W. Buschak: Die Vereinigten Staaten von Europa sind unser Ziel

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Titel
Die Vereinigten Staaten von Europa sind unser Ziel. Arbeiterbewegung und Europa im frühen 20. Jahrhundert


Autor(en)
Buschak, Willy
Erschienen
Anzahl Seiten
378 S.
Preis
€ 29,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Reiner Tosstorff, Historisches Seminar, Johannes Gutenberg-Universität Mainz

Wird die Vorgeschichte der Europäischen Union dargestellt, liest man üblicherweise etwa von Aristide Briands Europa-Plan von 1930 oder Richard N. von Coudenhove-Kalergis Pan-Europäischer Bewegung. Das waren, so betont Willy Buschak, Elitenprojekte. Es gab jedoch in der Zwischenkriegszeit auch eine Europakampagne „von unten“. Wortführer der organisierten Arbeiterbewegung traten entschieden für eine Überwindung der nationalstaatlichen Begrenzungen ein. Ebenso bemühte man sich an der Basis mit ersten praktischen Schritten auf einer sehr elementaren Ebene.

Das ist das Thema von Willy Buschaks materialreicher Untersuchung. Entstanden ist sie aus einem Beitrag für eine Tagung im Jahre 2007, bei der es um die Rolle der deutschen Gewerkschaften bei der europäischen Integration ging.1 Was als kurzer Überblick zur Vorgeschichte der Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg gedacht war, stellte sich bei näherem Betrachten als weitaus komplexer und umfangreicher dar als zunächst gedacht. Das Thema ist in der Forschungslandschaft ein Desiderat. Zwar tauchte die Vorstellung einer Art „Vereinigte Staaten von Europa“ bereits im 19. Jahrhundert auf. Doch blieb das weitgehend eine programmatische Forderung, die auf Sonntagsreden beschworen wurde, aber wenig Bedeutung für die Alltagspolitik hatte. Im Übrigen erwartete die europäische Sozialdemokratie, mit ihrer „proletarischen Millionenarmee“ die Kräfte des Nationalismus und Militarismus in Schach halten zu können.

Der August 1914 belehrte sie eines anderen. Während Europa nun als „Mitteleuropa“ unter deutscher Führung auf dem rechten SPD-Flügel als Propagandalosung gegen die Entente und speziell Großbritannien herhalten musste, kam bei der Anti-Kriegsopposition die Losung der „Vereinigten Staaten von Europa“ als Antikriegsprogramm auf. Und nach dem Ende des Krieges war es offenkundig: Die Konfrontation der Nationalstaaten musste durch einen wirtschaftlich und politisch vereinigten Kontinent abgelöst werden. Nur dadurch war der Frieden zu sichern und eine Neuauflage des Kriegs zu verhindern.

Diese Vorstellung wurde nun in zahlreichen Publikationen erörtert, teilweise auch in Beschlüssen niedergelegt, so im SPD-Programm von 1925. Eine breite Diskussion entwickelte sich über konkrete Begründungen und Formen. Gab es dafür überhaupt eine Bereitschaft? Was genau sollte zu einem solchen Europa gehören, wenn etwa Großbritannien noch nach Übersee ausgerichtet war? Und auch Russland unter den Sowjets beschritt einen besonderen Weg. Konsens war allerdings, dass Grundvoraussetzung und Kern einer jeder europäischen Einigung eine Art Aussöhnung von Deutschland und Frankreich sein müsse.

Mindestens genauso wichtig war die Diskussion über die konkrete Gestalt jedweder europäischer Vereinigung, zu der zahlreiche Vorschläge über eine Aufhebung der Zollschranken und Maßnahmen zur wirtschaftlichen Angleichung (und nicht zuletzt zum Ausgleich der Folgen solcher Rationalisierungsmaßnahmen) formuliert wurden – oft mit dem ausdrücklichen Verweis, dass nur eine solche Zusammenarbeit die Möglichkeit bieten könne, sich der durch den Krieg übermächtig gewordenen Konkurrenz aus den USA zu erwehren.

Während die reale Politik der zwanziger Jahre allerdings nur wenige konkrete Ausgangspunkte bot – ein Versuch etwa war die zeitweilige „Bodensee-Internationale“ von Kräften aus den drei Anrainerstaaten –, wurde nun das gesteigerte Interesse, Begegnungen auch jenseits der nationalen Grenzen zu machen, wichtiger. Ein spezifischer europäischer Arbeitertourismus entwickelte sich, der die Organisierung der Freizeit ausdrücklich mit dem politischen Anspruch verband, andere Länder kennenzulernen, auch wenn dies aufgrund der ganzen sozialen Bedingungen nur eine beschränkte Teilnehmerzahl erreichte.

Das Thema Europa war somit in den zwanziger Jahren nicht mehr wegzudenken, auch wenn es bei einer letztlich nur theoretischen Diskussion blieb, diese allerdings die Akteure der Politik nicht unbeeinflusst ließ. Die Weltwirtschaftskrise und vor allem die Errichtung der NS-Diktatur stellten dann aus offensichtlichen Gründen einen Einschnitt dar, dessen Auswirkungen auf die Vorstellungen von Europa Buschak aber nicht mehr nachgeht.

Der Autor hat diese ganze Entwicklung in vielen Verästelungen und Nuancen, die hier nicht alle referiert werden können, mit einer ungeheuren Zitatenmasse von Äußerungen aus den unterschiedlichsten Strömungen der europäischen Arbeiterbewegung, jedoch mit dem Schwerpunkt auf der Sozialdemokratie und den ihr nahestehenden Gewerkschaften, detailliert nachgezeichnet. Im Vordergrund steht die deutschsprachige Arbeiterbewegung, auch wenn immer wieder, eher unsystematisch, auf andere Länder verwiesen wird. Bei oberflächlichem Durchblättern kann man leicht von einem Gefühl der Unübersichtlichkeit beschlichen werden. Doch hat Buschak seine Darstellung, wie beim genaueren Hinschauen leicht erkennbar wird, thematisch dennoch deutlich strukturiert.

Ein Kriterium dafür, vom Autor aufgenommen zu werden, war die Position, dass der Nationalstaat für die Produktivkräfte zu klein geworden war und deshalb durch eine wie auch immer konkret geartete europäische Vereinigung abgelöst werden müsse. Jedoch kann man sich fragen, ob mit der Anführung von Europa auch immer dasselbe gemeint war, wenn Buschak die entsprechenden Nennungen aneinanderreiht, ohne dabei größer zu differenzieren. Zwischen rechten SPD-Mitgliedern wie Max Cohen und Richard Calwer auf der einen Seite und einem entschiedenen Linkssozialisten wie Edo Fimmen klafften in ihrem Verständnis eines Europas – sozialistisch oder kapitalistisch? – sicher Welten, gar nicht erst zu reden von bolschewistischen Propagandisten der „Vereinigten Sozialistischen Staaten von Europa“ wie Leo Trotzki.

Buschaks Abschnitt über die kommunistische Haltung ist zudem etwas ungenau, weil er zwar richtig darauf verweist, dass es über die Europa-Losung zwischen Trotzki – der sie schon unmittelbar nach Ausbruch des Weltkriegs aufgestellt hatte – und Lenin – sie sei „utopisch“, da im Kapitalismus nicht zu verwirklichen – zur Kontroverse kam. Doch die Kommunistische Internationale stellte sie dann bereits 1923, im Kontext der Ruhr-Krise, wieder auf, damit zweifellos in einer Situation, für die sie genau gedacht war. Gestrichen wurde sie dann im Jahre 1928 von Stalin aus Nikolai Bucharins Programmentwurf für die Kommunistische Internationale.2 Für den „Sozialismus in einem Land“ der Sowjetunion brauchte es keine europäische Perspektive, wie sie eigentlich bei der Bildung der UdSSR angestrebt war, die ja nicht eine Art Wiedergänger des russischen Staates sein sollte, sondern als Kern einer europäischen Räteunion gedacht war. Doch Stalins Logik entsprechend wurde dann auch nach 1945 im „sozialistischen Lager“ nie ein übernationales Vereinigungsprojekt in Angriff genommen.

Bleibt die Frage, was insgesamt davon als Vermächtnis geblieben ist. Buschak verweist auf einige Verbindungslinien, die sich etwa zur Bildung der Montanunion – als einer der Vorläuferinstitutionen der Europäischen Union – ziehen lassen. Doch insgesamt dürfte sich angesichts der sehr breit gefächerten Vorstellungen ein direkter Zusammenhang zur konkreten Gestalt des heutigen Europas kaum herstellen lassen, allenfalls in der Verbreitung und Verstärkung der allgemeinen Idee der Schaffung eines supranationalen Zusammenschlusses. Aber auch das ist schon deutlich mehr, als im allgemeinen die Historiographie vermerkt. Buschak hat damit auf eine wichtige Lücke in unserer Wahrnehmung hingewiesen und dazu einen gut fundierten und verdienstvollen Beitrag geleistet. Er sollte auch Anstoß zu weiteren Forschungen, nicht zuletzt zu systematischen Untersuchungen über den deutschen Sprachraum hinaus, geben.

Anmerkungen:
1 Willy Buschak, Der große Umbau der europäischen Wirtschaft: Die Arbeiterbewegung der Zwischenkriegszeit und die europäische Einigung, in: Mitteilungsblatt des Instituts für soziale Bewegungen 42 (2009), S. 25–42.
2 Alexander Vatlin, Trotsky and the Comintern in 1928, in: Terry Brotherstone / Paul Dukes (Hrsg.), The Trotsky Reappraisal, Edinburgh 1992, S. 53–69, hier S. 57.

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