K. Patzel-Mattern: Geschichte im Zeichen der Erinnerung

Cover
Titel
Geschichte im Zeichen der Einnerung. Subjektivität und kulturwissenschaftliche Theoriebildung


Autor(en)
Patzel-Mattern, Katja
Reihe
Studien zur Geschichte des Alltags 19
Erschienen
Stuttgart 2002: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
339 S.
Preis
€ 68,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Anja Augustin, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Bei der vorliegenden Veröffentlichung handelt es sich um die bei Prof. Dr. Clemens Wischermann und Prof. Dr. Hans-Ulrich Thamer eingereichte Dissertation der Autorin, die von der Philosophischen Fakultät der Universität Münster angenommen wurde.

Katja Patzel-Mattern nennt ihre Arbeit eine „Studie über die Bedeutung des eigenen Lebens als Zugang zur Geschichte“ (S. 155), die "nach Formen der Aneignung, Verarbeitung und Bewertung von Vergangenheit" (S. 202) sucht. Sie will damit im Rahmen der kultur- bzw. geschichtswissenschaftlichen Debatte um den Begriff des Erinnerns und des Gedächtnisses „einen Beitrag zur Grundlegung eines erinnerungsgeleiteten Umgangs mit der Geschichte“ (S. 7) leisten. Dazu greift sie auf eine wissenschaftliche Diskussion der Jahrhundertwende (1900) zurück, als deren Ziel sie die „Bedeutung subjektiver Lebensvollzüge für die Ordnung der menschlichen Welt“ (S. 14) definiert.

Katja Patzel-Mattern stellt sich die Aufgabe, die erinnerungstheoretischen Überlegungen von sechs Autoren – Henri Bergson, Sigmund Freud, Wilhelm Dilthey, Georg Steinhausen, William James und Georg Simmel – in Einzelanalysen zu erarbeiten, um in einem nächsten Schritt deren Begrifflichkeiten zu systematisieren und neu zu ordnen. Daraus entwickelt sie ein erinnerungstheoretisches Konzept, das sie für die aktuelle geschichtstheoretische Diskussion fruchtbar machen will. Sie begründet ihr Vorhaben – „eine wissenschaftshistorische Analyse von Ansätzen, die der individuellen Erinnerung konstitutiven Charakter für die Identität der Person und die Entstehung von Geschichtsbildern zusprechen“ (S. 48) – mit dem Hinweis auf ein zunehmendes gesellschaftliches Bedürfnis nach lebensgeschichtlichen Deutungen der Vergangenheit.

Sie konstatiert, dass eine „konzeptionelle Auseinandersetzung mit dem subjektiven Erinnerungsprozess und seiner Bedeutung für die Vergangenheit nicht stattgefunden hat“ (S. 15), im Gegensatz zu Forschungen, die sich mit kollektiven Sinnstiftungsprozessen befassen. Deren wichtigste Vertreter und Ansätze stellt sie im Forschungsüberblick vor: Von Maurice Halbwachs´ kollektiver Gedächtniskonzeption und Jan Assmanns Ansatz des kulturellen Gedächtnisses über das soziale Gedächtnis nach Peter Burke, Alessandro Cavalli und Jacques LeGoff hin zum nationalen Gedächtniskonzept von Thomas Nipperdey, Pierre Nora und Aleida Assmann. Abschließend gibt sie eine exemplarische Übersicht über empirische und systematische Studien zur Bedeutung des kollektiven Gedächtnisses und der individuellen Erinnerung.

Im ersten Kapitel gibt Patzel-Mattern einen wissenschaftsgeschichtlichen Überblick über historische Vorstellungen und naturwissenschaftliche Konzeptionen der Ordnung des Gedächtnisses. Im Kontext der historischen Vorstellungen unterscheidet sie auf metaphysischen und auf empirischen Herangehensweisen beruhende Traditionen des Wissenschaftsverständnisses. Mit der Antike beginnend legt sie die unterschiedlichen wissenschaftsgeschichtlichen Strömungen dar. Anschließend wird von der Antike über das christliche Mittelalter bis hin zum Idealismus der Moderne die philosophiegeschichtliche Entwicklung des Erinnerungsbegriffs im Hinblick auf einen individuellen Zugang zu Geschichte konstruiert. Als Gegenposition benennt sie den Historismus und grenzt die von ihr gewählten subjektzentrierten Ansätze dagegen ab.

In der Darstellung der naturwissenschaftlichen Ansätze, die das Gedächtnis als Speicher vorstellen, geht Patzel-Mattern auf die experimentelle und physiologische Gedächtnispsychologie der o.g. Jahrhundertwende ein. Sie zeigt auf, dass diese Ansätze das Gedächtnis als objektiv und überindividuell beschreiben und analytisch nicht an der Kreativität und Synthesefähigkeit des Gedächtnisses interessiert sind, sondern an dessen „Reproduktivität“ (sic, S. 70). Dagegen grenzt sie die ihrer Untersuchung zugrunde liegenden Ansätze ab, die teilweise auf der experimentellen und physiologischen Forschung gründen, für die aber eine subjektivistische Ausrichtung konstitutiv ist.

Im umfangreichsten zweiten Kapitel widmet sich die Verfasserin der Analyse der ausgewählten Autoren, wobei sie sich besonders auf Bergson, Freud, Dilthey und James konzentriert, die sie als die Wichtigsten nennt. Hier stellt sie die Frage, inwiefern diese den Erinnerungsbegriff „als Vermittlungsinstanz im Spannungsfeld von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft einerseits, Individuum und Gesellschaft andererseits konzipieren“ (S. 15). Sie folgt in ihrer inhaltlichen Gewichtung der Ausrichtung der Autoren. Demnach ist bei Bergson und Freud – welche die einzigen Vertreter sind, die ein geschlossenes Theoriegebäude zum Erinnerungsbegriff vorgelegt haben – die „Konzeption der individuellen Erinnerung und ihrer Wirkung“ zentral, während bei Dilthey das Interesse auf „der Bestimmung der lebensgeschichtlichen Perspektive und ihrer Darstellung in der Autobiographie“ liegt (S. 15). Für James konstatiert Patzel-Mattern die Erweiterung der „Perspektive um den Aspekt der Pluralität des eigenen Lebens und seiner Sinnstiftungen“ (S. 15f.). Steinhausen und Simmel werden ergänzend unter dem Aspekt der „Verbindungen von subjektiven Vergangenheitsdeutungen und Geschichte sowie von Individuum und Kollektiv“ (S. 16) herangezogen.

Sie beginnt jedes Unterkapitel mit der wissenschaftshistorischen Einordnung von Lebenslauf, Werk und Rezeption des jeweiligen Autors. Das Ergebnis ihrer Analysen zeigt die zentrale Bedeutung, die die genannten Forscher der eigenen Vergangenheit als Zugang zur Geschichte einräumen.

Zu Beginn des dritten Kapitels hebt Patzel-Mattern die lebensphilosophische Ausrichtung als verbindendes Element zwischen ihnen hervor und betont, dass der von ihr als zentral bezeichnete Aspekt der Selbsterfahrung in der wissenschaftlichen Rezeption vernachlässigt worden sei. In Anlehnung an Thomas Kuhn sieht sie den Grund hierfür darin, dass diese Reflexionen über die Prozesse der Aneignung von und den Umgang mit Geschichte „Anomalien der historistisch geprägten Normalwissenschaft ihrer Zeit“ (S. 245) darstellen. Demnach wurde es erst durch die Kritik an den `big stories´ im Zuge der postmodernen Diskussion möglich, einen Zugang zu finden.

Im Gegensatz zum vorherigen Kapitel, in dem Patzel-Mattern den Gedankengängen der Autoren folgt, löst sie deren Argumentationsstränge nun auf, um die Begriffe zu systematisieren und die so entstandenen Einheiten zu einer neuen Konzeption zusammenzustellen. Sie will diese um konstruktivistische und pragmatische Denkansätze erweitern, wobei sie sich von radikalkonstruktivistischen Positionen abgrenzt und sich an der sozialkonstruktivistischen Argumentation Peter Bergers und Thomas Luckmanns orientieren will. Zentrale Bedeutung bei der Grundlegung eines erinnerungstheoretischen Ansatzes misst die Autorin dem Verhältnis von subjektiver Erinnerung und kollektiven Deutungsmustern bei. In diesem Zusammenhang verdeutlicht sie den argumentationslogischen Zirkelschluss der von ihr untersuchten Ansätze (mit Ausnahme von James): „Anstatt die Differenz jedoch als maßgeblichen Faktor des Erkennens zu akzeptieren, versuchen sie, diese im Begriff des Lebens aufzulösen, der dadurch Gefahr läuft, zu einer metaphysischen Größe erhoben zu werden“ (S. 292). Dabei hebt sie auf den inneren Widerspruch ab, der sich ergibt, indem die konstruierte erinnerungsgeleitete Selbstverortung des Einzelnen an die gegebene äußere Welt rückgebunden werden muss und sich in für die Außenwelt erfahrbaren Handlungen realisiert. Die Autorin zeigt, dass letztlich auch kollektive Erinnerung auf Sinnstiftungen gründet, die dem Lebenskonstrukt des Einzelnen entstammen.

Im Vierten Kapitel fasst sie noch einmal die analysierten Ansätze und ihr im vorhergehenden Kapitel entwickeltes erinnerungstheoretisches Konzept zusammen. „Erinnerung stellt damit eine selbständige Weise historischen Erkennens dar, die sich nicht durch die Addition der Introspektion im Modus der Vergangenheit mit dem gegenwärtigen Erleben erklären lässt. Diese würde eine Identitätsannahme zugrunde legen, die im Eigenen das Allgemeine erkennt. Die Erinnerung hingegen ist durch ihre Prozessualität und permanente Differenzerfahrung definiert. Sie verweist auf die Konstruktivität der Wandelbarkeit historischer Sinnstiftung, die zur Voraussetzung jeder Form subjektiver oder kollektiver Identitätsbildung werden und eröffnet auf diese Weise den Blick auf die Pluralität der Geschichten.“ (S. 307)

Um den von ihr konstatierten, auch gesamtgesellschaftlich wirksamen Paradigmenwechsel von der Objektivität der Geschichte zur Subjektivität der Erinnerung aufzuzeigen, verweist Patzel-Mattern auf die Gedenkfeierlichkeiten zum 50. Jahrestages des Kriegsendes. Sie bespricht zwei Fernsehdokumentationen, die sie als exemplarisch für die Thematisierung von Differenz- und Konflikterfahrung subjektiver Erinnerung heranzieht. Bezüglich des Wissenschaftsverständnisses betont die Autorin, dass ihr Ansatz sich gegen eine Geschichtsauffassung wende, die auf Homogenität und Objektivität abzielt und dass eine objektive Erkenntnis des Historikers nicht möglich sei, da diese durch dessen Einbindung in die je eigene Lebenswelt beeinflusst ist.

Fazit: Auch wenn die Schlussfolgerungen keine wirklich neuen Erkenntnisse bringen, so sind die Analyse und Einbindung der älteren Ansätze in ein erinnerungstheoretisches Konzept interessant und für das Verständnis der Geschichte des „Erinnerns“ hilfreich.

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