E. Kubů u.a. (Hrsg.): Agrarismus und Agrareliten in Ostmitteleuropa

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Titel
Agrarismus und Agrareliten in Ostmitteleuropa.


Herausgeber
Kubů, Eduard; Lorenz, Torsten; Müller, Uwe; Šouša, Jiří
Anzahl Seiten
686 S.
Preis
€ 45,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Kurt Scharr, Österreichische Akademie der Wissenschaften, Innsbruck

Obwohl die Erforschung ländlicher Räume an den Universitäten Mitteleuropas auf eine bereits mehr als 100-jährige Tradition zurückblickt, zeigen sich nach wie vor erhebliche Lücken. Die Passivität, in die dieser Raum mit der schrittweisen Industrialisierung zugunsten der urbanen Zentren gerutscht ist, spiegelt sich auch in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung damit wider. Am Beginn des 20. Jahrhunderts sah sich zumindest die deutschsprachige Wissenschaft vielfach gefordert, in der Erforschung bäuerlicher Rechtsstrukturen, kultureller Traditionen etc. auf regionaler Ebene aus einer gewissen Verlustangst heraus einen Beitrag zur Erhaltung vermeintlicher Rückzugsgebiete des „Wahren“ und „Originellen“, bisweilen auch als „unverdorben“ empfundenen Raumes zu leisten. Periphere Gebiete waren dafür geradezu prädestiniert. Zwei zentrale Eigenschaften schienen diesen Ansatz von vornherein zu leiten: der weitgehend fehlende Vergleich von Regionen untereinander, der unter anderem den in dieser Hinsicht noch wenig ausdifferenzierten Wissenschaftszweigen (Agrargeschichte, Agrargeographie, Kulturlandschaftsforschung etc.) geschuldet war; und der Grundannahme immanenter Passivität des ländlichen Raumes gegenüber den sowohl Richtung als auch Geschwindigkeit der Entwicklung vorgebenden urbanen Zentren. Dazu gehört auch die Tatsache, dass es bis heute im deutschsprachigen Raum de facto an dezidierten (und kontinuierlich existierenden) Forschungseinrichtungen bzw. Institutionen fehlt, die den Facettenreichtum dieses Raumes in seiner ganzen Bandbreite betrachten können.

Seit einigen Jahren versuchen Initiativen hartnäckig, sich dieser strukturellen Desiderate – nicht ohne Erfolg – anzunehmen. Dazu gehört unter anderem das österreichische Institut für die Geschichte des ländlichen Raumes in St. Pölten1, das Geisteswissenschaftliche Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas an der Universität Leipzig sowie die Europa Universität Viadrina in Frankfurt/Oder. An der letztgenannten Einrichtung und ihrer nachgeordneten Forschungsstelle für Wirtschafts- und Sozialgeschichte Ostmitteleuropas (Forschungsschwerpunkt „Europa – Einheit in der Vielfalt“) war zwischen 2007 und 2010 ein Projekt zum Thema „Agrarismus in Ostmitteleuropa 1880–1950“ angesiedelt (Leitung: Helga Schultz, András Vari, Uwe Müller, Alexander Nützenadel). Ein Teil der Projektergebnisse fand – in Kooperation mit Arbeiten des Instituts für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Prager Karls-Universität, die seit 2005 auf einem ähnlichen Feld („Wirtschaftseliten in den böhmischen Ländern/der Tschechoslowakei 1848–1848 im mitteleuropäischen Kontext“; Leitung: Eduard Kubů, Jiří Štaif) arbeitete – Eingang in den zur Besprechung vorliegenden Sammelband, dem 2010 eine gemeinsame Tagung vorausgegangen war. Neben mehreren tschechischen Studien sind dazu seitens des Frankfurter Projektes bereits zwei größere Arbeiten publiziert worden.2

Themenwahl und Bearbeiter, sowie die dahinterstehenden Institutionen sind nicht zufällig. Die Auflösung des vormaligen „Ostblocks“ öffnete nicht nur neue Perspektiven auf bislang politisch verstellt gebliebene Fragestellungen in einem Raum, der seit 1918 sukzessive aus der Wahrnehmung eines westlich verlagerten „Zentraleuropas“ verschwand. Ostmitteleuropa findet in diesem Sammelband konzeptionell und qualitativ eine neue Aufmerksamkeit als historische Großregion, in der Agrareliten vergleichsweise eine ‚Ausnahmestellung‘ zukam und diese zum Teil eine beträchtliche politische Wirksamkeit entfalten konnten (S. 10).

Der einleitenden Studie der Herausgeber („Agrarismus und Agrareliten im östlichen Mitteleuropa“) kommt dabei ein besonderer Wert zu, der weit über übliche Einleitungen hinausgeht. Sie diskutiert nicht nur die nachfolgenden Beiträge sondern webt diese ausführlich in einen für das Gesamtverständnis unerlässlichen Kontext ein. Der Agrarismus des östlichen Mitteleuropa zeigt dabei ein denkbar weites Spektrum und ist nicht von vornherein als reaktionär zu charakterisieren, wie im Allgemeinen politische Bewegungen des ländlichen Raumes oftmals eingestuft werden (S. 20). Einerseits verbindet er eine Idealisierung der Bauernschaft mit der Notwendigkeit von Modernisierung und andererseits wird er zum entscheidenden Impulsgeber wie Träger zivilgesellschaftlicher Strukturen dieses Raumes. Wohl auch um den Überblick in dem fast 700 Seiten umfassenden Kompendium zu bewahren, haben sich die Herausgeber dazu entschlossen, die Beiträge thematisch (mit einer Ausnahme auch räumlich) zu gliedern („Die Formierung der bäuerlichen Agrareliten“; „Intellektuelle und politische Eliten“; „Genossenschaften als Nukleus agrarischer Wirtschaftseliten“; „Tschechischer/tschechoslowakischer und deutscher Agrarismus“; „Elitenwechsel unter autoritären Regimen“). Damit wird die Verschränkung der insgesamt 18 Beiträge zusätzlich gefördert und der Gefahr von zusammenhanglosen, aneinandergereihten Regionalstudien vorgebaut. Zwischen den jeweiligen Blöcken platzierte Studien (Roman Holec, „Intellektuelle Agrareliten in Ost- und Mitteleuropa“; András Vari, „Ländliche Genossenschaften in der Habsburgermonarchie“; sowie Uwe Müller, „Der deutsche Agrarismus in der Zeit des Kaiserreiche“), die stärker eine übergeordnete Thematik ausbreiten, erleichtern den Überblick aus dem unvermeidlichen Dickicht der regionalen Detailstudien erheblich. Geographisch liegt der Schwerpunkt auf dem böhmisch-mährischen (und schlesischen) bzw. später tschechoslowakischen Raum, zwei Beiträge thematisieren Ungarn und jeweils einer widmet sich Polen, Rumänien sowie Slowenien.

Abseits der thematischen Gemeinsamkeit in der Frage nach Herausbildung und Wirksamkeit von Agrarismus und Agrareliten, den aus ihnen hervorgehenden bzw. über sie gebildeten Organisationsverbänden und ihrer institutionellen Genese benennen die Herausgeber schon eingangs ein strukturelles Problem, das methodisch nur schwer in den Griff zu kriegen ist, jenes der regionalen Vielfalt des ostmitteleuropäischen ländlichen Raumes und damit auch der Landwirtschaft. Dass indes der Agrarismus als eine Reaktion aus dem ländlichen Raum heraus zu verstehen ist, unterstreicht dabei die vergleichsweise geringe Rezeption von Konzepten durch transnational kommunizierende Eliten, die sich selbst wiederum von ihrem ländlichen Ursprungsraum durch eine allmähliche „Verbürgerlichung“ zu entfernen begonnen haben (S. 46). Eine weitere überzeugende überregionale und ebenso transnationale Gemeinsamkeit des Agrarismus zeichnet sich in der Lebensdauer des Phänomens ab. Der ostmitteleuropäische Agrarismus konnte sich nur kurze Zeit während der ersten vier Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts, in der zweiten Generation seiner Eliten entfalten. Die dritte Generation war bereits mit seiner (zumeist zwangsweisen) Auflösung durch die politischen Verschiebungen nach 1945 konfrontiert (S. 191f.). Der Krieg (im Falle der Tschechoslowakei schon vorher) bedingte seine entscheidende Schwächung als öffentlichkeitswirksame Bewegung. In Staaten wie Deutschland und Österreich setzte dieser Bedeutungsverlust unter anderem durch das erfolgreiche Inkorporieren dieser Ideen in die Parteienlandschaft noch früher ein.

Die durch die sozialistischen Regimes Ostmitteleuropas nach 1945 sukzessive umgesetzte Totalitarisierung des Staates mündete in vielen Ländern dieses Raumes (Polen ist hier sicherlich eine bemerkenswerte Ausnahme) in eine weitreichende Auflösung bäuerlicher Verfasstheit (S. 645). Der hilflose Verweis der neuen tschechoslowakischen Regierung auf die erfolgreiche Tradition genossenschaftlicher Organisationsformen in der ČSR vor dem Krieg brachte – unter Umgehung der doch grundlegenden Freiwilligkeit – keinen Attraktivitätszuwachs für die obrigkeitlich installierten kollektiven Wirtschaftsformen (S. 689).

Die strukturelle Heterogenität zeigt sich auch im Themenkomplex Agrarismus und Nationalbewegung (S. 82) etwa an den Beispielen des cisleithanischen Reichsteils der Habsburgermonarchie und – noch wesentlich ausgeprägter – im Russischen Reich. Hier sind die Unterschiede zwischen Kernland und russisch Polen (auch Bessarabien) sowie den baltischen Provinzen enorm. Die übergeordnete gemeinsame Staatlichkeit als Klammer der Moderne suggeriert in Russland Einheitlichkeit, der indes auf der maßstäblich größeren Regionsebene der Peripherie eine vormoderne Vielfalt gegenübersteht, die – wenig überraschend – den Neuerungen flexibler entgegentritt als das Zentrum.

Die Problematik des Vergleichs eines so heterogen aufgebauten Raumes wird auch in den einzelnen Beiträgen deutlich, besonders am Beispiel der Tschechoslowakei. Während Böhmen, Mähren und (österreichisch) Schlesien zu Cisleithanien gehörten, existierte die Slowakei – aufgeteilt in Komitate – staatsrechtlich überhaupt nicht als Entität im ungarischen Reichsteil. Daher bleibt in den betreffenden Studien die slowakische Facette vergleichsweise unscharf, bzw. unvollständig (vgl. Vlastislav Lacina und Josef Harna). Andernorts vermeint man eine gewisse Verteidigungshaltung gegenüber immanenten Magyarisierungsvorwürfen (etwa durch das Genossenschaftswesen in Ungarn vor 1918) für den oberungarischen Raum zu verspüren, die argumentativ nicht überzeugend ausgeräumt werden (Vari; S. 255f., 273f. und 275). Selbst im Falle der rigiden Kollektivierungsmaßnahmen in der ČSSR kann flächendeckend nicht von einer „fast vollständigen Auslöschung der Bauernklasse“ (Burešová, S. 645) gesprochen werden. Was für die agrarischen Zentralräume seine Gültigkeit haben mag, stellt sich in den (aus der Sicht der Zentralmacht weniger bedeutenden) gebirgigen Peripherregionen der slowakischen Karpaten anders dar. Noch viel inhomogener präsentiert sich die Ausgangsstruktur im Kompositum des rumänischen Staates nach 1918, der hier allerdings nicht näher thematisiert wird. Der Rumänien gewidmete Beitrag erscheint zunächst thematisch überraschend gewählt (Anca Gogîltan, „Cultural Agrarianism“). Die vorgestellten Künstlerbiographien bieten eine (aus der Perspektive der Geschichtswissenschaften nur selten wahrgenommene) Möglichkeit, die Verflechtung von nationaler Ideologie, ihrer Konstruktionsleistung und Rückwirkung auf das vermeintliche Ausgangssubstrat – den als traditionell postulierten ländlichen Raum – bildhaft aufzuzeigen. Zudem besitzen gerade Bilder eine ungleich nachhaltiger, bis in die Gegenwart heraufreichende Wirkung – oftmals ganz im Gegensatz zu ideologischen Strömungen, die im Alltag weit schwerer zu fassen sind.

Zusammenfassend unterstreichen die im vorliegenden Sammelband zur Diskussion gestellten hervorragenden Beiträge exemplarisch die Bedeutung einer intensiven Beschäftigung mit dem ländlichen Raum auf maßstäblich differenzierten Zugriffsebenen, ohne jedoch dabei den methodisch so gewinnbringenden Ansatz des immanenten Vergleichs – wie er hier erfolgreich eingesetzt wird – außer Acht lassen zu müssen. In technischer Hinsicht bleibt lediglich anzumerken, dass es praktischer gewesen wäre, die zitierte Literatur zumindest beitragsweise übersichtlich zu bündeln, um die mühsame Arbeit damit in den Fußnoten zu umgehen.

Anmerkungen:
1 Vgl. Dietmar Müller / Angelika Harre (Hrsg.), Transforming Rural Societies. Agrarian Property and Agrarianism in East Central Europe in the Nineteenth and Twentieth Centuries (= Jahrbuch für Geschichte des ländlichen Raumes 2010), Innsbruck 2011.
2 Angela Harre, Wege in die Moderne. Entwicklungsstrategien rumänischer Ökonomen im 19. und 20. Jahrhundert (= Studien zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte Ostmitteleuropas 18), Wiesbaden 2009; Helga Schultz / Angela Harre (Hrsg.), Bauerngesellschaften auf dem Weg in die Moderne. Agrarismus in Ostmitteleuropa 1880 bis 1960 (= Studien zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte Ostmitteleuropas 19), Wiesbaden 2010.