Cover
Titel
Hitler's Ghettos. Voices from a Beleaguered Society, 1939-1944


Autor(en)
Corni, Gustavo
Erschienen
Anzahl Seiten
358 S.
Preis
£50.00/ € 70,49
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Andrea Loew, Ruhr-Universität Bochum

Wenn über die nationalsozialistische Judenvernichtung geforscht und geschrieben wird, sind die Quellen meist deutsche Dokumente, die Geschichte wird also aus der Sicht der Täter geschrieben. Dem gegenüber steht das offenbar vorhandene Interesse an der Sicht derjenigen, gegen die sich diese Politik richtete. Eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den jüdischen Quellen steht allerdings in der westlichen Historiographie weitestgehend noch aus. Durch sie würden sich jedoch neue Dimensionen für die Geschichtsschreibung des Holocaust ergeben. Es würde deutlich, welche Auswirkungen die nationalsozialistischen Maßnahmen hatten, was sie konkret für den einzelnen Menschen bedeuteten und wie er jeweils darauf reagierte. Verschiedene Interpretations- und Handlungsformen würden hierdurch ebenso deutlich, wie gezeigt werden könnte, dass „die Opfer ja keine anonyme Masse [waren], sondern Individuen, die eine Geschichte bis zum Tod haben“.1

Dass diese Perspektive in der westlichen Historiographie weitestgehend fehlt, liegt sicherlich an der Sprachbarriere, ein Großteil der Quellen - wenn man von den eingangs erwähnten veröffentlichten absieht - liegt nur auf Polnisch und Jiddisch vor; ebenso wurde die umfangreiche polnische Forschung 2 zu diesem Thema im Westen kaum zu Kenntnis genommen.

Umso interessanter ist die Untersuchung von Gustavo Corni, Professor für Zeitgeschichte in Trento, über die von Nationalsozialisten errichteten Ghettos, deren Basis Tagebücher und nachträglich verfasste Erinnerungen bilden. Doch auch diese Studie muss ohne die polnische Forschung zum Thema auskommen. Corni versteht, wie er selbst schreibt, kein Polnisch, Jiddisch und Hebräisch. Außerdem stützt sich der Autor ausschließlich auf veröffentlichte Quellen. Doch hat Corni immerhin mehr als 160 Zeugnisse ausgewertet, etwa zwei Drittel davon sind Erinnerungen und ein Drittel Tagebücher. Er möchte, indem er diese analysiert, „the clear divide between the work of the historians and memory“ aufheben. (Vorwort, S. vii) Corni legt eine Geschichte der Gesellschaft in den nationalsozialistischen Ghettos vor, die sich einerseits durch ein breites Themenspektrum auszeichnet, andererseits auch räumliche Vollständigkeit anstrebt. Anhand der jüdischen Tagebücher und Erinnerungen beschreibt und analysiert Corni das komplizierte soziale Gefüge in den Ghettos, zeigt verschiedene Handlungs- und Interpretationsweisen der Juden auf. So zeigt er überzeugend, dass die jüdische Bevölkerung keineswegs eine passive Opfermasse war, sondern Individuen, die auf je eigene Weise reagierten.

Das Fehlen einer lokalen Begrenzung, etwa auf eine bestimmte Region, eröffnet zwar die Möglichkeit zu Vergleichen, lässt die Untersuchung aber mitunter etwas verwirrend geraten. Zudem sind einige Sachfehler auszumachen. So wurde z.B. das Ghetto in Stanislau (Distrikt Galizien) nicht im September 1941 eingerichtet, wie Corni schreibt (S. 30), sondern erst im Dezember. An einer späteres Stelle nennt er als Ziel einer Deportation von „Westjuden“ aus dem Ghetto Lodz 1942 das Vernichtungslager Treblinka (S. 182). Ziel dieser Transporte war jedoch das Vernichtungslager Chelmno/Kulmhof, kein einziger Transport aus Lodz kam nach Treblinka. In diesem Zusammenhang argumentiert Corni, angesichts der Lebensbedingungen im Ghetto sei es verständlich, dass viele den Deportationsbefehl mit Erleichterung aufnahmen und bringt als Beleg eine Stelle aus den Erinnerungen von Lucille Eichengreen. Die Überlebende aus dem Ghetto Lodz sagt aber an dieser Stelle, dass sie, obwohl sie das Ghetto hassten, fürchteten, aus ihm deportiert zu werden. Corni springt mitunter zwischen den polnischen besetzten Gebieten und den erst nach dem Beginn des deutsch-sowjetischen Kriegs unter deutschen Einflussbereich geratenen Bereiche, so dass der zeitliche Ablauf ein wenig durcheinander gerät. Auch zitiert er teilweise im Anschluss an die Schilderung eines Ghettos aus Tagebüchern aus anderen Ghettos, ohne dies zu vermerken, so dass nur Leser mit einiger Sachkenntnis merken, wovon gerade die Rede ist.

In seiner vorangestellten Analyse der Quellen weist Corni daraufhin, dass zwei methodische Fehler vermieden werden müssen: die Tagebücher und Erinnerungen entweder nur als etwas anzusehen, das die Daten und Fakten „mit Fleisch und Blut“ (S. 16) füllt, oder davon auszugehen, dass sie allein, ohne jegliche Kommentierung, für sich sprechen. Diese Gefahren umgeht Corni in seiner Darstellung dann auch weitestgehend. Es wäre wünschenswert gewesen, wenn Corni auf die Problematik einiger dieser veröffentlichten Dokumente hingewiesen hätte. In vielen Fällen wurden in diesen Übersetzungen Kürzungen vorgenommen, ohne diese zu kennzeichnen. 3

In einem Überblick über die Ghettoisierung beschreibt er die verschiedenen Phasen und lokalen Initiativen in den im Osten von Deutschen besetzten Gebieten, wobei die Analyse teilweise etwas ungenau gerät. So schreibt er zum Beispiel über den Distrikt Lublin, dass hier in Pulawy im Dezember 1939 das erste Ghetto errichtet wurde, generell sei mit der Ghettoisierung aber erst im März 1941 begonnen worden (S. 30). Das Ghetto in Pulawy wurde aber im Dezember 1939 bereits wieder aufgelöst, der größte Teil der jüdischen Bevölkerung musste nach Opole umziehen. Und bei der Beschreibung der Ghettoisierung in diesem Distrikt müsste doch auf das einzige geschlossene Ghetto bis zum Frühjahr 1942, dasjenige in Piaski 4, zumindest hingewiesen werden. Doch macht sich, gerade wenn es um den Distrikt Lublin geht, das oben bereits erwähnte Problem bemerkbar. Dieser Distrikt kann auch im folgenden in der Untersuchung Cornis kaum eine Rolle spielen, da die Quellen weitestgehend unveröffentlicht sind und hauptsächlich polnische Literatur zu diesem Thema existiert. 5

Im folgenden beschreibt Corni zunächst die Reaktionen der jüdischen Bevölkerung auf die Ghettoisierung, um dann in zwei Kapiteln die Judenräte und dann die Jüdische Polizei zu diskutieren. Zunächst zeichnet er kurz die Debatte um die Rolle der Judenräte nach. Hierbei verwundert es, dass er die Konferenz, die zu diesem Thema 1977 in Jerusalem stattgefunden hat, und den in der Folge erschienen Tagungsband ignoriert, der einer der zentralen Beiträge zu dieser Debatte darstellt. 6 Nachdem er das Handeln der Judenräte in verschiedenen Ghettos nachgezeichnet hat, kommt er zu dem Urteil: „With very few exceptions, the Judenräte became the obedient executors of the orders issued by the local authorities, performing the role assigned them to the full.“ (S. 94) Im Unterschied zu den Judenräten, die, so Corni, in einer gewissen Tradition standen, war die Jüdische Polizei, Ordnungsdienst genannt, ein in der jüdischen Geschichte vollkommen neues Phänomen. Er betont die Ambivalenz und Komplexität des Verhaltens der Polizisten.

Das Verhalten der Autoritäten war jedoch nicht das einzige Konfliktpotenzial innerhalb der Gesellschaft in den Ghettos. So schildert Corni auch den Aufstieg „Neureicher“, die unter den neuen Bedingungen in der sozialen Hierarchie nach oben klettern konnten; in den allermeisten Fällen auf Kosten der anderen Ghettobewohner. Zur Beschreibung einer Hochzeit im Warschauer Ghetto, bei der der Tagebuchschreiber notierte, dass „der Champagner wie Wasser floss“, bemerkt Corni etwas für den Umgang mit diesen Dokumente sehr Entscheidendes: „In this case it is not important to verify wether the description corresponds to reality but rather to note the indignation aroused by the lifestyle of those charged with guiding the community in such difficult times.“ (S. 175) Denn gerade darum geht es doch in einer Darstellung, die auf diesen jüdischen Quellen basiert: zu zeigen, wie bestimmte Dinge wahrgenommen und interpretiert wurden. Problematisch für die ohnehin äußerst fragile Stabilität innerhalb der Gesellschaft waren auch die zahlreichen Umsiedlungen. Die Menschen kamen in vielen Fällen verarmt in den Ghettos an, hatten dort keinerlei soziale Bindungen, mussten ernährt und untergebracht werden. Die kulturellen Unterschiede zwischen den sogenannten „West- und Ostjuden“, die unter diesen katastrophalen Bedingungen zusammentrafen, führten zu Spannungen.7

Ausführlich beschreibt Gustavo Corni anhand der privaten Quellen die Lebensbedingungen in den Ghettos. Nach einer langen Einführung in die von den Deutschen bestimmte Ernährungslage zeigt er, was dies für die Menschen in den Ghettos bedeutete, beschreibt, wie teilweise die Zeit nach der Ausgabe von Essensrationen berechnet wurde, und kommt zu dem Schluss: „Hunger became the leitmotif of ghetto existence, accompanying it minute by minute, day after day.“ (S. 155) Hier sind die großen Stärken der Untersuchung, wenn Corni zeigt, was sich beispielsweise hinter Statistiken über Essensrationen verbarg, was also die antijüdische Politik für die Menschen bedeutete. Und wie sie darauf reagierten. Eines der Mittel, mit dem die Juden versuchten, sich selbst zu helfen, war der Schmuggel, den Corni in zwei Arten teilt: es gab einerseits organisierten Schmuggel in größerem Maßstab, andererseits individuellen Schmuggel, meist durch Kinder oder Jugendliche durchgeführt, der das Ziel hatte, sich selbst oder die eigene Familie zu ernähren. Auch thematisiert Corni die Formen der organisierten Selbsthilfe, die Errichtung von Volksküchen durch die Judenräte oder Hilfsorganisationen etwa. Die Bedingungen, unter denen sie lebten, hatten nicht nur physische, sondern ebenso psychische Folgen für die Menschen, und kulturelle Aktivitäten sowie Religiösität können sicherlich als Formen der Behauptung des Selbst angesehen werden. In diesem Zusammenhang zitiert Corni Rabbi Nissenbaum aus Warschau: „The enemy wants the soul but the Jews offer their bodies instead.“(S. 146)

Eingehend stellt Corni das Konzept der „Rettung durch Arbeit“ dar, das mehrere Judenratsvorsitzende verfolgten, allen voran Rumkowski in Lodz, Gens in Wilna und Barasz in Bialystok. Sie waren der Meinung, dass die Menschen oder zumindest ein Teil dadurch gerettet werden könnte, dass das Ghetto sich durch seine Produktivität unabkömmlich macht. Wer würde schon seine eigenen Arbeitskräfte umbringen? Dass dieses Konzept zwar temporäre Erfolge brachte, insgesamt aber auch nicht aufging, verdeutlicht Corni in seiner Beschreibung der „Aktionen“, Deportationen und Auflösungen der Ghettos, die letztendlich jeden jüdischen Wohnbezirk erfassten. Ein letztes Kapitel widmet Corni dem Widerstand in den Ghettos.

Weniger ist manchmal mehr - und so hat man bei der Untersuchung Cornis manchmal den Eindruck, eine lokale Beschränkung hätte dem Buch gut getan. Ein wenig verwirrend gerät die Darstellung mitunter, zeitliche und örtliche Sprünge erschweren den Lesefluss, Zitate aus dem einen Ghetto folgen der Darstellung der Situation in einem anderen Ghetto. Das ist schade, denn Corni kommt ein großes Verdienst zu, endlich hat ein westlicher Historiker sich überhaupt an dieses Thema gewagt. Und in weiten Teilen überzeugt seine behutsame Darstellung des komplizierten sozialen Gefüges in den nationalsozialistischen Ghettos. Es gelingt ihm mit Hilfe der Erinnerungen und Tagebücher die „complexity, variety and ambiguity“ (S. 332) der Gesellschaft der Ghettos zu zeigen. In Cornis Darstellung wird deutlich, was zu Beginn dieses Textes gesagt wurde: Dass die Menschen, die in den nationalsozialistischen Ghettos lebten, Individuen waren, die auf verschiedene Arten handelten und „eine Geschichte bis zum Tode“ hatten.

Anmerkungen:
1 Friedländer, Saul, Eine Geschichte bis zum Tode...und darüber hinaus. Der Geschwister-Scholl-Preisträger Saul Friedländer und sein Laudator Jan Philipp Reemtsma im Gespräch, in: Süddeutsche Zeitung (24. November 1998).
2 Titel können hier aufgrund der Masse nicht genannt werden. Vgl. z.B. den Umfang der Bibliografie, die nur die Titel umfasst, die im Biuletyn Zydowskiego Institutu Historycznego bis zum Jahr 2000 erschienen sind: Czajka, Michal, Bibliografia zawartosci „Biuletynu Zydowskiego Instytutu Historycznego” 1950-2000, in: Kwartalnik Historii Zydów nr 3, 199 (2001), S. 393-531. Die Seiten 462 bis 504 umfassen nur Artikel, die die Jahre 1939 bis 1945 betreffen.
3 Dies ist beispielsweise in der Quellensammlung von Adelson und Lapides aus dem Ghetto Lodz oder dem Tagebuch von Chaim Kaplan aus dem Ghetto Warschau der Fall, um hier nur zwei prominente Beispiele zu nennen, aus denen Corni sehr viel zitiert. Adelson, Alan; Lapides, Robert (Hgg.), Lodz Ghetto. Inside a Community under Siege, New York 1989, Kaplan, Chaim, A Scroll of Agony. The Warsaw Diary of Chaim A. Kaplan, ed. A.I. Katsch, New York 1973.
4 Berenstein, Tatiana, Martyrologia, opór i zaglada ludnosci zydowskiej w dystrykcie lubelskim, in: BZIH 21 (1957), S. 21-92, hier S. 31; Musial, Bogdan, Deutsche Zivilverwaltung und Judenverfolgung im Generalgouvernement. Eine Fallstudie zum Distrikt Lublin 1939 - 1944, Wiesbaden 1999, S.131.
5 Ausnahmen sind die bereits genannte Untersuchung von Musial sowie Pohl, Dieter, Von der „Judenpolitik“ zum Judenmord. Der Distrikt Lublin des Generalgouvernements 1939-1944, Frankfurt am Main 1993.
6 Gutman, Israel; Haft, Cyntia J. (Hgg.), Patterns of Jewish Leadership in Nazi Europe 1933-45 (Proceedings of the Third Yad Vashem International Historical Conference, Jerusalem, 4.-7. April 1977), Jerusalem 1979.
7 Zu diesem Thema ist gerade eine äußerst spannende Analyse eines Prager Juden, der im Herbst 1941 ins Ghetto Lodz deportiert wurde, erschienen, die keinen Eingang in Cornis Studie finden konnte: Singer, Oskar, ”Im Eilschritt durch den Gettotag...” Reportagen und Essays aus dem Getto Lodz, hg. v. Sascha Feuchert, Erwin Leibfried, Jörg Riecke, sowie Julian Baranowski, Krystyna Radziszewska, Krzysztof Wozniak, Berlin 2002.

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