehmend jenem des „verhinderten Menschen“ Platz machte, der nun nicht mehr moralisch-sittlich sondern medizinisch-anthropologisch definiert wurde. Im Anschluss an die Degenerations- und Evolutionstheorie galten namentlich Gewalttäter und Rückfällige als erblich Belastete, die eine geringere Hemmschwelle, ein ausgeprägteres Triebleben und eine schwächere Willens- und Gewissenskraft besaßen, als es die Norm des selbstbeherrschten Bürgers wollte. Die Kriminologen des späten 19. Jahrhunderts begnügten sich konsequenterweise nicht damit, eine „verkehrte Gesinnung“ festzustellen, sondern rekonstruierten die Kriminellen als pathologische Persönlichkeiten, deren Verhalten kausal erklärt werden konnte. Gleichsam auf die Spitze getrieben wurde diese „Naturalisierung von Devianz“ (S. 262) durch die Versuche, aus körperlichen Merkmalen Rückschlüsse auf potenzielles Deliktverhalten zu ziehen. In diesem Zusammenhang analysiert Becker die bekannten Bestrebungen des italienischen Psychiaters, Cesare Lombroso, den Typus des „geborenen Verbrechers“ anhand äußerlicher Missbildungen zu definieren und das Böse so definitiv am Körper festzumachen. Im Einklang mit anderen neueren Studien zur Kriminalanthropologie zeigt Becker, wie Lombrosos Kritiker den „geborenen Verbrecher“ allerdings zunehmend umdefinierten. Der „verhinderte Mensch“ des frühen 20. Jahrhunderts war schließlich der „psychopathisch Minderwertige“, der seinen Willen und seine Affekte nicht unter Kontrolle zu halten vermochte.

Die neue Leseart der kriminellen Persönlichkeit hatte sowohl auf der Ebene der kriminologischen Forschung als auch der staatlichen Kriminalpolitik nachhaltige Konsequenzen. So erfuhr die kriminalistische Biografik eine Ergänzung durch genealogische und psychopathologische Aufschreibsysteme wie Krankengeschichten, die die Grundlagen für eine neue Klassifikation der Kriminellen abgaben. Auch die für die Interpretation des „Sündenfalls“ zentralen Momente wie Alkoholkonsum oder Prostitution erhielten neue Bedeutungen. Beide galten nun als Ursache einer „erblichen Belastung“. Kriminologen wie Lombroso oder Erich Wulffen sahen in Prostituierten zudem das weibliche Äquivalent des männlichen Verbrechers. Auf der kriminalpolitischen Ebene hatte das Erzählmuster des „verhinderten Menschen“ eine Akzentuierung des Präventionsgedankens zur Folge. Strafrechtsreformer wie Franz von Liszt und andere Mitglieder der Internationalen Kriminalistischen Vereinigung griffen bereitwillig auf das neue kriminologische Wissen zurück, um eine Neuausrichtung der strafrechtlichen Repression gegen „unverbesserliche Gewohnheitsverbrecher“, „Minderwertige“ und „Gewohnheitstrinker“ zu fordern. Namentlich rückfällige Delinquenten, die wie keine andere Gruppe von Straftätern die Ineffizienz des herkömmlichen Strafensystems verkörperten, wurden um die Jahrhundertwende zunehmend pathologisiert. Wiederholt und zu Recht weist Becker darauf hin, dass die Anschlussfähigkeit des neuen Erzählmusters zu einem guten Teil davon abhing, dass es mit dem Anspruch auftrat, Auswege aus solchen kriminalpolitischen Aporien zu bieten (S. 218, 253, 332, 369).

Beckers Studie zur Entwicklung der Kriminologie im 19. Jahrhundert basiert auf einem weiten Quellenkorpus, der nicht nur zeitgenössische Publizistik sondern auch ausgewählte Archivbestände umfasst, und präsentiert sich als außerordentlich vielschichtig. Sie stellt zweifellos eine wichtige Grundlage für weitere Untersuchungen und Differenzierungen dar. Eine Leistung der Studie liegt insbesondere darin, auf die Kontinuität kriminologischen Denkens im 19. Jahrhundert hingewiesen zu haben. Die Vorstellung, dass eine täterorientierte Kriminologie mit den italienischen Kriminalanthropologen gleichsam vom Himmel gefallen sei, gehört endgültig der Vergangenheit an. Becker zeigt auch, dass diese Kontinuität zu einem guten Teil in der Konstanz der bürgerlichen Wertordnung begründet war, die den Referenzpunkt für beide Kriminalitätsdiskurse des 19. Jahrhunderts abgab. Nicht unproblematisch erscheint dagegen die Ausschließlichkeit, mit der Becker die prägnant auf den Punkt gebrachten Erzählmuster des „gefallenen“ respektive „verhinderten Menschen“ einander gegenüber stellt. Die für die Studie grundlegende These einer Abfolge dieser sich ausschließenden Erzählmuster erscheint stellenweise als „Meistererzählung“, die der Komplexität der historischen Realität kaum in allen Nuancen gerecht wird. Weiter zu differenzieren wäre beispielsweise der Stellenwert, der dem Erzählmuster des „verhinderten Menschen“ innerhalb der Strafrechtdebatte der Jahrhundertwende zukam. Möglicherweise wäre in diesem Zusammenhang statt pauschal von einer „Naturalisierung von Devianz“ eher von einer Pluralisierung der kriminalpolitisch relevanten Delinquentenbilder auszugehen. Dem „unverbesserlichen Gewohnheitsverbrecher“ wäre dann der bedingt Verurteilte, der einmal „Gestrauchelte“, gegenüberzustellen, der von den Strafrechtsreformern gerade nicht als ein gesellschaftlich Anderes betrachtet wurde.

Anmerkung:
1 Vgl. Karsten Uhl, Das „verbrecherische Weib“. Der Diskurs um Geschlecht, Verbrechen und Strafen im 19. und 20. Jahrhundert, unveröffentlichte Dissertation, München 2000 (erscheint 2003 im Lit-Verlag, Hamburg); Richard Wetzell, Inventing the Criminal. A History of German Criminology, 1880–1945, Chapel Hill 2000; Susanne Regener, Fotografische Erfassung. Zur Geschichte medialer Konstruktionen des Kriminellen, München 1999; Mariacarla Gadebusch Bondio, Die Rezeption der kriminalanthropologischen Theorien von Cesare Lombroso in Deutschland von 1880–1914. Husum 1995; Laurent Mucchielli (Hg.), Histoire de la criminologie française, Paris 1994.

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