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Titel
Totale Erziehung in europäischer und amerikanischer Literatur.


Herausgeber
Faber, Richard
Erschienen
Frankfurt am Main 2013: Peter Lang/Frankfurt am Main
Anzahl Seiten
275 S.
Preis
€ 49,95
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Jürgen Oelkers, Institut für Erziehungswissenschaft, Universität Zürich

Die Realität totaler Erziehung ist in den letzten Jahren auf erschreckende Weise sichtbar geworden. Die Öffentlichkeit hat zur Kenntnis nehmen müssen, dass nicht nur in kirchlichen Internaten, sondern auch in Fürsorgeeinrichtungen und reformpädagogischen Landerziehungsheimen sexueller Missbrauch und die Anwendung physischer Gewalt massenhaft aufgetreten sind. In allen Fällen hat eine mächtige Ideologie verhindert, dass ein Verdacht aufkam. Wenn Zeugen sich zu Wort gemeldet haben, dann sind sie nicht gehört worden.

In dieser Situation veröffentlicht der Berliner Literatursoziologe Richard Faber einen Sammelband, der die Thematisierung totaler Erziehung in der Literatur zum Thema hat. Der Band versammelt unterschiedliche Autoren aus verschiedenen Disziplinen, wobei ein breites Spektrum thematisiert wird von der jesuitischen Pädagogik zu Robert Walser, Herman Melville und Mario Vargas Llosa. Der Begriff „totale Institution“ wird, wie nicht anders zu erwarten, mit Erving Goffman in Verbindung gebracht (S. 7), ohne dass deswegen die einzelnen Beiträge auf Goffman zurückgreifen würden. Die „totale Erziehung“ ist eher die begriffliche Klammer der sehr unterschiedlichen Beiträge.

Die Einleitung des Herausgebers ist einerseits eine Kommentierung der Beiträge und andererseits eine sehr knappe und wenig erhellende Skizzierung des Forschungsstandes. Von den Beiträgen stechen aus pädagogischer Sicht vor allem zwei hervor, Justus Ulbrichts Dekonstruktion der Schulerfahrung von Friedrich Nietzsche in der Landesschule Pforta und Daniela Gretz’ Studie über die ästhetische Erziehung als Nationalpädagogik, die vom George-Kreis bis zu Nohls Kodifizierung der deutschen Reformpädagogik reicht.

Ulbricht versucht den Alltag von Schulpforta einschließlich der wenigen Beziehungen von Friedrich Nietzsche darzustellen und die gewohnte Zuschreibung der preußischen Kadettenanstalt zu versachlichen. Dazu gehören auch die institutionelle Entwicklung der Schule und die Veränderungen in den Regelwerken. Über die Rolle des sogenannten „Pennalismus“ gibt es unterschiedliche Quellen, aber die Praxis des Quälens, vor allen Dingen der jüngeren Schüler, wird auch hier nicht zu leugnen sein (S. 96). Auf der anderen Seite hat Nietzsche in Schulpforta lebenslang prägende Vorbilder gefunden und einen exzellenten Fachunterricht erhalten. Und der stärkste Effekt der Schulerfahrung ist der Abfall vom christlichen Glauben (S. 109).

Daniela Gretz, die 2007 über die „deutsche Bewegung“ promoviert hat, zeigt auf, wie die Idee des „Bundes“ im George-Kreis nicht nur auf die Elitenbildung gewirkt hat, sondern auch eine Herausforderung für die Ästhetik von Hermann Nohl gewesen ist. Im Zentrum der Überlegungen Nohls steht nicht die Elite, sondern die Übertragung von Wilhelm Diltheys Konzept der deutschen Bewegung auf die Pädagogik. Der „deutsche Geist“ der Klassik soll am Ende des 19. Jahrhunderts und unter der Voraussetzung der Industrialisierung durch eine neue Erziehung „revitalisiert“ werden (S. 134). Das Ganze wird vorgestellt als „nationalpädagogisches Projekt“ mit entsprechenden Konsequenzen der Totalisierung.

Leider wird Nohls fatale Vorlesung aus dem Wintersemester 1934/35 nicht erwähnt und auch nicht, welche Mühe Nohl hatte, den Glauben an das letztlich nationalsozialistische Projekt von 1934 mit der Realität nach 1945 in Einklang zu bringen. Der Preis sowohl von George als auch von Nohl ist weniger eine totalisierte Erziehung als ein totalitäres Denken.

Interessant sind auch Eckhart Goebels Überlegungen, was im Anschluss an Hermann Hesse und seine Schulkritik ein Schüler ist. "Unterm Rad" gehört heute paradoxerweise zum Kanon der Schullektüre, wobei oft übersehen wird, was Goebel besonders herausstreicht, nämlich dass „Schüler“ bei Hesse ohne Akzeptanz der Institution Schule gedacht werden und es deshalb keine Lehre gibt, außer der einen, nämlich der „strikt individuelle Weg in kompromissloser Einsamkeit“ (S. 141). Hesses "Glasperlenspiel" setzt dabei den letzten Akzent. Elmar Locher verweist darauf, dass Robert Walsers Jakob von Gunthen auch ein „Geldroman“ sei, also nicht nur eine Provokation der Institution Schule (S. 151ff). Leider stand für die Interpretation die Zürcher Dissertation von Petra Moser nicht zur Verfügung, in der darauf hingewiesen wird, dass der "Jakob von Gunten" auch eine Kritik der Wachstumsideologie der Pädagogik darstellt.1 Thomas Schröder versucht hingegen, das Weißbuch von Hermann Melville so zu analysieren, dass die Bewältigung einer totalen Institution sichtbar wird. Es geht um die Gewinnung einer eigenständigen Position außerhalb der strikten Institution der amerikanischen Marine. Wenn die weiße Jacke abgelegt wird, „erlebt sie ihre finale Vernichtung“ (S. 191).

José Morales Saravia benutzt Theoreme aus der Erziehungstheorie von Niklas Luhmann, um Mario Vargas Llosas Roman "Die Stadt und die Hunde" zu analysieren. Das ist erhellend, weil mit Luhmann auf die Paradoxien einer institutionellen Erfahrung geachtet werden kann, die normalerweise von pädagogischen Theorien unterschlagen werden. Jeder Gehorsam in einer Bildungsanstalt ruft Widerstand hervor, jeder Zufall schafft Gegenroutinen und jeder Unterricht muss mit Ungewissheit fertig werden (S. 200).

Zu Beginn des Bandes räumt Jost Eickmeyer mit traditionellen Zuschreibungen auf, die seit jeher über die jesuitische Pädagogik kursieren. Tatsächlich stellte die jesuitische Pädagogik eine globale Bildungsreform dar, die nicht vom Topos des „Kadavergehorsams“ her verstanden werden darf (S. 58). Mit der Jesuitenerziehung verbindet sich nicht nur eine straffe Schulorganisation und eine Neugewichtung der Artes Liberalis, sondern auch eine verbindliche Kodifizierung des Lehrplans im Rahmen einer globalen Institution (S. 61). In diesem Sinne war die jesuitische Pädagogik „total – doch nicht totalitär“. Als Grund wird genannt, dass die weltweite Mission imstande war, sich jeweils unterschiedlichen Kulturen anzupassen und nicht einfach eine „kodifizierte Ratio studiorum“ zu verordnen (S. 74).

Insgesamt bietet der Band ein höchst unterschiedliches Bild. Die Beiträge gehen auf eine Ringvorlesung zurück, die naturgemäß kaum anders als heterogen sein kann. Im letzten Beitrag stellt Reinhart Wolff dar, dass es seit den 1950er-Jahren auch eine Reformgeschichte der Erziehung gibt und dass heute Ansätze der Qualitätsentwicklung diskutiert werden, die für Kinderschutz und Verhinderung von Missbrauch sorgen sollen (S. 257). Tatsächlich hat die Aufarbeitung der deutschen Heimerziehung gezeigt, wie brutal die Praxis in beiden deutschen Staaten gewesen ist und wie langsam die Reform vorangeschritten ist. Erst die öffentliche Aufmerksamkeit seit Frühjahr 2010 hat dazu geführt, dass die „schwarze Pädagogik“2 als Faktum akzeptiert wird und zugleich die heutigen Ansätze der stationären Erziehungshilfe aus dem Dunstkreis des geschlossenen Heims herausgenommen werden. Eine irritierende Pointe ist dabei, dass Katharina Rutschky, die 1977 den Begriff „schwarze Pädagogik“ prägte, 2002 als Mitglied der Redaktion der Neuen Sammlung dafür plädierte, Gerold Becker, den Haupttäter in den Missbrauchsfällen an der Odenwaldschule3, wieder in den Herausgeberkreis aufzunehmen.4 Es ist also nicht ganz leicht, am Schluss auf der richtigen Seite zu stehen.

Anmerkungen:
1 Petra Moser, Nah am Tabu. Experimentelle Selbsterfahrung und erotischer Eigensinn in Robert Walsers "Jakob von Gunten", Bielefeld 2013.
2 Katharina Rutschky (Hrsg.), Schwarze Pädagogik: Quellen zur Naturgeschichte der bürgerlichen Erziehung, Berlin 1977.
3 Jürgen Dehmers, "Wie laut soll ich denn noch schreien?" Die Odenwaldschule und der sexuelle Missbrauch, Reinbek 2011.
4 Christian Füller, Sündenfall. Wie die Reformschule ihre Ideale missbrauchte, Köln 2011, S. 237ff.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
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