A. Klinger: Gothaer Fürstenstaat

Titel
Der Gothaer Fürstenstaat. Herrschaft, Konfession und Dynastie unter Herzog Ernst dem Frommen


Autor(en)
Klinger, Andreas
Reihe
Historische Studien 469
Erschienen
Anzahl Seiten
399 S.
Preis
€ 56,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christian Schulz, Historisches Institut, Justus-Liebig-Universität Gießen

Bis weit in das 20. Jahrhundert hinein gehörte Herzog Ernst I. von Sachsen-Gotha zu den zentralen Figuren der Erinnerungskultur des deutschen Protestantismus. Bejubelten ihn Leichenpredigten und Fürstenspiegel schon kurz nach seinem Tod 1675 als vorbildliches Modell eines perfekten Herrschers, nahm die ihm gewidmete Literatur zwischen Vormärz und Nationalsozialismus bisweilen geradezu hagiographische Züge an. Langlebigen Nachruhm sicherte sich der asketische Lutheraner mit dem Beinamen „der Fromme“ vor allem durch eine Neuordnung des Schul- und Kirchenwesens seines Territoriums, in welche die traditionelle familiäre Überzeugung, zum Sachwalter der Wittenberger Reformation berufen zu sein, ebenso einfloss wie pädagogische Ambitionen und wissenschaftliche Interessen. Noch heutzutage vergisst kaum eine Darstellung des barocken Zeitalters, die Anstrengungen Ernsts auf dem Gebiet der Erwachsenenkatechese oder die Pionierfunktion Sachsen-Gothas bei der Einführung der Schulpflicht für Jungen und Mädchen zu würdigen.

Nach dem Aussterben des Coburger und des Eisenacher Zweiges der ernestinischen Hälfte des Hauses Wettin, vollzogen die erbberechtigten Brüder der Weimarer Linie 1640/41 eine Landesteilung, in deren Folge der 1601 geborene Ernst zum Herrscher über ein sich peu à peu vergrößerndes Gebiet um den Regierungssitz Gotha wurde. Die Notwendigkeit, in diesem aus thüringischen und fränkischen Elementen heterogen zusammengesetzten und von den Zerstörungen des Dreißigjährigen Krieges in hohem Maße betroffenen Gebilde zügig eine effiziente Verwaltung zu installieren, begriff der administrativ bewanderte Herzog als Chance, einem Trend der Zeit entsprechend seine fürstlichen Machtbefugnisse sukzessive zu verdichten und das öffentliche Leben einschneidend zu regulieren. Solchen Zwecken dienliche legislatorische Bestimmungen erfuhren in der 1653 gedruckten Landesordnung eine namhafte Kodifikation und spiegeln sich auch im bald darauf erschienenen „Teutschen Fürsten Stat“ wider, einem verbreiteten Lehrbuch innerstaatlichen Handelns aus der Feder von Ernsts Geheimem Rat Veit Ludwig von Seckendorff, der damit den publizistischen Grundstein zur reichsweiten Prominenz der Gothaer Verhältnisse legte.

Wie gelang es Herzog Ernst dem Frommen, seine Gewalt über die ihm zugefallene, als politische Ganzheit bisher nicht existierende Landesportion, in eine die Superiorität des frühneuzeitlichen Fürsten umfassend realisierende Territorialstaatlichkeit zu überführen? Auf diese Frage Antworten zu geben, ist die Absicht einer von beachtlicher Kenntnis der einschlägigen Thüringer Archivalien zeugenden Studie, mit der Andreas Klinger an der einst gesamternestinischen Universität Jena promoviert wurde. Dass sich die von Georg Schmidt betreute Dissertation bei ihrer Analyse der Implementierung des gothaischen Staatsbildungsprogramms auf die ohne Zweifel höchst innovative Anfangsphase etwa bis zur Niederschrift von Ernsts Testament 1654 konzentriert, lässt sich aus arbeitsökonomischer Perspektive zwar nachvollziehen, vermag aber, weil das für die Beurteilung des untersuchten Prozesses sehr relevante Konsolidierungs- und Bewährungsstadium ausgeblendet bleibt, inhaltlich nicht zufrieden zu stellen.

Klinger setzt sich zunächst mit dem unter Ernst dem Frommen neu konzipierten Administrationssystem auseinander, das darauf abzielte, den Gothaer Zentralbehörden eine stetige und erschöpfende Kontrolle sowohl über die vereinheitlichten unteren Verwaltungsinstanzen als auch über die Kirchengemeinden zu ermöglichen und so die herrschaftliche Durchdringung des Territoriums zu intensivieren. Symbolischen Ausdruck fand der herzogliche Anspruch, unangefochten an der Spitze seines Landes zu stehen, im 1643 begonnenen Bau des befestigten Residenzschlosses Friedenstein, das Sitz der Regierungskollegien, Schauplatz von Landtagen und Bühne eines durch Ernsts sittenstrenge Sparsamkeit allerdings auf einem unterdurchschnittlichen Repräsentationsniveau verharrenden Hofes war. Im Rahmen seiner Bemühungen um eine strukturelle Homogenisierung Sachsen-Gothas schenkte der junge Fürstenstaat dem Landadel als möglichem Faktor der Desintegration besondere Aufmerksamkeit und verstand es geschickt, einerseits unter Verzicht auf jegliche absolutistische Attitüde die Rechte der vom Dreißigjährigen Krieg materiell größtenteils schwer gebeutelten Stände formal zu respektieren, andererseits aber die landschaftlichen Organe faktisch zu Erfüllungsgehilfen des obrigkeitlichen Willens herabzustufen und die Gerichte der Ritterschaft kraft Normierung und Professionalisierung ihrer autonomen Handlungsspielräume zu berauben.

Um die landesherrlichen Ordnungsvorstellungen dauerhaft gesellschaftlich zu verankern, bedurfte es über institutionelle Regelungen hinaus einer disziplinierenden Verhaltenssteuerung des Untertanenverbandes mittels policeylicher Maßnahmen, in denen sich nicht nur der politische Gestaltungswille eines weltlichen Souveräns, sondern auch die religiöse Entschlossenheit eines der lutherischen Reformorthodoxie nahestehenden Christen zur moralischen Erneuerung der Bevölkerung ausdrückte. Aus der breiten Palette konfessionalisierungstypischer Akte der staatlich-kirchlichen Sittenzucht mit ihren Prinzipien des Belehrens, Überwachens und Strafens seien hier die 1646 in Sachsen-Gotha revitalisierten Rügegerichte hervorgehoben, die durch Spitzelei und Denunziation entlarvte Verstöße gegen profane Gesetze und geistliche Gebote auf lokaler Ebene ahnden sollten, von den Dorf- und Stadtbewohnern jedoch partiell zu Orten der Austragung interner Streitigkeiten umfunktioniert wurden. Derlei Diskrepanzen zwischen hoheitlicher Intention und Alltagswirklichkeit kennzeichnen gleichfalls die fürstlichen Schritte zur Verbesserung von Wirtschaftsleistung und Infrastruktur sowie die Gemeinwohlförderung Ernsts, dem freilich in Bezug auf seinen fürsorgerische, repressive und kommerzielle Beweggründe vereinigenden, letztlich aber gescheiterten Zucht- und Waisenhausplan der Titel eines sozialpolitischen Vordenkers unter den deutschen Potentaten des 17. Jahrhunderts gebührt.

Über die Staatsgenese Sachsen-Gothas unter Herzog Ernst I. eine Doktorarbeit anzufertigen, entbehrt insofern nicht einer gewissen Problematik, als angesichts der umfänglichen, wenn auch vielfach gewiss korrekturbedürftigen Erkundung dieses Wettiners und seines Wirkens verblüffende Neuigkeiten und umstürzende Thesen seriöser weise kaum zu erwarten sind. Deshalb musste es Andreas Klinger primär darum zu tun sein, das in unserem historischen Gedächtnis fixierte Bild Ernsts des Frommen materialreich zu differenzieren, mit aktuellen geschichtswissenschaftlichen Fragestellungen auszuleuchten und eventuell an dem einen oder anderen Punkt zurechtzurücken, was ihm auf der Basis einer akkuraten Quellenauswertung vorzüglich glückt. In angemessener Dosierung reflektiert der stets niveauvoll und doch unprätentiös formulierende Autor vom Ständetum über Konfessionalisierung und Sozialdisziplinierung bis hin zur Festkultur wichtige Themen der Frühneuzeitforschung und entwirft Ernst vor diesem Hintergrund als ambivalenten Vertreter einer Transformationsära, der teils einen mächtigen und effektiven, normproduzierenden und nivellierenden, bürokratischer Rationalität verpflichteten und gleichsam in die Moderne deutenden Staatsapparat aufzubauen trachtete, teils immer von der Mentalität eines persönlich regierenden, am Konsens orientierten, der Tradition verbundenen Haus- und Landesvaters geprägt blieb, welcher dynastische Schuldigkeiten niemals einer abstrakten Staatsräson opferte und so schließlich die territoriale Integrität des Herzogtums zugunsten der Versorgung seiner sieben Söhne preisgab.

Am Ende noch eine formale Kritik: Wie Klinger (oder der Verlag) auf die Idee kam, diesem sonst in jeder Hinsicht ausgesprochen solide fabrizierten Buch keine Stammtafeln und Karten beizufügen, ist mir eingedenk der an Komplexität nur schwer zu überbietenden ernestinischen Zustände schleierhaft.

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