M. Brenner; S. Rohrbacher: Wissenschaft vom Judentum

Titel
Wissenschaft vom Judentum. Annäherungen nach dem Holocaust


Herausgeber
Brenner, Michael; Rohrbacher, Steffan
Erschienen
Göttingen 2000: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
240 S.
Preis
€ 32,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ulrich Sieg, Institut für Neuere Geschichte, Philipps-Universität Marburg

"Unsere Kenntnisse in Jüdischen Studien sind nichts als die Sägespäne, die von den Werkzeugen der großen Handwerker, nämlich der deutsch-jüdischen Gelehrten, gefallen sind." Mit diesem einprägsamen Bild charakterisierte Shmuel Yosef Agnon 1952, die Bedeutung Deutschlands für die Wissenschaft vom Judentum. Mittlerweile liegen ihre Zentren längst in den USA und in Israel, doch auch im wiedervereinigten Deutschland zeigt sich steigendes Interesse an den Quellen jüdischer Gelehrsamkeit. Zeit für eine erste Bestandsaufnahme, so könnte man meinen, welche die schwierige Etablierung der Judaistik an deutschen Universitäten ebenso umfaßt wie ihre aktuelle Situation. Michael Brenner und Stefan Rohrbacher haben sich dieser Aufgabe gestellt und einen Band herausgegeben, der die wichtigsten Teildisziplinen einem breiteren Publikum präsentiert.

Durchweg überzeugend sind die historischen Abhandlungen. Ismar Schorsch schildert die Anfänge der Wissenschaft vom Judentum im 19. Jahrhundert und insbesondere die Wirksamkeit von Leopold Zunz, der vergebens in Berlin die akademische Institutionalisierung der Judaistik anstrebte. Christhard Hoffmann behandelt die organisatorischen Reformversuche Eugen Täublers und Franz Rosenzweigs, die, noch im Ersten Weltkrieg begonnen, für die Auseinandersetzung mit den Quellen des Judentums in der Weimarer Republik bestimmend wurden. Er beschreibt die stark eingeschränkten Arbeitsmöglichkeiten jüdischer Forscher nach 1933 und das Ausmaß, in dem sich die "Historische Zeitschrift" für antisemitische Inhalte öffnete. Das Ansehen der Wissenschaft vom Judentum in den USA zu Beginn des 20. Jahrhunderts thematisiert Michael Brenner. Als an der Columbia University der erste Lehrstuhl besetzt werden sollte, stammte die Mehrzahl der vorgeschlagenen Kandidaten aus Europa. Die Wahl fiel auf den Historiker Ismar Elbogen, der freilich den Ruf nicht annahm, weil "er sich in Berlin zu sehr verwurzelt fühlte" (S. 43). Statt seiner kam der aus Galizien stammende Salo W. Baron, der in den folgenden Jahrzehnten eine fruchtbare Wirksamkeit entfaltete. Sein Erfolg spiegelte die allgemeine Entwicklung, die vom wachsenden Einfluß osteuropäischer Gelehrter in den "Jewish Studies" zeugt. Geradezu sinnbildlich zeigt sich der gelungene Professionalisierungsprozeß in der Tatsache, daß derzeit über 1.000 Hochschullehrer der "Association for Jewish Studies" angehören.

Im zweiten Teil werden die Perspektiven von Forschung und Lehre dargelegt, wobei sich mehrere Beiträge in etwas weitschweifiger Weise der Erörterung akademischer Grundsatzfragen widmen. So stellt Joseph Dan die Bedeutung wissenschaftlicher Exzellenz bei Berufungen heraus, während sich Karl Erich Grözinger gegen allzu enge Spezialisierung in der Judaistik wendet. Margarete Schlüter folgt den von Dan gezogenen Argumentationslinien, stellt aber zugleich die Probleme "kleiner Fächer" vor Augen, deren thematischer Umfang umgekehrt proportional zu ihrer personellen Ausstattung sei (S. 94). Nicht recht deutlich wird jedoch vor diesem Hintergrund, warum sie sich mit großer Vehemenz gegen Christoph Schulte wendet, der vor nicht allzu langer Zeit einen stärkeren Gegenwartsbezug der deutschen Judaistik eingefordert hat 1. Besonders verdienstvoll ist der Beitrag von Andreas Gotzmann, der auf statistischer Basis eine Übersicht über die aktuellen Schwerpunkte des judaistischen Lehrbetriebs gibt. Zentrale Bedeutung für die Forschung besitzt das Feld der deutsch-jüdischen Geschichte, aus dem schon Mitte der 90er Jahre gut drei Viertel der 84 Promotionsprojekte stammte, an deren Betreuung die Wissenschaftliche Arbeitsgemeinschaft des Leo-Baeck-Instituts beteiligt war.

Etwas rätselnd steht der Leser vor der dritten Aufsatzgruppe, welche die "Bilanz einzelner Fachgebiete" umfassen soll. Dies liegt zum einen daran, daß allzu häufig pro domo geschrieben und die Schilderung der eigenen Erfolge mit der impliziten Bitte nach höheren Mittelzuweisungen verbunden wurde. So verständlich dies ist, führt dies doch gleichsam unwillkürlich zu einer apologetischen Perspektive, die der thematischen Komplexität der behandelten Gegenstände nicht angemessen ist. Zum anderen impliziert das Wort "Bilanz" eine abschließende Bewertung, die gerade angesichts der dynamischen Entwicklung, welche die Wissenschaft vom Judentum im letzten Jahrzehnt genommen hat, nicht recht passend erscheint. Während Vergangenheit und Gegenwart des jeweiligen Fachgebietes ausführlich dargestellt werden, verbleiben für die Zukunft nur wenige Zeilen.

Günther Stemberger widmet sich dem Talmud und hebt die Bedeutung der deutschen Sprache für die Erforschung der rabbinischen Literatur hervor. Den problematischen Charakter der Begriffsverknüpfung "'Jüdische' Philosophie" arbeitet Giuseppe Veltri heraus, der zurecht betont, daß kein Denker "von der Antike bis Mendelssohn" diese Charakterisierung für sich akzeptiert hätte (S. 141). Dies verweist auf den universalen Grundzug jüdischen Philosophierens, der noch in Scholems Programm der Rejudaisierung christlicher theologischer Begriffe seine Spuren hinterlassen hat. Hingegen plädiert Dieter Lamping für den Terminus "Jüdische Literatur", dessen Begriffsgeschichte nicht mit der "Mißbrauchsgeschichte" identifiziert werden dürfe (S. 191). Dahinter steckt auch das Bedürfnis der Abgrenzung des eigenen Forschungsfeldes, das angesichts des vielfältigen Beitrags jüdischer Schriftsteller zur deutschen Literatur naturgemäß besonders schwierig ist. Marion Aptroot skizziert die Situation der Jiddistik, deren schüchterne Rezeption in der Öffentlichkeit sich darin spiegele, daß Salcia Landmanns vor fast vierzig Jahren verfaßte populäre Darstellung immer noch als Standardwerk gelte 2. Hannelore Künzl schildert die randständige Lage des Fachs "Jüdische Kunst", das lediglich in Heidelberg gelehrt wird, während Wolfgang Benz die auf der TU Berlin konzentrierte Antisemitismusforschung präsentiert. Von Haus aus auf interdisziplinäre Zusammenarbeit angewiesen, eigne ihr eine inhaltliche Anschlußfähigkeit, die den Untersuchungsergebnissen breite Resonanz sichere. Angesichts der tagespolitischen Aktualität und Brisanz des Themas gelte es freilich auch, nicht in den Sog ungebührlicher Vereinfachungen zu geraten, sondern den wissenschaftlichen Charakter der Antisemitismusforschung zu behaupten.

Stefan Rohrbacher behandelt schließlich die Erforschung der deutsch-jüdischen Geschichte nach 1945. Mit einiger Vehemenz beklagt er die indifferente Haltung der universitären Geschichtswissenschaft. Hier schüttet er freilich das Kind mit dem Bade aus. Denn schon eine flüchtige Durchsicht der Vorlesungsverzeichnisse zeigt, in welchem Umfang Themen aus dem Bereich der deutsch-jüdischen Geschichte angeboten werden. Der sektoral beschränkte Zugriff in renommierten Reihenwerken dürfte weniger eine "Ausblendung aus dem Blickfeld der Historiker" (S. 173) bezeugen als auf ungelöste methodische Schwierigkeiten verweisen. So konnte Till van Rahden jüngst zeigen, daß unzureichend reflektierte Homogenitätsvorstellungen zu einer Vernachlässigung der Juden in der Bürgertumsforschung geführt haben 3. Die Integration der jüdischen Geschichte in allgemeine kultur- und gesellschaftshistorische Zusammenhänge ist eine schwierige Aufgabe, die uns vermutlich noch lange beschäftigen wird.

Anmerkungen:
1 Christoph Schulte, "Judaistik" or Jewish Studies? The New Construction of Jewish Studies at the Universities in the Former German Democratic Republic, in: Shofar 15 (1997), S. 32-40.
2 Salcia Landmann, Jiddisch. Das Abenteuer einer Sprache, Olten und Freiburg 1962.
3 Till van Rahden,, Von der Eintracht zur Vielfalt: Juden in der Geschichte des deutschen Bürgertums, in: Juden, Bürger, Deutsche. Zur Geschichte von Vielfalt und Differenz 1800-1933, hg. von Andreas Gotzmann, Rainer Liedtke u. Till van Rahden, Tübingen 2001, S. 9-31.

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