Als Ende Januar 1938 bekannt wurde, dass Außenminister Konstantin von Neurath durch Joachim von Ribbentrop abgelöst werden sollte, vermerkte Joseph Goebbels in seinem Tagebuch: „Ich halte Ribbentrop für eine Niete." Und mit dieser Meinung war Goebbels keineswegs allein. Auch im Ausland wurde das Revirement im Auswärtigen Amt mit Verwunderung aufgenommen. In den Krisenjahren 1938/39 galt Ribbentrop als Kriegstreiber, als der „böse Geist" Hitlers. Während des Nürnberger Prozesses 1945/46 bot er eine jämmerliche Figur.
Ribbentrops Lebenslauf ist inzwischen unter anderem von John Weitz und Michael Bloch nachgezeichnet worden.1 Warum also, so ist zu fragen, eine weitere politische Biographie Ribbentrops? Stefan Scheil gibt darauf die Antwort, dass sowohl über die NS-Außenpolitik generell, aber auch speziell über die von Ribbentrops „zahlreiche unzutreffende Vorstellungen“ (S. 13) herrschen würden. „Einflussreiche Darstellungen“ würden von „unbewiesenen, axiomatischen Annahmen“ ausgehen, nach denen Hitler „einen unprovozierten Eroberungskrieg vom Zaun gebrochen“ habe. Die von Andreas Hillgruber2 aufgestellte These, Hitler habe überdies einen „Stufenplan“ zur Welteroberung besessen, sei eine „erstaunliche Behauptung“ ohne „quellenmäßigen Beleg“ (S. 17). Alle Arbeiten, die Hitler als den Hauptverursacher des Weltkrieges bezeichnen, lässt er nicht gelten. Dem gegenüber bestehe die „wahre“ Geschichte darin, dass der deutsche „Staats- und Regierungschef“ keinesfalls „Lebensraum“ im Osten erobern, vielmehr in der Tradition Bismarcks stehend „Großdeutschland“ errichten und Deutschlands Stellung in Mitteleuropa bewahren wollte. Es seien vor allem Großbritannien, aber auch die USA gewesen, die diese Politik nicht duldeten und letztlich Deutschland in den Krieg getrieben hätten. Der Autor rühmt sich, diese „üblichen Mängel“ der Forschungsliteratur mit seinen eigenen Schriften längst korrigiert zu haben.3 Jetzt gelte es, die falschen Vorstellungen über Ribbentrop zurechtzurücken.
JvR – wie der Autor ihn bezeichnet – habe sich als „Quereinsteiger“ in aufgewühlten und unsicheren Zeiten der Hitler-Bewegung als Privatmann „aus Ehrgeiz und Nationalgefühl“ zur „Verfügung“ gestellt (S. 13). Er habe versucht, „unter nationalsozialistischen Vorzeichen eine Restauration des Deutschen Reichs in seinen historischen Grenzen herzustellen“(S. 14), um den „nationalen Aufbruch“ einzuleiten. Ribbentrops Bestreben habe sich mit dem „Grundplan Hitlers“ in den Jahren 1938/39 „gedeckt“, dem es um die „Durchsetzung territorialer Änderungen in Bezug auf Österreich, die ‚Tschechei’, das Memelgebiet und Danzig“ (S. 17) ging. Gemeinsames Ziel sei es gewesen, aus Deutschland einen „nach nationalsozialistischen Rassentheorien geführte[n], staatssozialistisch wirtschaftliche[n] Staat mit nur geringen föderalen Elementen“ zu gestalten, und zwar in den Grenzen des Deutschen Bundes bis 1866 (S. 163). Und überhaupt lasse sich eine „axiomatische Fixierung“ auf Krieg in den Quellen nicht nachweisen. Diese „bloße Mutmaßung“ sei Hitler und auch Ribbentrop „immer wieder spekulativ übergestülpt“ worden.
Aufgrund der europäischen Mittellage und der Restriktionen des Versailler Vertrages habe Ribbentrop die „Einkreisung“ Deutschlands als akute Gefahr empfunden. Gerade während seiner Botschafterzeit in London habe er diese „Bedrohung“ bestätigt erhalten. Denn Großbritannien würde stets auf der Seite der Gegner Deutschlands stehen, wenn dieses seine Revisionsansprüche einlösen würde. In seinen Berichten von 1937/38 habe er Hitler stets davor gewarnt und das Gewinnen von Bündnispartnern als dringend notwendig gefordert. Eine „Abschreckungsstrategie“ sollte die deutsche Antwort auf die britische Einkreisungspolitik sein. Das Werben um Italien und auch Japan für ein antibritisches Bündnis sei daher für Ribbentrop das Gebot der Stunde gewesen. In der Sudetenkrise des Jahres 1938 habe er deutlich die Gefahr einer von London initiierten Einkreisung Deutschlands „abwehren“ wollen.
Scheil kennt die Quellen sehr gut. Allerdings berücksichtigt und zitiert er nur das, was seinem Verständnis von Geschichte entspricht. Das Tagebuch von Graf Ciano, Mussolinis Schwiegersohn und Ribbentrops Amtskollegen, bewertet Scheil als politisch tendenziös und nicht authentisch. Das führt dann auch zu Verzerrungen der Aktenlage und zu grotesken Verrenkungen ihrer Deutung. So beispielsweise wird Ribbentrop in der Sudetenkrise, in der er immer wieder den Krieg beschwor – für seinen Staatssekretär Ernst von Weizsäcker sei er „ganz für den Krieg gewesen“4 –, zum wahren Friedensbewahrer, der sich gegen die Kriegstreiber in London und natürlich auch in Prag durchzusetzen hatte.
Weizsäcker selbst, der vor Scheil keine Gnade findet, sei der Kopf eines „Verschwörerzirkels“ gewesen, der im Sommer 1938 in Kontakt mit der britischen Regierung „einen Staatsstreich in vollem Umfang, einschließlich Tötung oder Verhaftung des Staatschefs“ (S. 189) geplant habe. Bereits damals habe die Gruppe um Weizsäcker „das Gerücht“ gestreut, Ribbentrop hätte Hitler über die Haltung der Westmächte falsch informiert, so dass er „eigentlich verantwortlich“ (S. 198) an Hitlers Entschluss zum Krieg gegen Polen gewesen sei. Diese häufig vorgebrachte Behauptung steht für Scheil im „krassen Gegensatz“ zu den Warnungen Ribbentrops, nicht nur vor der britischen Kriegsbereitschaft, sondern auch vor dem in London „längst geplanten Angriffskrieg“ auf Deutschland (S. 198).
Im Gegensatz dazu hätten „weder Hitler noch sein Außenminister [...] die feste Absicht [gehabt], einen Krieg gegen Polen oder gar einen Konflikt größeren Ausmaßes vom Zaun zu brechen“ (S. 240). Ganz in diesem Sinne sei Ribbentrop mit dem als außenpolitische Sensation aufgenommenen Hitler-Stalin-Pakt vom 23. August 1939 London zuvorgekommen, „auch die UdSSR gegen Deutschland in Stellung zu bringen“ (S. 242), den Einkreisungsring zu schließen und letztlich einen britischen Angriff auf Deutschland zu verhindern. Keinesfalls habe dieses Abkommen die Vernichtung Polens oder irgendeines anderen Landes beschlossen (S. 246). Scheil geht sogar so weit, diesen Vertrag als „ein zweites München“ zu deuten. Allerdings unter veränderten Vorzeichen, denn nicht wie 1938 die Sowjetunion, sondern jetzt würden vielmehr die Westmächte „vor verschlossenen Türen“ stehen. Wie im Vorjahr sollte eine internationale Konferenz, eine Art „Super-München“ unter Einbeziehung der UdSSR, die deutsch-polnischen Probleme lösen. Folgt man den Ausführungen Scheils, so war es allein Polen, bestärkt von der englisch-französischen Garantieerklärung vom März 1939, das eine Konferenz abgelehnt hätte.
Sollte Scheil entgangen sein, dass Hitler wie auch sein Außenminister München als denkbar schlechteste Lösung empfunden haben? Unmittelbar zum Zeitpunkt des Moskauer Vertragsabschlusses war es Hitler, der den Oberbefehlshabern der Wehrmacht triumphierend verkündet hatte: „Jetzt ist Polen genau da, wo ich es haben wollte.“ Und in Anspielung auf München vom Vorjahr: „Ich habe nur Angst, dass mir noch im letzten Moment irgend ein Schweinehund einen Vermittlungsplan vorlegt.“5 Der Angriff auf Polen war längst beschlossene Sache, und der Ribbentrop-Molotov-Pakt hatte den alleinigen opportunistischen Zweck, den Feldzug gegen den östlichen Nachbarn abzuschirmen. Dafür konnte kein Preis zu hoch sein, wie das Geheime Zusatzprotokoll belegen kann. Die Rechnung ging jedoch nicht auf. Ribbentrops „Abschirmungsstrategie“ endete im Fiasko. Am 3. September 1939 erklärten Großbritannien und Frankreich dem aggressiven Deutschland den Krieg.
Als das amerikanische Eingreifen immer drohender wurde, habe Ribbentrop sich erneut an Moskau gewandt in der Hoffnung, Stalin für einen „globalen“ Interessenausgleich zu gewinnen, um seiner ursprünglichen Kontinentalblockpolitik den krönenden Schlussstein einfügen zu können. Laut Scheil wäre die Geschichte Deutschlands, Europas, ja der Welt anders verlaufen, wenn die UdSSR auf Ribbentrops Bedingungen eingegangen wäre. Aber Stalin habe anderes im Schilde geführt. Für Hitler stand der Angriff auf die Sowjetunion, der Beginn seines programmatisch begründeten ideologischen Vernichtungskrieges, längst fest, auch wenn Scheil diesen als Präventivkrieg ausgeben will. Damit stellt er sich in die Reihe der unverbesserlichen Verfechter dieser apologetischen Geschichtsbetrachtung.
Die Einbindung des Auswärtigen Amtes in die „Endlösung der Judenfrage“ wird von Scheil nur marginal behandelt. Er beschränkt sich darauf, Ribbentrops Rolle bei der Konstruktion eines europäischen Staatenbundes in der Nachkriegszeit nachzuzeichnen – ein Thema, das eine Vertiefung verdiente.
Anmerkungen:
1 John Weitz, Joachim von Ribbentrop – Hitler’s Diplomat, London 1992; Michael Bloch, Ribbentrop, New York 1992.
2 Andreas Hillgruber, Hitlers Strategie. Politik und Kriegführung 1940–1941, München 1982.
3 Stefan Scheil, Logik der Mächte. Europas Problem mit der Globalisierung der Politik. Überlegungen zur Vorgeschichte des Zweiten Weltkrieges, Berlin 1999; ders., Fünf plus Zwei. Die europäischen Nationalstaaten, die Weltmächte und die vereinte Entfesselung des des Zweiten Weltkrieges, Berlin 1999.
4 Eintrag vom 23.09.1938, in: Die Weizsäcker-Papiere 1933–1950. Hrsg. von Leonidas E. Hill, Berlin 1974, S. 144.
5 Winfried Baumgart, Zur Ansprache Hitlers vor den Führern der Wehrmacht am 22. August 1939, in; Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 16 (1968), S. 294–304, hier S. 299.