F. Butschek: Europa und die industrielle Revolution

Cover
Titel
Europa und die industrielle Revolution.


Autor(en)
Butschek, Felix
Erschienen
Anzahl Seiten
256 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Armin Müller, Fachbereich Geschichte und Soziologie, Universität Konstanz

Explizit oder implizit scheint sich die Wirtschafts- und Sozialgeschichte immer wieder neu an ihrem Schlüsselthema abarbeiten zu müssen, nämlich an der Frage nach Ursache und Verlauf der “Industriellen Revolution”, oder anders formuliert der Frage nach dem “Wunder Europa”, also danach, “warum sich die Industrielle Revolution in Europa und nur in Europa vollzogen habe und nicht im Rahmen anderer Hochkulturen” (S. 9).

Nun hat der Wiener Wirtschaftshistoriker Felix Butschek ein neues Buch hierzu vorgelegt. Zu Recht kritisiert er im Vorwort die “schwache theoretische Fundierung” bisheriger Arbeiten (S. 17), die ihre Argumente implizit auf neoklassischen Modellen aufbauten, damit aber den Prozess der Industrialisierung nicht erklären könnten. Grund hierfür sei deren Akteursmodell des homo oeconomicus, das wenig Realitätsbezug und damit Erklärungskraft habe. Butschek positioniert sich statt dessen als Anhänger einer Neuen Institutionenökonomik (bzw. New Institutional Economics, NIE), deren verhaltenswissenschaftliche Fundierung hier Abhilfe schaffen könne: “Der zentrale Unterschied zwischen diesen beiden theoretischen Ansätzen liegt jedoch darin, dass die NIE zur Kenntnis nimmt, dass sich das menschliche Verhalten über Zeit und Raum gravierend unterscheidet” (S. 20). Er folgt damit der Prämisse Douglass C. North’, dass menschliches Handeln von historisch gewachsenen formgebundenen wie formlosen Institutionen maßgeblich bestimmt werde. Ihre Summe ergebe die jeweilige “Institutionenstruktur” (“governance structure”) bzw. “Kultur” einer Gesellschaft - Butschek verwendet beide Begriffe synonym - , die den ökonomischen Erfolg einer Gesellschaft bestimme (S. 20f.). Wenn dem so ist, dann muss die Frage nach der Industriellen Revolution zur Frage nach der historisch realen Institutionenstruktur bzw. den speziellen Bedingungen ihres Wandels umformuliert werden.

In den Kapiteln 2, 3 und 6 spürt Butschek der ca. 2000jährigen Vorgeschichte des “Wunders Europa” nach. Hier seien nur einige zentrale Stationen wiedergegeben. Schon in den antiken Hochkulturen Griechenlands und Roms seien erste Bestandteile einer effizienten Institutionenstruktur entstanden (S. 29-34), er nennt hier v.a. die politisch-philosophischen Anfänge eines Individualismus in der griechischen Polis, die Anfänge moderner (Natur-) Wissenschaften und die Grundlegung eines funktionalen Rechtssystems in Rom. Auch das europäische Mittelalter wird von Butschek als dynamische Gesellschaft vorgestellt, in der trotz aller Statik und Rückschläge wichtige Weichen für die zukünftige Entwicklung gestellt wurden. In den theologischen Diskursen ab dem 13. Jahrhundert setzten sich logisches und rationales Denken durch (S. 72ff.), im feudalen Lehensystem werden soziale Beziehungen verrechtlicht und eine relativ hohe Bewegungsfreiheit der Menschen ermöglicht. In der politischen Selbständigkeit der mittelalterlichen Stadt wächst eine Institutionenstruktur heran, “welche letztlich die Industrielle Revolution ermöglichte. Da waren zunächst die Weiterentwicklung des Rechtsstaates mit unabhängigen Gerichten, weiter die politische Selbstbestimmung [...], ferner die Erweiterung des geistigen Freiraumes, welcher sich schließlich in der umfassenden Gründung von Universitäten und Schulen niederschlug, [...]” (S. 88). Der städtische Bürger sollte Prototyp für den kommenden einkommensmaximierenden kapitalistischen Menschen werden. Philosophisch wurde dieser “individualistische, verantwortungsbereite, initiative, selbstreflexive und selbstbewusste Menschentyp” (S. 165) ab Ende des 14. Jahrhunderts von den Lehren des Humanismus, später der Renaissance, der Reformation und der Aufklärung geformt. “Die frühe Neuzeit brachte nämlich in Europa einen fundamentalen Wandel in der Selbsteinschätzung des Menschen. Aus dem passiven Element einer höheren Ordnung wurde das selbstbestimmte und selbstbewusste Individuum. Die Renaissance stellte dieses in den Mittelpunkt des Denkens, die Aufklärung kreierte damit eine gesellschaftliche Konzeption. Der Staat präsentierte sich auf dieser Basis als die Vereinigung grundsätzlich freier und gleicher Menschen, welche die Regierung als Element des ‚contrat social’ verstand” (S. 143).

Systematisiert man Butscheks Ursachenbündel für die wirtschaftliche Dynamik (S. 164-167), dann waren es zunächst der neue Menschentyp und die damit einhergehende Hochschätzung „physischer Arbeit“, von Leistungsdenken und Einkommensmaximierung. Hinzu kam eine positive Einstellung zu den (Natur-) Wissenschaften und die Durchsetzung eines rationalen Weltbildes (“Quantitative Revolution”). Zur sozialen Trägerschicht dieser Ideen entwickelte sich das städtische Bürgertum. Diese formlosen Institutionen wurden durch formgebundene Institutionen abgesichert: Dazu gehörte v.a. die Ausbildung einer funktionierenden Rechtsordnung, Rechtssicherheit konnte durchgesetzt und Korruption begrenzt werden. Als verbindende und dynamisierende Institution sieht Butschek den Fernhandel seit dem Mittelalter. Hier wurde der marktförmige Austausch vorangebracht, unternehmerische Erfahrungen gesammelt sowie technische und organisatorische Innovationen befördert. Als letzte notwendige Voraussetzung für eine erfolgreiche Industrialisierung nennt Butschek die Ausbildung einer parlamentarischen Demokratie. Zusammen bilden Industrialisierung und Demokratie die liberal-demokratische Institutionenstruktur; politischer und ökonomischer Liberalismus gehören bei Butschek untrennbar zusammen. (S. 171f.)

Fasst man die Entwicklungen der frühen Neuzeit zusammen, erkennt man - so Butschek -, dass Europa “alle jene institutionellen und organisatorischen Ansätze des Mittelalters, welche für den Weg zur Industrialisierung relevant erschienen, bis zu dem Niveau weiterentwickelte, da sie den Rahmen für die Industrielle Revolution abzugeben vermochten” (S. 141). Zunächst beschreibt er das Beispiel Holland (S. 136-145), in dessen Institutionenstruktur schon die zentralen Voraussetzungen ausgeprägt waren, dessen dynamische Entwicklung aber durch exogene Kräfte beendet wurde. Der eigentliche Durchbruch zur Industriellen Revolution gelang in England (S. 155-164), wo im 17. Jahrhundert die institutionellen Voraussetzungen weitgehend abgeschlossen waren und im 18. Jahrhundert die technisch-kommerzielle Dynamik einsetzte. Entscheidend sei in dieser Phase der technische Fortschritt gewesen; Butschek sieht hier den „zentralen Kernprozess“ des kapitalistischen Systems: „der ökonomisch determinierte Einsatz der Technik, welche von der ‚scientific community’ permanent weiterentwickelt, zur ‚Routine’ wird. Und darin liegt der Unterschied zu allen anderen Kulturen“ (S. 148). Nicht zufällig sieht Butschek in der Dampfmaschine das zentrale Symbol der Industriellen Revolution. Sie steht für die „drei zentralen Elemente des kapitalistischen Wachstums“: die Revolution bei Maschinen und Energieträgern, die Verkehrsrevolution und die Informationsrevolution; Letztere meint v. a. die Techniken der Informationsübermittlung. (S. 149f.) Zwar nennt Butschek auch die Rolle des innovativen Unternehmers und den organisatorischen Fortschritt als weitere Triebkräfte, aber speziell dem letzten Punkt ordnet er einen „weit geringeren Stellenwert“ zu (S. 149). Unter Verwendung institutionenökonomischer Modelle ist Butschek in seiner Interpretation der Industrialisierung letztlich wieder bei der Technischen Revolution der neoklassischen Schule angekommen, gegen die er ja eingangs explizit argumentierte. Dieser merkwürdigen Zirkelschluss wird noch zu klären sein.

Den zweiten Schwerpunkt des Buches (Kap.4, 5 und 9) nehmen vergleichende Studien zwischen der europäischen Situation und anderen (Hoch-) Kulturen ein. Sie sollen helfen, die Besonderheit der kapitalistischen Institutionenstruktur herauszuarbeiten. In Kapitel 4 zeichnet Butschek die institutionelle Erstarrung der islamischen Kultur des Mittelalters nach, und im zusammenführenden Schlusskapitel 9 (S. 191-230) richtet er seinen vergleichenden Blick auf die jüngste Vergangenheit, also die Jahrzehnte seit den 1960er Jahren. Hier stellt er Ursachen für den Aufholprozess in Ostasien (Japan, Tigerstaaten und China) und das Zurückfallen der arabischen, der afrikanischen und letztlich auch der lateinamerikanischen Staaten vor. Und hier verschwimmen die Argumentationslinien - immer gemessen an Butscheks eigenem Anspruch - langsam aber sicher. Das mag daran liegen, dass auf wenigen Seiten die ökonomischen und kulturellen Entwicklungen ganzer Kulturkreise oft über Jahrhunderte hinweg skizziert werden. Vor allem muss aber Butschek für seine Thesen die Stringenz seines notwendigen Faktorenbündels aufgeben. Wieso können in arabisch-islamischen Ländern Reformen des 19. und 20. Jahrhunderts den „langen Atem der Geschichte“ nicht überwinden, während einige asiatische Tigerstaaten oder gar China trotz fehlenden Bürgertums, trotz fehlender Demokratie und trotz hoher Korruption in relativ kurzer Zeit kapitalistische Dynamik entfalten? (S. 200f., 212). Warum spielte der Staat in Japan oder Korea eine ganz wichtige aktive Rolle, während er in südamerikanischen Staaten das Wachstum behindert haben soll? (S. 222). Die Argumente Butscheks nehmen hier teilweise tautologischen Charakter an: Bei kapitalistischer Dynamik muss eben eine funktionierende Institutionenordnung in beschriebener Weise vorliegen. Latente Widersprüche in der Argumentation bleiben ausgeklammert. Hier müsste er eigentlich seine eigene zentrale Annahme hinterfragen, die ebenfalls dem neoklassischen Modell entnommen ist, dass es nämlich nur einen richtigen Weg gebe: „[...] mit anderen Worten, dass eine erfolgreiche industrielle Entwicklung nur möglich wird, wenn ein Staat in die Lage kommt, die europäische Institutionenstruktur zu etablieren“ (S. 173).

Insgesamt offenbart sich, dass die vorliegende Durchführung einer institutionenökonomischen Erklärung der Industriellen Revolution in weiten Teilen den alten Annahmen der Neoklassik verhaftet bleibt. Wie kann Butschek zwar die Neoklassik kritisieren, gleichzeitig aber zentrale Autoren dieser Schule wie Walt. W. Rostow, Eric L. Jones, Christoph Buchheim oder Hubert Kiesewetter 1 als Vorbilder für seinen Ansatz bezeichnen? (S. 24). So orientiert er seine Arbeit sogar explizit am Phasenmodell Rostows und dem damit verbundenen neoklassischen Wachstumsparadigma (S. 16f.). Hier offenbart sich ein Grundproblem der gegenwärtigen Wirtschaftswissenschaft. Während einige Autoren institutionenökonomische Modelle mehr als Erweiterung der Neoklassik verstehen, betonen andere die Gegensätze beider Ansätze. So entschieden man Butschek bei seinem Plädoyer für eine instiutionalistische Sicht zustimmen muss, so skeptisch muss man seine praktische Durchführung beurteilen. So bezieht er sich zwar auf Transaktionskostenansätze, schafft es aber, völlig ohne Einbeziehung von Property-Rights- oder Prinzipal-Agent-Modellen auszukommen. Obwohl doch gerade North den Wandel in der Property-Rights-Struktur als entscheidend für den Industrialisierungsprozess ansah 2, blendet Butschek diese wichtige Seite der Institutionenökonomik einfach aus. Kritisch scheint mir auch seine Verwendung eines Erklärungsmodells aus neoklassischen Argumenten plus dem neuen Faktor Kultur deshalb, weil sein Kulturbegriff und damit auch seine Aussagen zu institutionellem Wandel äußerst unbestimmt bleiben. Er bekennt sich zwar abstrakt zu einem sozialkonstruktivistischen Ansatz (S. 21f.), bezeichnenderweise kommt er aber ohne Hinzuziehung entsprechender Modelle und Erklärungsmuster aus den Kulturwissenschaften aus. Aktuelle Publikationen aus dem Themenbereich Wirtschafts- und Unternehmenskommunikation werden ausgespart, obwohl sich gerade dort eine fruchtbare Debatte zwischen institutionalistischen Wirtschafts- und Kulturwissenschaften abzeichnet.

Anmerkungen:
1 Vgl. Walt W. Rostow: The Stage of Economic Growth, Cambridge 1960; Eric L. Jones: The European Miracle. Environments, Economies and Geopolitics in the History of Europe and Asia, Cambridge 1981; Christoph Buchheim: Industrielle Revolutionen. Langfristige Wirtschaftsentwicklungen in Großbritannien, Europa und in Übersee, München 1994; Hubert Kiesewetter: Das einzigartige Europa, Göttingen 1996.
2 Vgl. Douglass C. North: Theorie des institutionellen Wandels. Eine neue Sicht der Wirtschaftsgeschichte, Tübingen 1988, hier v. a. Kap. 11-13.

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