F. Guirao u.a. (Hrsg): Alan Milward and a Century of European Change

Cover
Titel
Alan S. Milward and a Century of European Change.


Herausgeber
Guirao, Fernando; Lynch, Frances; Ramirez Pérez, Sigfrido M.
Reihe
Routledge Studies in Modern European History 17
Erschienen
Oxford 2012: Routledge
Anzahl Seiten
634 S.
Preis
€ 202,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Thomas Weißmann, Philosophische Fakultät, Technische Universität Chemnitz

Im wissenschaftlichen Betrieb ist es gängige Praxis, dass das Lebenswerk verdienter Forscher durch seine Weggefährten mit einer Festschrift geehrt wird. Im Falle des 2010 verstorbenen britischen Wirtschaftshistorikers Alan S. Milward, wurde ein Sammelband verfasst, der 23 Aufsätze von Alan Milwards ehemaligen Weggefährten zu Themen der Wirtschaftsgeschichte und der europäischen Integration vereint.

Die verschiedenen Artikel werden von einer über 100 Seiten umfassenden Einleitung sowie einem Schluss eingerahmt. Während sich die Einleitung akribisch dem Forscherleben Milwards widmet, geht der Schlussteil auf die wichtigsten Ergebnisse der vorhergehenden Aufsätze ein und weist zukünftige Forschungsperspektiven zum interdisziplinären Umgang mit der europäischen Integration auf. Abgerundet wird das Buch von einem großzügig ausgestatteten Anhang, der neben Sachregister, Abkürzungs- und Literaturverzeichnis Milwards Karriere Schritt für Schritt nachzeichnet und auch alle von Milward betreuten Promotionen aufführt.

Trotz der Vielfalt der Themen, die sich von nationalsozialistischer Wirtschaftspolitik im besetzten Europa über die Wirtschaftsgeschichte im 19. Jahrhundert bis hin zur europäischen Nachkriegsgeschichte erstreckt, ist das Buch zumeist kurzweilig und für Laien sowie Kenner europäischer Wirtschaftsgeschichte informativ. Dafür sorgen unter anderem die in der Einleitung und einzelnen Artikeln zitierten Rezensionen, die die zeitgenössischen Diskussionen rund um Milwards Veröffentlichungen anschaulich darstellen. Der Sammelband spiegelt die kritischen Reaktionen wider, die beispielsweise Milwards Pionierstudien über die nationalsozialistische Wirtschaftspolitik im besetzten Europa1 oder die Beitrittsgeschichte Großbritanniens zur Europäischen Gemeinschaft2 ausgelöst hatten.

Wie Fernando Guirao und Frances Lynch in der Einleitung und James Ellison in seinem Artikel herausarbeiteten, gesteht Milward in dieser Studie der britischen Regierung eine klare Strategie in den Beitrittsverhandlungen zu, sich neben der europäischen Integration auch das Commonwealth als wirtschaftlichen Vorzugsraum beizubehalten und sich ebenso als Mittelmacht zwischen den USA und der UdSSR zu positionieren. Milward identifizierte aber auch klare strategische Versäumnisse und bezeichnete den Rückzug der Briten von den Verhandlungen über die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft als Fehler in der Annahme, dass diese Verhandlungen letztendlich an den französischen Interessen scheitern würden (S. 108f.).

Weiterhin befasst sich die Einleitung mit den Forschungsansätzen von Alan Milward, die neue wissenschaftliche Perspektiven eröffneten. Seine Vorgehensweise wird dahingehend charakterisiert, dass er globale Phänomene auf nationale zurückführe, um eine Synthese zwischen nationalen ökonomischen Zielen und der Außenpolitik in einer Welt, die immer mehr von gegenseitiger Abhängigkeit geprägt ist, zu schaffen. Auch seine Annahme, dass der Wandel in der europäischen Wirtschaftspolitik kein abrupter, sondern ein gradueller Prozess sei, vermag Milward überzeugend in seinen Studien über die europäische Agrarpolitik aufzuzeigen. (S. 66f.) Kritikpunkte an seinen Auffassungen führt Eamonn Noonan in seinem Artikel zusammen, etwa dass Milward in seinen Studien immer nur Mittelpositionen eingenommen (S. 284) und die Rolle der europäischen Zwischenkriegswirtschaft nur ungenügend berücksichtigt hätte (S. 297). Ebenso wird ihm eine Abneigung gegen die sogenannten „Heiligen“ des europäischen Einigungsprozesses wie Schuman oder Monnet nachgesagt, weswegen deren Verdienste in Milwards Werk stets unterbelichtet geblieben seien und auch zu manchen Verstimmungen zwischen Milward und Politikern geführt haben (S. 394).

Weitere wichtige Themenfelder des Sammelbandes sind Milwards Thesen zur ökonomischen Dimension des Blitzkrieges und des Marshallplans. Diesen interpretiert Milward als eine Zahlungskrise und nicht als Antwort auf eine vermeintliche Wirtschaftskrise in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg und sei mit seiner Zielsetzung gescheitert, den Handel in Europa zu liberalisieren (S. 78). Dies löste ähnlich wie seine Thesen zum Blitzkrieg heftige Debatten aus (S. 69f.).

Auch heute noch beeinflussen Milwards Studien die wissenschaftliche Forschung, was von Pedro Lains in seinem Artikel über die europäische Peripherie gewürdigt oder von Johnny Laursen in seinem Artikel über Milwards Einfluss auf die skandinavische Forschung wirtschaftlicher Prozesse veranschaulicht wird. Milwards Thesen zur Bedeutung der nationalen Parlamente bestehen wie seine Studie zur nationalsozialistischen Besatzungspolitik in Norwegen weiterhin den Aktualitätstest (S. 504), selbst wenn Milwards Positionen zum Blitzkrieg in neueren Studien zunehmend herausgefordert werden (S. 57f.).

Zu kritisieren ist dieser Sammelband lediglich in seiner Unausgewogenheit beim Themenzuschnitt der Artikel, die eine gewisse Redundanz zu Tage fördert. Zwar wird fast jedes Thema aus Milwards Forscherleben mit mindestens einem Artikel gewürdigt und auch nicht auf der Hand liegende Verbindungen zu Milwards Forschung gezogen, etwa wenn Guðmundur Jónsson die isländische Orientierung am dänischen Landwirtschaftsmodell im 19. Jahrhunderts analysiert oder Maud Anne Bracke die Öffnung der Italienischen Kommunistischen Partei in den 1960er- und 1970er-Jahren mit den Ergebnissen von Milwards Forschungen in Einklang bringt. Dennoch fehlt zumindest ein Artikel, der sich explizit mit der deutschen Besatzungspolitik in Frankreich beschäftigt, während Norwegen unter deutscher Besatzung in einem Beitrag von Hans Otto Frøland über die Aluminiumproduktion gewürdigt wird. Trotz zahlreicher Hinweise auf die nationalsozialistische Großraumwirtschaft hätte dieses Thema ebenso einen eigenen Artikel verdient, selbst wenn Frøland zumindest thematisiert, inwiefern sich Unternehmen gegen die nationalsozialistische Wirtschaftskontrolle wehren konnten (S. 157f.) oder John Gillingham in seinem Artikel über das frühe Werk Milwards hervorhebt, welche Probleme die NS-Wirtschaft in Frankreich hatte (S. 136f.) und dass man dank Milwards Studien über die NS-Wirtschaftspolitik die nationalsozialistische Herrschaftsstruktur nicht mehr als monolithisches Gebäude auffassen könne (S. 148). Im Gegensatz zu dieser etwas dürftig geratenen Betrachtung der nationalsozialistischen Wirtschaftspolitik gibt es gleich drei Artikel (Ranieri, Witschke, Barthel), die sich mit der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) – wenn auch aus verschiedenen Blickwinkeln – beschäftigen, an die sich weitere Artikel über die US-amerikanischen Wirtschaftsinteressen in Europa (Romero) und den Marshallplan (Ellwood, Harryan) anschließen.

Dieses thematische Ungleichgewicht wird vor allem durch die Artikel kompensiert, die Milwards Forschung theoretisch analysieren und mit anderen Disziplinen in Einklang bringen. Wilfried Loth beschäftigt sich mit der Frage, ob Milward als Antipode zu Walter Lipgens gesehen werden kann und kommt zu dem Schluss, dass die Ideen der beiden zur europäischen Nachkriegswirtschaft durchaus kompatibel seien, etwa weil sie dahingehend übereinstimmen, dass die Nationalstaaten zu schwach waren und sich deswegen auf zwischenstaatlicher Ebene verständigen mussten (S. 258f.). Der Artikel von Ben Rosamond beleuchtet das Verhältnis zwischen Geschichts- und Politikwissenschaften und beschäftigt sich mit der Kritik von Milward an Neofunktionalisten im Speziellen und Politikwissenschaftlern im Allgemeinen, die Theorie über die Quellen stellen und damit Gefahr laufen, zu sehr zu verallgemeinern (S. 389f.). Dass eine Debatte zwischen den einzelnen Disziplinen dennoch fruchtbar verlaufen kann und für zukünftige Analysen des Europäischen Integrationsprozesses unabdingbar ist, hebt Sigfrido Ramírez Pérez im Schlussteil der Festschrift hervor. Milwards akademisches Werk, welches Pérez als „document-based, evidence-driven, knowledge enhancing“ (S. 508) beschreibt, hat nicht nur den Beweis erbracht, dass Wirtschaftsgeschichte mehr ist als eine retroperspektive Beschäftigung mit wirtschaftlichen Themen, sondern auch in Zukunft bei der Erforschung der Europäischen Integration fruchtbare Ergebnisse – etwa in der Untersuchung von Europakonzepten, Globalisierung, der Rolle von transnationalen Netzwerken oder des Wohlfahrtstaates – erhoffen lässt.

Anmerkungen:
1 Alan S. Milward, The German Economy at War, London 1965.
2 Alan S. Milward/Frank Cass (Hrsg.), The United Kingdom and the European Community. Vol. I: The Rise and Fall of a National Strategy, 1945–1963, London 2002.

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