K. Pajcic: Frauenstimmen in der spätmittelalterlichen Stadt?

Titel
Frauenstimmen in der spätmittelalterlichen Stadt?. Testamente von Frauen aus Lüneburg, Hamburg und Wien als soziale Kommunikation


Autor(en)
Pajcic, Kathrin
Reihe
Epistemata. Würzburger Wissenschaftliche Schriften, Reihe Literaturwissenschaft 768
Erschienen
Anzahl Seiten
505 S.
Preis
€ 58,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jürgen Sarnowsky, Historisches Seminar, Universität Hamburg

Die nichtliterarische Schriftlichkeit von Frauen ist ein interessantes Forschungsthema, vor allem, wenn man sich nicht auf den klerikalen Bereich konzentriert. Die vorliegende Arbeit, eine Mannheimer Dissertation von 2011, setzt bei der Auswertung spätmittelalterlicher Testamente aus den Hansestädten Hamburg und Lüneburg sowie aus Wien an, genauer bei den in Editionen vorliegenden Testamenten von Frauen und Eheleuten. Dies betrifft Hamburger Testamente der Jahre 1351 bis 1400, Lüneburger Testamente der Jahre 1323 bis 1500 sowie Wiener Testamente der Jahre 1395 bis 1411. Die Originale und weitere Testamente sind nur in Ausnahmefällen in den Blick genommen worden, obwohl z.B. die archivalische Überlieferung von Testamenten in Hamburg für die Jahre nach 1400 gut ist. Diese spätmittelalterlichen Testamente mit ihren vielen Einzelverfügungen über das nicht durch das Erbrecht gebundene, meist bewegliche Gut werden für die Arbeit in einem weiteren Sinne als Selbstzeugnisse verstanden. Sie sollen im Blick auf „Gender als soziale und kulturelle Geschlechterrolle [...] unter historischer Perspektive und Berücksichtigung zeitgenössischer Geschlechterdiskurse“ analysiert werden. Insbesondere zielt das „auf die Aspekte Selbstwahrnehmung und Selbstwertgefühl, Beziehungskonzepte und Rollenverhalten der Testatorinnen [...] als Teil der mittelalterlichen Geschlechterdiskurse“ (S. 17). Im Einzelnen wird in der Textanalyse nach dem Umgang der Frauen mit dem Instrument der Testamente gefragt, nach erkennbaren eigenen Interessen und Bedürfnissen, nach Hinweisen auf ein weibliches Selbstbewusstsein und auf besondere „weibliche Lebenszusammenhänge“ sowie nach der möglichen Funktion von Testamenten innerhalb der sozialen Kommunikation.

Dieser Ansatz wird im ausführlichen Einleitungsteil weiter entwickelt, der zunächst noch einmal das Forschungsdesiderat formuliert und methodische Grundlagen sowie die neueren Ergebnisse zur eigenständigen Rolle der Frauen in den Städten und in der städtischen Schriftlichkeit diskutiert. In einem zweiten Schritt wird dann der allgemeine Rahmen der Untersuchung abgesteckt. So wird das deutschrechtliche vom römisch-rechtlichen Testament abgegrenzt, die Überlieferung von Testamenten umrissen (mit dem falschen Hinweis auf den Verlust der Lübecker Originale, S. 50), und es werden regionale Unterschiede und besondere Merkmale herausgearbeitet. Weiter folgt eine ausführliche Auseinandersetzung mit aktuellen Forschungen zu Testamenten, unter Berücksichtigung der Ergebnisse zur Gender-Forschung und in Abgrenzung der eigenen literaturwissenschaftlichen gegenüber geschichtswissenschaftlichen Methoden.

Daran schließt sich ein ebenso umfangreiches Kapitel zur Erforschung von Selbstzeugnissen in der Geschichtswissenschaft und von Autobiographien in der Literaturwissenschaft an. Aus historischer Perspektive werden Erschließungsprobleme und methodische Fragen diskutiert, aus literaturwissenschaftlicher der aktuelle Forschungsstand, die Untersuchung von Autobiographien und die Anwendung auf Vermächtnisse. Ein dritter Abschnitt gilt dem „selbstreferentielle[n] Schreiben als soziale(r)und kulturelle(r) Praxis“ und fragt unter anderem nach Anzeichen von Individualisierungsprozessen und der männlichen Beteiligung an der Aufsetzung der Testamente. Diese einleitenden, aus der Literatur geschöpften Überlegungen umfassen ein Drittel des Bandes und sie fallen damit viel zu ausführlich aus.

Auf S. 153 beginnt schließlich die Auswertung der Quellen, zunächst für Lüneburg und Hamburg. Dabei werden die erbrechtlichen Regelungen, die Voraussetzungen für die Errichtung und Überlieferung von Testamenten, die Rolle der Schreiber, Beispiele für Testamentserrichtung und die Stellung der „Verfasserinnen“ diskutiert sowie die einzelnen Bestimmungen der Testamente analysiert. Diese betreffen fromme Stiftungen für Kirchen, Klöster und geistliche Institutionen des eigenen Umfelds, darunter häufig geistlich lebende Frauen, sowie Stiftungen für Arme, Hospitäler und für Bedienstete, vor allem für Mägde. Unterschiede ergeben sich bei der Höhe der vermachten Summen und in der Art der vererbten Sachen. Am Beispiel des Testaments der Lüneburgerin Edelke van der Heyde wird verdeutlicht, wie sehr die konkrete Situation in die Abfassung der Testamente hineinspielt – hier sollte eine Nichte als vermutlich letzte lebende Angehörige versorgt werden – und dass die Texte nicht zuletzt aufgrund ihres Gehalts, der Entstehungssituation, des Verhältnisses zwischen Verfasserin und Empfänger(in) und erkennbaren persönlichen Äußerungen als autobiographisch verstanden werden können. Die Analyse von Testamenten konzentriert sich somit auf „Handlungsbereiche, in denen Frauen aktiv waren und die sonst innerhalb der Literatur ausgeblendet oder in der öffentlichen Wahrnehmung verdrängt wurden“ (S. 193). Wenn sich Frauen einer von Männern entwickelten Rechtsform bedienten, haben sie die Freiräume bewusst oder unbewusst genutzt. Das hat jedoch zur Konsequenz, dass in Latein errichtete Testamente für die Untersuchung ausscheiden, da Frauen aus dem städtischen Umfeld in der Regel nicht über Lateinkenntnisse verfügten.

Der zweite Teil des Kapitels ist der formalen Analyse gewidmet, den Aspekten der Diplomatik und Textlinguistik, dem Aufbau der Vermächtnisse, ihren Formeln, der sprachlichen Umsetzung und den Möglichkeiten zu individuellen Formulierungen. Die am häufigsten verwandten Formeln finden sich nicht überraschend in den allgemeinen Urkundenteilen, wobei die Narratio insbesondere die Testierfähigkeit der Erblasserin hervorhebt. Gestaltungsmöglichkeiten lassen sich z.B. dort erkennen, wo am Testament nachträglich Änderungen vorgenommen wurden. Insgesamt werden „Kenntnisse zur Testierpraxis auch bei Frauen und [...] eine eigenständige Vorbereitung und Errichtung der Willenserklärungen durch diese“ deutlich (S. 227). Ein Vergleich mit getrennt errichteten Testamenten von Eheleuten aus Hamburg vor 1400 bestätigt dieses Ergebnis. Es folgt eine intensive Analyse einzelner Testamente, ausgehend von acht gemeinschaftlichen Testamenten Hamburger und Lüneburger Eheleute, die von geringen Handlungsmöglichkeiten der Ehefrauen bis zu „weibliche[n] Stimmanteile[n]“ (S. 245) die unterschiedlichen Formen des weiblichen Einflusses verdeutlichen. Der vierte Teil des Kapitels besteht schließlich aus der Analyse von 13 weiblichen Lüneburger Vermächtnissen, die in ihrem sozialen und kulturellen Kontext untersucht werden und ein ähnlich vielfältiges Bild ergeben. So wird in einigen Fällen die Literalität von Frauen deutlich, wie die Testamente generell „einen Zugang zur Frau als Testatorin [...] ermöglichen“ (S. 312). Zudem bieten sie Informationen zur Lebenssituation der Frauen, auch wenn Erwerbstätigkeiten bestenfalls angedeutet werden.

Das folgende Kapitel wendet sich den Wiener Testamenten zu, die sich durch ihre Überlieferung in den Stadtbüchern, mit oft erst nach dem Tod der Testatorin eingereichten Erklärungen, weniger leicht auf weibliche Einflussmöglichkeiten untersuchen lassen. Die differierende Errichtungs- und Überlieferungssituation wird wiederum in einem umfangreichen Eingangsteil diskutiert, mit Hinweisen auf die rechtsgeschichtlichen Grundlagen, zu formalen Merkmalen der Einträge, mit textkritischen Überlegungen und einer Einordnung der Rolle der Testatorinnen und Einbringer. Dabei zeigt sich auch für Wien, dass die Frauen an der Formulierung in den Vermächtnissen aktiv mitwirken konnten. Von neun Gemeinschaftsverfügungen und 311 weiblichen Vermächtnissen der Jahre 1395 bis 1411 werden im Folgenden ein Gemeinschaftstestament und zwölf einzelne Verfügungen von Frauen analysiert, eingeteilt in vier Gruppen mit unterschiedlicher Aussagekraft zur, wie es die Autorin formuliert, „Testierstimme“.

Der Schlussteil fasst noch einmal die Ergebnisse zusammen. Abschließend werden dazu fünf Thesen formuliert, die den selbstreferentiellen Charakter der Frauentestamente, ihre Rolle als soziale und kulturelle Praxis und Mittel der Kommunikation, ihren besonderen Genderbezug, ihre Individualität und ihre Bedeutung im Rahmen weiblichen Agierens innerhalb der spätmittelalterlichen Stadt betonen. Insgesamt bietet der interessante, allerdings nicht durch ein Register erschlossene Band eine intensive, überaus reflektierte Analyse der untersuchten Vermächtnisse und belegt nachdrücklich die eigenständige Rolle der Frauen bei ihrer Errichtung. Damit wird diese Textgattung gleichermaßen für die Gender-Forschung wie auch für die Erforschung von Ego-Dokumenten nutzbar gemacht, auch wenn die von Männern errichteten Testamente im Vergleich einer ähnlich intensiven Betrachtung bedürften, um die für Frauen gewonnenen Ergebnisse für sie anwendbar zu machen. Die Arbeit wird auf jeden Fall der Forschung weitere Anregungen vermitteln.

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