Cover
Titel
Hannibal. Das gescheiterte Genie


Autor(en)
Garland, Robert
Erschienen
Anzahl Seiten
158 S.
Preis
€ 19,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Simon Lentzsch, Historisches Institut, Universität zu Köln

Erstellte man eine Rangliste antiker Individuen anhand der ihnen gewidmeten Biographien, dürfte Hannibal auf den vorderen Rängen zu finden sein.1 Dies ist insofern bemerkenswert, als dass die Quellenlage für Hannibal im Vergleich zu anderen bekannten Individuen der Antike nicht sehr günstig ist: Es existieren (nahezu) keine zeitgenössischen Quellen, kaum Dokumente und erst recht keine Selbstzeugnisse Hannibals, so dass eine Biographie im eigentlichen Sinne kaum zu verfassen ist.2 So wird in Hannibal-Biographien meist auch eher die Ereignisgeschichte der zweiten Hälfte des 3. Jahrhunderts v.Chr. geboten und dabei ein Schwerpunkt auf den Zweiten Punischen Krieg gelegt, was auch nachvollziehbar ist, da diese Zeit in Hannibals Leben noch am besten dokumentiert sein dürfte und der Karthager diesem Krieg seit der Antike zweifellos seine Prominenz verdankte. Auch Robert Garland gewährt dieser Periode in seinem relativ schlanken Buch, das nun in einer deutschen Übersetzung vorliegt, den verhältnismäßig größten Umfang. Die Monographie ist dabei in zwölf kurze Kapitel unterteilt, von denen knapp die Hälfte Hannibals Feldzug gewidmet ist; zwei weitere Abschnitte diskutieren die Folgen des Krieges.3

Angesichts der bereits vorliegenden Arbeiten räumt Garland bereits im Vorwort (S. 7f.) ein, etwa zu Detailfragen der Feldzugtopographie „nichts Neues beitragen“ (S. 7) zu können. Stattdessen sei es das Ziel, „Hannibals Erfolge und Misserfolge aus seiner eigenen Sicht darzustellen und zu bewerten“, um „nicht nur die Fakten darzustellen, sondern auch die Möglichkeiten aufzuzeigen“ (S. 8). Dabei stehe Garland „in Ehrfurcht“ vor Hannibal – „nicht zuletzt, weil er seiner Linie immer treu blieb“ (S. 7). Glücklicherweise lässt sich vorwegnehmen, dass Garlands Buch besser geworden ist, als es das Vorwort vermuten lassen könnte. Zieht man nämlich solches Pathos ab, bietet das Werk eine pointierte Darstellung mit durchaus interessanten Gedanken zu einem oft behandelten Thema.

Gleich zu Beginn des ersten Kapitels gesteht Garland ein, dass der im Vorwort aufgestellte Anspruch kaum vollständig einzulösen sei, da „faktisch nichts in den Quellen, das einen Blick auf seine Persönlichkeit erlauben würde“, existiere (S. 9). Dementsprechend müssen die anschließenden Spekulationen über Hannibals Charakter meist eben solche bleiben; Garland nennt dabei die unterschiedlichen Topoi, die praktisch alle antiken Nachrichten zur Person Hannibals überdecken.4 Das zweite Kapitel führt pointiert in die Quellenlage ein. Allgemeiner Einschätzung entsprechend werden die Historien des Polybios als zuverlässigste Quelle eingestuft. Garland vergisst jedoch nicht, auf die bekannten Beziehungen des griechischen Historiographen zu römischen Nobiles hinzuweisen (S. 25f.). Verwundern muss dann allerdings Garlands Einschätzung zu Livius, den er als den antiken Historiographen, der „der modernen historiographischen Methode der Quellenforschung näher als jeder andere antike Historiker“ stehe, adeln möchte (S. 28).

Im dritten Abschnitt skizziert Garland die Entwicklung Karthagos bis zum Vorabend des Hannibalkrieges. Dabei interpretiert er die Gründung Karthagos gegen Positionen in der älteren Forschung nicht als reine Handelsniederlassung, sondern betont die landwirtschaftliche Basis der karthagischen Wirtschaft. Auch insgesamt rückt er Karthago näher an die griechisch-römische Welt heran, als es lange Zeit üblich war. Gerade in diesem Zusammenhang hätte man sich jedoch einige Worte mehr zu den nur angedeuteten möglichen antisemitischen Interpretationsmustern gewünscht, die bei der Ausformung des frühen Karthago-Bildes wirksam gewesen zu sein scheinen.5

Die folgenden fünf Kapitel widmen sich dem Zweiten Punischen Krieg und schreiten dabei die einzelnen Abschnitte chronologisch ab, wobei sich Garland meist an Polybios’ Darstellung orientiert. Zu den verschiedenen Schwerpunkten der Forschungsdiskussion nimmt Garland dabei jeweils knapp Stellung: Den Ebrovertrag hält er für historisch und identifiziert den Fluss ohne Umschweife mit dem Iber (S. 44); die Ursache des Krieges sieht er mit Polybios in der römischen Annexion Sardiniens (S. 49); die Frage nach der Route des Alpenübergangs schätzt er als nicht lösbar ein (S. 58f.); in Hinsicht auf die Frage um einen möglichen Marsch Hannibals auf Rom im Anschluss an die Schlacht von Cannae weist er unter anderem auf die logistischen Schwierigkeiten eines solchen Unternehmens hin und verteidigt Hannibal damit bis zu einem gewissen Grad gegen antike und moderne Kritiker (S. 77f.). Das Kriegsziel Hannibals sieht er – gewiss richtig – nicht in einer Zerstörung Roms, sondern in dessen Schwächung (S. 83–85).

Auch wenn die Darstellung aus Platzgründen meist an der Oberfläche bleibt, gibt Garland hier einige wichtige Detailinterpretationen und stellt auch Gedanken zu weiterreichenden Folgen einzelner Ereignisse an: So weist er darauf hin, dass die Darstellung der jeweiligen Gegner Hannibals in den Quellen mit Vorsicht zu lesen ist und etwa eine Alleinschuld der Konsuln Tib. Sempronius Gracchus und C. Terentius Varro an den Niederlagen an der Trebia bzw. bei Cannae kaum den historischen Umständen entsprechen dürfte. Offenbar sind hier bereits bei Polybios letztlich politisch motivierte Absichten zu erkennen, die jeweiligen Kollegen im Konsulat, P. Cornelius Scipio und L. Aemilius Paullus, von der Schuld an der Niederlage zu entlasten, wobei Garland die Ansicht vertritt, dass Polybios auf Grund seiner Verbindungen zu den Scipionen und Aemiliern hier eine Schlüsselrolle in der Überlieferung zukommt.6 Wichtig ist auch der Hinweis, dass die Gefallenenzahlen von Cannae in Relation zu den jeweils vorhandenen Truppen gesetzt werden müssen: Die „nur“ 2.000 Gefallene aus Hannibals Kerntruppen bei Cannae stellten für diesen einen bedeutenden und eigentlich kaum auszugleichenden Verlust dar, weil er seine Armee in Italien kaum adäquat ergänzen konnte (S. 77). Eher unglücklich ist dagegen der Vergleich, den Garland angesichts der Reise Hannibals zum alten Melkart-Tempel nach Gades zieht, denn wohl kaum ähnelten die Motive Hannibals „dem Dschihad fanatischer Muslime heutzutage“ (S. 53). Auch ist nicht nachzuvollziehen, warum Hasdrubal einen schweren Fehler begangen haben soll, als er seine Truppen nicht per Schiff von Spanien nach Italien übersetzte – eine solch gewaltige Flotte stand ihm schlicht nicht zur Verfügung (S. 90f.).

Das neunte Kapitel trägt den bezeichnenden – wenngleich irreführenden – Titel „Der Abgesang“ und umreißt Hannibals Aktionen in der letzten Kriegsphase bis zu seinem Tod. Hier wie im folgenden Kapitel überschätzt Garland wohl die Bedeutung der Schlacht von Zama als Entscheidungsschlacht bei weitem, was insofern verwundert, als dass er selbst betont, dass der Krieg für Karthago längst nicht (mehr?) zu gewinnen war (S. 99 u. 113). Auch das Fazit zum Krieg insgesamt gerät ein wenig schief: So nennt Garland die größeren Ressourcen und Rekrutierungspotentiale Roms, dessen Durchhaltewillen und die Tatsache, dass die Bundesgenossen weitestgehend bei der Stange blieben, als letztlich entscheidende Faktoren für den römischen Sieg. Auf der anderen Seite erwägt er dann teilweise entgegen seiner eigenen Ausführungen, ob Hannibal nicht trotz dieser Faktoren, auf die er wenig Einfluss hatte, doch den Sieg hätte erringen können. Dabei bleibt er eher unentschieden: So schätzt er den Versuch einer Eroberung Roms nach Cannae zwar als aussichtslos ein, um dann aber dennoch darüber zu spekulieren, ob ein Belagerungsring um die Stadt die Römer nicht doch in die Knie gezwungen hätte, wobei unklar bleiben muss, wie Hannibal diesen hätte aufrechterhalten sollen (S. 81f.). Auch die Möglichkeiten Karthagos zu weitreichenden Flottenoperationen, die dem Krieg eine andere Richtung gegeben hätten, schätzt er vielleicht zu optimistisch ein (S. 103). Hinsichtlich der Konsequenzen des Krieges auch für die innere Entwicklung Italiens und Roms sieht Garland den Keim zunehmender sozialer Probleme, warnt aber vor zu weitreichenden Schlüssen (S. 117–119).7

Im kurzen Schlusskapitel führt Garland das Scheitern Hannibals dann auch weniger auf eine Einzelentscheidung zurück, sondern nennt mehrere, jeweils schwerwiegende Fehleinschätzungen des Karthagers. So habe dieser offenbar die Stabilität des Bundesgenossensystems unterschätzt, während er das Truppenreservoir bei seinen gallischen Verbündeten zu groß angesehen habe. Ein gravierendes Problem habe darin bestanden, dass seine italischen Verbündeten letztlich nur Truppen banden, aber wenige handfeste Vorteile brachten; letztlich habe Hannibal „keinen Ersatzplan“ (S. 141) besessen, sollte seine ursprüngliche Strategie scheitern. Als vorletztes Kapitel bietet Garland eine knappe Rezeptionsgeschichte, die einen Schwerpunkt auf die Dichtung der Hohen Kaiserzeit und einen weiteren auf die Populärkultur des 20. Jahrhunderts legt, wobei auch auf die politische Verwendung Hannibals im italienischen Faschismus hingewiesen wird.

Die Übersetzung aus dem Englischen ist insgesamt zufriedenstellend. Von einigen kleineren Tippfehlern abgesehen ist lediglich die Übernahme der englischen Schreibweise „Polybius“ etwas unorthodox. Bedauerlich ist, dass die kommentierte Bibliographie des Originals einem reinen Literaturverzeichnis gewichen ist. Diese wird gerade für Studienanfänger aber durchaus eine Hilfe darstellen.8

Insgesamt dürfte Garlands Buch insbesondere für diese Zielgruppe interessant sein. Aber auch für fortgeschrittene Studierende, die einen ersten Einstieg in die Beschäftigung mit Hannibal suchen, ist das Buch zu empfehlen.

Anmerkungen:
1 Ohne Anspruch auf Vollständigkeit und nur für die letzten 20 Jahre seien vermerkt: Jakob Seibert, Hannibal, Darmstadt 1993; ders., Forschungen zu Hannibal, Darmstadt 1993; ders., Hannibal. Feldherr und Staatsmann, Mainz 1997; Serge Lancel, Hannibal. Eine Biographie, Düsseldorf 1998 (zuerst französisch: Paris 1995); Karl Christ, Hannibal, Darmstadt 2003; Pedro Barceló, Hannibal. Stratege und Staatsmann, Stuttgart 2004; Dexter Hoyos, Hannibal. Rome’s Greatest Enemy, Exeter 2008.
2 Diese Schwierigkeit räumte bereits Jakob Seibert zu Beginn seines ersten Hannibal-Buches ein: Seibert, Hannibal, S. 1.
3 Das Buch bietet folgende Kapitel: 1. „Der Mann“ (S. 9–21), 2. „Die Zeugen“ (S. 23–30), 3. „Der Staat der Karthager“ (S. 31–42), 4. „Der Spanien-Feldzug“ (S. 43–50), 5. „Der epische Marsch“ (S. 51–60), 6. „Die Invasion Italiens“ (S. 61–71), 7. „Die Schlacht von Cannae“ (S. 73–80), 8. „Die Jahre in der Wildnis“ (S. 81–95), 9. „Der Abgesang“ (S. 97–111), 10. „Das unbeabsichtigte Erbe“ (S. 113–119), 11. „Das Nachleben“ (S. 121–137), 12. „Das Urteil“ (S. 139–143).
4 Ob aber vor diesem Hintergrund die bekannte negative Charakteristik Hannibals bei Liv. 21,4 tatsächlich auf das „nahezu unbewusste Verlangen des Autors zurückzuführen“ ist, „Hannibal als Schurken darzustellen“, oder ob Livius sich des Einsatzes solcher Stilmittel nicht doch eher recht bewusst war, ist allerdings zumindest diskussionswürdig. Erstaunlich ist auch die generell große Bereitschaft Garlands, allerlei Anekdoten und ‚geflügelten Worten‘ rund um Hannibal einen recht hohen Quellenwert zuzubilligen (etwa S. 70, 74 u. 76).
5 Vgl. hierzu Walter Ameling, Karthago. Studien zu Militär, Staat und Gesellschaft, München 1993, bes. S. 2f.; ders., Das Problem des karthagischen Staates, in: Historische Zeitschrift 257 (1993), S. 109–131, bes. 114. Gerade vor diesem Hintergrund verwundert dann allerdings die generalisierende Behauptung Garlands, dass Karthago die „erfolglosen Feldherren […] traditionell hinrichtete“ (S. 40).
6 Dies ist im Grunde zwar keine neue Deutung (vgl. Wolfgang Will, Imperatores Victi. Zum Bild besiegter römischer Konsuln bei Livius, in: Historia 32, 1983, S. 173–182), aber in manch jüngerer Darstellung wurde sie durchaus übergangen, vgl. etwa Barceló, Hannibal, S. 132f. u. 139f.
7 Hier setzt er sich vornehmlich mit den bekannten Thesen Arnold Toynbees auseinander und mahnt an, „die Wechselbeziehungen zwischen individuellem Handeln und historischem Prozess“ nicht zu unterschätzen, also nicht alle Entwicklungen des 2. Jahrhunderts v.Chr. auf Hannibal und den Hannibalkrieg zurückzuführen (S. 118f.).
8 Das englische Original erschien 2010 bei Duckworth. Die Auswahl beschränkt sich weitestgehend auf Monographien und Sammelbände neueren Datums und bietet Studierenden gute Ausgangspunkte für weitere, eigene Recherchen. Ergänzend – und teilweise korrigierend – zum Karthago-Buch von Werner Huß hätte man die wichtige Publikation von Walter Ameling, Karthago. Studien zu Militär, Staat und Gesellschaft, München 1993 nennen können. Auch das bekannte Überblickswerk von Herbert Heftner, Der Aufstieg Roms. Vom Pyrrhoskrieg bis zum Fall von Karthago (280–146 v. Chr.), Regensburg 1997 u.ö. fehlt.

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