N. Münnich: Belgrad zwischen sozialistischem Herrschaftsanspruch

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Titel
Belgrad zwischen sozialistischem Herrschaftsanspruch und gesellschaftlichem Eigensinn. Die jugoslawische Hauptstadt als Entwurf und urbane Erfahrung


Autor(en)
Münnich, Nicole
Reihe
Balkanologische Veroeffentlichungen 57
Erschienen
Wiesbaden 2013: Harrassowitz Verlag
Anzahl Seiten
444 S.
Preis
€ 74,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Milan Ristovic, Belgrad

Nicole Münnich hat eine anspruchsvolle Aufgabe überzeugend umgesetzt: in sechs umfangreichen Kapiteln und auf mehreren Problemebenen zeichnet sie ein außergewöhnlich komplexes Bild der Geschichte Belgrads, die in gerade einmal einem halben Jahrhundert durch mehrere dramatische Zeiten gegangen ist: von der Hauptstadt des Königreichs Serbien, mit rund 100.000 Einwohnern im Jahre 1914, über Zerstörung und Besetzung im Ersten Weltkrieg, begleitet von großen Bevölkerungsverlusten, sowie den Zwischenkriegsjahren, als es wiederum als Hauptstadt (und politisches, kulturelles und wirtschaftliches Zentrum) des Königreichs der Serben, Kroaten und Slowenen/Jugoslawien einen turbulenten Wiederaufbau und Bevölkerungsanstieg (auf ca. 350.000 Einwohner) durchlebte, bis zu erneuten Leiden und Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg, und schließlich der Nachkriegszeit, als es Hauptstadt des sozialistischen jugoslawischen Bundesstaats wurde. Diese Dynamik der Geschichte des modernen Belgrad zeugt von den Herausforderungen und gesellschaftlichen, politischen und stadtplanerischen (Dis-)kontinuitäten, die seine Geschichte im 20. Jahrhundert ausgezeichnet haben. Diese stellten jedoch nie einen vollständigen Bruch mit der vorherigen Periode dar.

Tatsächlich charakterisieren den staatssozialistischen Zeitabschnitt – nach Friedensjahren der längste in der Geschichte des modernen Belgrad – eine große demographische Dynamik, eine Ausbreitung der Stadt, der Aufbau von Infrastruktur sowie eine beschleunigte Modernisierung, mit all ihren guten und schlechten Seiten. Belgrad verzehnfachte bis Mitte der 1960er-Jahre die Zahl seiner Einwohner, die aus allen Teilen des jugoslawischen Bundesstaates zuzogen, sowohl Staats- und Parteifunktionäre, Fachleute, Studenten, als auch eine große Zahl nichtqualifizierter Arbeitskräfte, die hier ihr Glück suchten. Die Stadt wurde bald zu einem Ort mit mehrheitlich zugezogener Bevölkerung.

Nicole Münnich hat auch mit der Wahl des Titels betont, dass sie daran interessiert ist, die Geschichte der Stadt so zu erfassen, dass diese nicht nur als Lebensraum, der sich durch das Diktat des neuen politischen und ideologischen Systems und seiner Werte ändert, sondern auch als Projekt dieses Systems begreiflich wird, dessen Umsetzung den Erfolg der sozialistischen politischen und gesellschaftlichen Modernisierung aufzeigen sollte, was auch die Suche nach der „neuen Stadt“ und ihrer stadtplanerischen Gestalt im Sinne der „neuen Zeit“ einschloss.

Münnich hat für ihre methodisch wie inhaltlich sehr reichhaltige und vielschichtige Analyse auf umfassendes Material aus dem Archiv Jugoslawiens, dem Staatsarchiv Serbiens und dem Historischen Archiv der Stadt Belgrad sowie auf publizierte Dokumente, Statistiken, Pressematerialien und eine beeindruckende Anzahl von Titeln verschiedenster Fachliteratur zurückgreifen können. Aufbauend auf die Erkenntnisse historiografischer Werke, soziologischer Studien, verschiedener theoretischer Abhandlungen und solcher Publikationen, die sich mit Stadtplanung, Wohnraumproblemen, Konsum sowie Politik- und Sozialgeschichte beschäftigen, hat sie in ihre Analyse der Stadtentwicklung Belgrads als urbane Gesamtheit und politisches Projekt auch wichtige Elemente der vergleichenden Stadtentwicklungsforschung einbezogen, sowohl in Bezug auf Staaten mit ähnlichen ideologischen Grundlagen, als auch auf Modelle moderner Stadtentwicklung in der westlichen Welt.

Die Struktur des Buchs bildet konsequent ihren methodischen Zugang ab. In der Einleitung beleuchtet sie die grundlegenden Problematiken, mit denen sie sich im Hauptteil des Buchs dann befasst, sowie ihre methodischen Annahmen, den Forschungsstand und die Quellenlage. Sie gewährt auch einen umfassenden Blick auf die wichtigsten Ergebnisse bisheriger Forschungen zur Geschichte Belgrads (wobei sie diese in den Kontext der allgemeinen Stadtgeschichtsforschung stellt, besonders in Bezug auf südosteuropäische Beispiele). Im zweiten Kapitel, „Von der Peripherie zum Zentrum“, gibt Münnich die vorsozialistische Geschichte Belgrads konzise wieder. Im Kapitel „Tabula rasa oder Tradierung? Stadtplanung in der alten und neuen Hauptstadt“ arbeitet sie die entscheidenden Dilemmata heraus, die sich in der Konzipierung des „neuen Gesichts“ des jugoslawischen sozialistischen Bundesstaates und seiner Hauptstadt (als repräsentativste Seite seiner Selbstinszenierung) zeigten. Diese Dilemmata waren Ergebnis und Spezifikum des jugoslawischen Politikmodells. Eine gewichtige Rolle, und das seit den ersten Tagen des sozialistischen Jugoslawiens, nahm die Errichtung Neu-Belgrads (Novi Beograd) in der Erschaffung eines Bildes vom neuen Gesellschaftssystem und seiner Werte ein, auch im Verständnis der Stadt und ihrer Ausgestaltung. Münnich betont die Bedeutung dieses ambitionierten stadtplanerischen Großvorhabens für den neuen Staat als Beweis seiner organisatorischen und technologischen Fähigkeiten, Neu-Belgrad als „Repräsentationsort“ aufzubauen. Sie fragt jedoch, in welchem Maße es sich dabei, unter den neuen Umständen ab 1945, um die Fortsetzung eines städtischen Modernisierungsprozesses handelte, der bereits nach dem Ersten Weltkrieg begonnen hatte, oder ob damit eine völlig neue Entwicklung angestoßen wurde. Unter Einbezug der Standpunkte und des Wirkens der einflussreichsten jugoslawischen Architekten und Stadtplaner in den zuständigen Planungsbehörden kommt sie dem Schluss, dass auch diese neue Entwicklungsphase sowohl in personeller als auch in konzeptioneller Kontinuität stand, vielfach mit den gleichen alten Widersprüchen und Problemen, mit denen es die Stadtplaner schon bis 1941 zu tun hatten, freilich unter anderen politischen Rahmenbedingungen.

Diese Besonderheiten des jugoslawischen Modells, so argumentiert Münnich, führten zu einem Auseinanderdriften von planwirtschaftlichem, „gesellschaftlichen“, das heißt sozialem Wohnungsbau, der die Bedürfnisse der wachsenden Bevölkerung abdecken sollte, und der Logik der Marktwirtschaft. Diesem Problem widmet sie den umfangreichen vierten Abschnitt des Buches: „Ein ‚Dritter Weg’? Der Belgrader Wohnungsbau zwischen Plan und Markt“. Wohnungen wurden in der jugoslawischen Version der Konsumgesellschaft zu einer sehr wichtigen und begehrten Ware auf dem Markt, der chronisch unter einem Mangel an verfügbarem Wohnraum litt. Die Autorin beschreibt die Widersprüche zwischen dem Konzept eines „gesellschaftlichen“ Eigentums und dem Vorhandensein von Wohnungen und Häusern in privater Hand, zwischen staatlichem („gesellschaftlichen“) und privatem Kapital im Bauwesen, zwischen der Stadtentwicklung nach Plan und Anzeichen „wilden Baugeschehens“ bzw. illegalen Bezugs von Wohnungen, sowie zwischen der Modernität Neu-Belgrads (auf ihrem langen Weg von einer „Schlafstadt“ zu einem Stadtteil für alle urbanen Bedürfnisse) und den zentralen Stadtteilen bzw. den „Favelas“ der Peripherie. Sie kontrastiert die Komplexität der urbanen Strukturen und ihrer Einwohner mit ihren landwirtschaftlich geprägten Randgebieten, welche die Versorgung der Stadt sicherstellten. Von Bedeutung ist auch ihre Beschäftigung mit dem Problem von Akzeptanz bzw. Widerstand gegen die Regeln und Mentalität des Großstadtlebens, sowie mit den Beziehungen der Zugezogenen zu dem kleiner werdenden Teil der Alteingesessenen. Außerdem thematisiert sie die Konflikte und die Unentschlossenheit der städtischen Behörden bei der Lösung schwerer sozialer Problemlagen, wie (der bis heute virulenten) illegalen Bautätigkeit und Infrastrukturmängeln. Sie widmet sich darüber hinaus dem Gegensatz zwischen positiver Sozialpolitik und ihrer Kollision mit den Gesetzen des Marktes, bzw. einer Konsumgesellschaft westlicher Prägung, sowie vielen weiteren Fragen, denen sie sich außerordentlich kenntnisreich und analytisch genähert hat.

Ihrem komplexen Bild von mehreren Jahrzehnten in der Entwicklung Belgrads als jugoslawischer Hauptstadt fügt Münnich noch einen weiteren wichtigen Aspekt des sozialistischen Konsummodells Jugoslawiens hinzu. Im Kapitel „Vom Bauernmarkt zum Supermarkt und zurück: Konsumkultur als Signum von Individualisierung und Eigensinn“ analysiert sie die Modernisierungseffekte durch die Übernahme bestimmter (westlicher) Konsumtrends (die sich im Erscheinen der ersten Supermärkte in den 1950ern niederschlagen) im Vergleich zur traditionellen Rolle der ländlichen Umgebung Belgrads, die mit ihren Angeboten auf den Belgrader Märkten stets einen wichtigen Platz in der Versorgung der wachsenden Stadt einnahm und ihr auch eine besondere Note gab. Mit der Einführung strenger Regulierungsmaßnahmen in diesem Segment wollte man die weitere „Urbanisierung“ der städtischen Versorgungslogistik erreichen. Dennoch sind die Belgrader Märkte bis heute wichtige und interessante Orte der Kommunikation und Sozialisation von Stadtbevölkerung und ländlicher Umgebung geblieben.

Dieser Analyse lässt die Autorin einen weiteren interessanten Abschnitt über die Veränderung der Frauenrolle im sozialistischen Jugoslawien folgen, wobei sie am Bespiel der „Belgraderin“ das Problem der Position der Frau zwischen zwei Kontrapunkten darstellt: einerseits dem Ideal der emanzipierten, gebildeten Städterin und andererseits dem traditionellen Frauenbild.

In Münnichs abschließenden Betrachtungen ist ein Exkurs eingeflossen, in dem sie sich mit dem Auftauchen, dem Inhalt und dem Gebrauch des Konzepts der „Rurbanisierung“ auseinandersetzt. „Rurbanisierung“ nimmt in ihrer zuallererst pejorativen Bedeutung im Diskurs über die Probleme des Zusammenlebens in den Großstädten Südosteuropas die Rolle der warnenden „roten Ampel“ ein, welche auf die negativen Effekte eines umfassenden, ungehindert ablaufenden Zustroms von ländlicher Bevölkerung hinweist, bzw. seine Nichtanpassung an die neue städtische Umwelt und ihre Lebensweisen. Die Autorin nimmt sich dann noch eines weiteren Begriffs an, der in die Alltagssprache Eingang gefunden hat, ebenso mit ausgeprägt negativer Konnotation, nämlich des sogenannten „polutanstvo“ (Zwitterhaftigkeit). Dieser Begriff beschreibt die ständige Hin- und Herbewegung bzw. Zerrissenheit zwischen städtischem Arbeitsplatz und dörflichem Leben, bzw. der Verbundenheit damit. Es ging mit dem Entstehen spezifischer Gebräuche, Sozialbeziehungen und -strukturen sowie kultureller Eigenheiten einher, womit es Teil des vielschichtigen Bildes der (post-)sozialistischen Gesellschaft wurde.

Neu-Belgrad dient in der Schlussbetrachtung mit seinem Weg vom „jugoslawischen Washington“ über die „Sahara City“ hin zum „serbischen Manhattan“ erneut einem konzisen Rückblick auf die Dynamik der Veränderungen dieses modernen Belgrader Stadtteiles, zwischen „idealer Stadt“ und stadtplanerisch-ideologischem Projekt und den Problem in dessen Umsetzung. Das jugoslawische Sozialismusmodell mit seinen Spezifika, oder wie es die Autorin nennt, seiner „Hybridität“ („credit-card communism“) zwischen Plan- und Marktwirtschaft, ließ Raum für das Entstehen verschiedener Nischen, die zu einem wichtigen Merkmal des städtischen Lebens in Belgrad wurden und Orte wachsenden Selbstbewusstseins und dem Wunsch nach mehr bürgerlicher Freiheit.

Das Buch Nicole Münnichs darf zweifellos als wertvoller historiographischer Beitrag bezeichnet werden, nicht nur in Bezug auf Belgrad in Zeiten des Sozialismus. Durch seine originellen methodischen und thematischen Herangehensweisen erweitert es signifikant unser Verständnis der Sozial-, Politik-, Kultur- und Wirtschaftsgeschichte des sozialistischen jugoslawischen Staats und seiner Gesellschaft. Es zeigt, wie man durch eine gute Problemstellung und mit Fokus auf die wesentlichen Fragen ein derart vielschichtiges Thema analytisch genau und mit hervorragenden Quellen- und Literaturkenntnissen bearbeiten kann.

[Aus dem Serbischen übersetzt von Arno Trültzsch, M. A., GWZO an der Universität Leipzig.]

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