R. Sandgruber: Traumzeit für Millionäre

Cover
Titel
Traumzeit für Millionäre. Die 929 reichsten Wienerinnen und Wiener im Jahr 1910


Autor(en)
Sandgruber, Roman
Erschienen
Wien 2013: Styria
Anzahl Seiten
495 S.
Preis
€ 34,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Lisa Kienzl, Graz

Bereits im Vorwort verweist Roman Sandgruber darauf, dass Einkommen und Vermögen noch immer tabuisierte Themenbereiche in der österreichischen Gesellschaft sind. Dem ist vollkommen zuzustimmen, insbesondere wenn man Einkommensunterschiede sowie Verteilungsmechanismen innerhalb der Gesellschaft betrachtet. Auch wenn nun behauptet werde könnte, dass Sandgrubers Buch sich mit einer gesellschaftlichen Schicht beschäftigt, die mehr der Sonnenseite des Lebens zugewandt war, so würde man dabei entweder vom äußeren Schein geblendet werden oder aber außer Acht lassen, dass immer wieder im Text betont wird, in welchem gesellschaftlichen Zusammenhang diese Spitze der Gesellschaft zu betrachten ist. Dies hält Sandgruber auch in seinem Ausblick fest: „Wer sich mit der Armut beschäftigen will, muss bei den Reichen anfangen“ (S. 246). Die Relationssetzung der umfassenden und informativen Datenvielfalt dieses wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Werks ist einerseits anschaulich gestaltet sowie andererseits auch fachlich informativ gehalten. Die inhaltlichen Abschnitte konstruieren sich vollständig um den Begriff Reichtum und teilen sich durch reich werden, reich bleiben, erben, leben und sterben auf unterschiedliche Lebensabschnitte auf. Interessant wäre hier eine noch vertiefendere Auseinandersetzung mit der Problematik des (Wieder-)Armwerdens gewesen, auch wenn diese immer wieder im Text aufgegriffen und im sechsten Kapitel in einem Überblick nachgezeichnet wurde. So zum Beispiel wird der Untergang der Familie Bachrach geschildert, der mit dem Selbstmord des Vaters Julius und der Tochter Stefanie endet. Besonders ansprechend sind die zahlreichen zeitgenössischen Abbildungen sowie auch die Kurzbiographien der 929 Millionärinnen und Millionäre des Jahres 1910. Vor allem ist es durchaus faszinierend, auch heute noch bekannte Namen der österreichischen Gesellschaft in einem historischen Kontext zu entdecken und dem Ursprung ihrer Bekanntheit nachzugehen.

Der erste Abschnitt des Buches behandelt den Status Quo der Gesellschaft zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Österreich. Dabei werden nicht nur die oberen gesellschaftlichen Schichten beschrieben, sondern vor allem wird ein nachvollziehbares Verhältnis der gesamten Gesellschaftssituation dieser Zeit gezeichnet. Natürlich trifft es zu, dass dies für viele nicht das „goldene Zeitalter der Sicherheit“1 war und bereits seit der Mitte des 19. Jahrhunderts gesellschaftliche Spannungen das Millionenreich der Habsburgermonarchie auf die Probe stellten. Dennoch darf hier nicht vergessen werden, dass trotz aller Vorahnungen und Konfliktfelder niemand das tatsächliche Ausmaß der Entwicklungen des 20. Jahrhunderts vorhersehen konnte. Aus der Perspektive der bürgerlichen und wohlhabenden Gesellschaft, die insbesondere unsere heutige kollektive Erinnerungskultur geprägt hat, war dieses Zeitalter – wohl allen Umständen zum Trotz – sicher und golden. Die Flüchtigkeit des Reichtums ist dennoch auch in der Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert spürbar, wie Sandgruber in seiner Einleitung festhält.

Mit dem Thema „Reich werden“ beschäftigt sich der zweite Teil des Buches, der die unterschiedlichen Professionen der reichsten Österreicher beschreibt und kurze Biographien einzelner Personen sowie familiäre, kulturelle, soziale und wirtschaftliche Entwicklungen vom ausgehenden 19. Jahrhundert bis weit ins 20. Jahrhundert hinein nachzeichnet. Dieser weite Überblick, der immer wieder an den Lebensdaten Einzelner festgemacht wird, bietet sowohl Anekdoten, wie die Affäre der Millionärsgattin Risa Thalberg mit dem prominenten Juristen und Politiker Josef Redlich, als auch Zahlen und Fakten der Zeitungsindustrie und ihrer Profiteure. Besonders interessant an diesem Kapitel ist die Aufteilung nach Berufsgruppen und damit auch nach unterschiedlichen sozialen Schichten innerhalb der Gesellschaft. Bankiers, Händler und Industrielle werde hier ebenso in Augenschein genommen wie Universitätsprofessoren, Juristen und Staatsdiener. Auch die Auflistung der unterschiedlichen Einkommensquellen legt Vermögensstrukturen offen. Diese Nachvollziehbarkeit eröffnet für die Leser neue Aspekte im Verständnis der Zusammensetzung von Vermögen und unterschiedlichen Einnahmequellen. Neben biographischen Daten repräsentativer Millionäre und Millionärinnen werden immer wieder kulturgeschichtliche Entwicklungen, wie die Entstehung der Warenhäuser, aufgegriffen und beschrieben. Dabei sind besonders wirtschaftliche Ambitionen außerhalb der Monarchie hervorzuheben.

Im dritten Abschnitt des Buches wird die adelige Gesellschaft, allen voran die Habsburger und ihre Besitztümer, beschrieben. Dabei zeigt sich, dass der sogenannte Geldadel der wirtschaftlich Erfolgreichen auch innerhalb der Habsburgermonarchie im Kommen war. Neben dieser Unterscheidung zwischen ererbtem und erarbeitetem Vermögen zeigt Sandgruber auch eine differenzierte Betrachtung der Rolle der Frau innerhalb dieser Gesellschaftsschicht. Er unterteilt hier insbesondere in steuerliche Kategorien, die offenbaren welcher Grad von Selbstständigkeit eingenommen und welche Aktivitäten in der Gesellschaft von Frauen ausgeführt werden konnten. Die Frage nach der Bedeutung des Judentums in Bezug auf die Verteilung von Reichtum behandelt er am Ende dieses Abschnittes und leitet damit gleich in das nächste Kapitel über, das sich verstärkt mit sozio-politischen Umständen des Reichtums in Wien auseinandersetzt. Sandgruber fragt nach der Bedeutung von Max Webers Kapitalismustheorie in Zusammenhang mit der Verteilung der Millionäre in Wien 1910 und hält richtigerweise fest, dass diese soziologische Theorie in einem sehr speziellen Raum konstruiert wurde. Die Festlegung von Religion als zentraler Kategorie lässt außer Acht, dass es sich dabei nur um ein Kriterium unter vielen handelt. Dabei ist anzumerken, dass Sandgruber eine kritische Auseinandersetzung in seinem Text noch weiter ausführen hätte können.2 Auch die weiteren Abhandlungen zu Kapitalismus und Religion analysieren nun stärker als in den anderen Teilen des Buches die gesellschaftlichen Bedingungen der Zeit und thematisieren zum Beispiel die brisante soziale Frage. Neben Mobilität und Bildung stellten Netzwerke eine wichtige Grundlage für Reichtum dar, auch wenn sie nicht unabdingbare Voraussetzung dafür waren. Der Verweis auf die gesellschaftlich tabuisierte Position von Homosexualität zeigt, dass die Frage nach Sexualität auch in den historisch arbeitenden Disziplinen immer mehr in den Vordergrund rückt und damit Raum für marginalisierte Bereiche lässt.

Raum als soziale Dimension einer gesellschaftlichen Gruppierung bearbeitet Sandgruber im fünften Abschnitt des Buches. Neben Freizeitbeschäftigungen stehen dabei der geographische Raum sowie Statussymbole wie etwa elektrisches Licht im Vordergrund. Vergänglichkeit, durchaus nicht nur in Bezug auf den Menschen selbst sondern auch auf sein Vermögen konstruiert, wird im letzten thematischen Teil behandelt. Dabei steht nun weniger die österreichische Begräbniskultur im Vordergrund, sondern vielmehr das Ende der Habsburgermonarchie und damit auch das Ende finanzieller Stabilität. Nicht nur wirtschaftliche Schwierigkeiten sondern auch das nationalsozialistische Regime und der Holocaust beendeten die finanzielle Stabilität und in weiterer Folge das Leben zahlreicher Wiener Millionärinnen und Millionäre direkt oder indirekt. Die Auflistung zentraler Daten erscheint dabei keineswegs „ermüdend“ (S. 240), wie Sandgruber befürchtet, sondern ist notwendiger Bestandteil einer gesellschaftlichen Erinnerungskultur und ruft das Ausmaß dieser Katastrophe ins Bewusstsein.

Abschließend ist festzuhalten, dass Roman Sandgruber neue Einsichten in die Vermögensverhältnisse des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts gewährt. Diese Transparenz von Daten und Fakten scheint jedoch leider nur in einer historischen Perspektive umsetzbar zu sein. Gegenwärtige Ungleichheiten in der Vermögensverteilung, die sich bei Weitem nicht mehr so transparent und nachvollziehbar erforschen lassen wie in der Vergangenheit, weisen Parallelen im Vergleich mit der Gesellschaft von vor hundert Jahren auf. Dabei bleibt zu wünschen und zu hoffen, dass Sandgruber mit seiner These, dass sich „Geschichte doch nicht wiederholt“ (S. 249) richtig liegt.

Anmerkungen:
1 Stefan Zweig, Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers, 33. Aufl., Frankfurt am Main 2002, S. 14.
2 Eine Zusammenfassung kritischer Betrachtungen findet sich zum Beispiel in Heinz Steinert, Max Webers unwiderlegbare Fehlkonstruktionen. Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, Frankfurt am Main 2010.

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