A. Steiner: Die DDR-Wirtschaftsreform der sechziger Jahre

Titel
Die DDR-Wirtschaftsreform der sechziger Jahre. Konflikt zwischen Effizienz- und Machtkalkül


Autor(en)
Steiner, André
Erschienen
Berlin 1999: Akademie Verlag
Anzahl Seiten
588 S.
Preis
€ 79,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Matthias Judt, Institut für Geschichte, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

Im Jahre 1950 machte der Pro-Kopf-Wert des Bruttoinlandsproduktes der DDR (in BRD-Preisen von 1989) 52,7 % des westdeutschen Vergleichswertes aus (DDR: 78,8 Mrd. DM bei fast 18,4 Millionen Einwohnern, BRD: 406,7 Mrd. DM bei etwas mehr als 50 Millionen Einwohnern). Trotz hoher eigener Wachstumsraten sank dieser Wert bis 1960 auf 39,5 % (DDR: 113,1 Mrd. DM bei fast 17,2 Millionen Einwohnern; BRD: 931,5 Mrd. DM bei nunmehr fast 56 Millionen Einwohnern). Die SED-Führung machte für diese ungünstige Entwicklung vor allem die "Republikflucht" - also die Effekte der millionenfachen Abwanderung qualifizierter Arbeitnehmer über die offene Grenze in Berlin - verantwortlich. Doch bereits in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre hatten wichtige DDR-Ökonomen (Fritz Behrens, Arne Benary und andere) die entscheidenden Ursachen für den wachsenden Rückstand zur Bundesrepublik im eigenen Wirtschaftsmodell erkannt.1 Dieses zu reformieren (nicht abzuschaffen!), indem die Entscheidungsfreiheit der Unternehmen erweitert und somit die Effizienz und Leistungskraft der "volkseigenen" Betriebe gesteigert werden sollte, brachte ihnen 1957 den von SED-Generalsekretär Walter Ulbricht bei einer Tagung des Zentralkomitees der Partei vorgetragenen Vorwurf des "Revisionismus" ein. Sie wurden gemaßregelt, doch nur kurze Zeit, nachdem sowohl Behrens als auch Benary entwürdigende "Selbstkritiken" abverlangt worden waren (1960 bzw. 1961), begann 1964 in der DDR ein Reformprozeß, der das ungebrochene Interesse der (wirtschafts-)historischen und politikwissenschaftlichen Forschung gefunden hat.

Wichtigstes Ziel des "Neuen Ökonomischen Systems der Planung und Leitung" (NÖSPL oder kurz NÖS, 1964 bis 1967/68) bzw. des anschließenden "Ökonomischen Systems des Sozialismus" (ÖSS, 1967/68 bis 1970/71) war es, durch eine Reform des eigenen Wirtschaftssystems die Dynamik und Effizienz des marktwirtschaftlichen Referenzsystems in der Bundesrepublik zu erreichen, ohne dessen negative Folgeerscheinungen (Arbeitslosigkeit u.a.) zu erleben. Vor dem Hintergrund einer Reform des Wirtschaftslebens sollte hiermit der gesellschaftspolitische Alternativanspruch des Staatssozialismus gegenüber dem kapitalistischen System gewahrt und somit die Überlegenheit der östlichen Ordnungen insgesamt bewiesen werden.

Sowohl vor 1989 als auch nach der demokratischen Revolution in der DDR, nunmehr auf der Grundlage der nach dem Ende der SED-Herrschaft uneingeschränkt zugänglichen Archivquellen, entstanden wichtige Untersuchungen zu diesem vielleicht interessantesten Abschnitt der DDR-Wirtschaftsgeschichte. Hervorzuheben sind hier die Untersuchungen von Jörg Roesler 2 und anderen, die durch die Informationen aus den inzwischen veröffentlichten Memoiren führender Wirtschaftsfunktionäre der DDR (wie z.B. die von Planungschef Gerhard Schürer 3) oder Interviews mit ihnen ergänzt wurden. Doch bisher fehlte eine umfassende Gesamtanalyse der Reformphase, die - ausgehend von der Untersuchung der Reformschritte in der Wirtschaft - auch deren gesellschaftspolitische Implikationen darlegt. Sie liegt nunmehr mit der in Buchform erschienenen, Ende 1997 an der Fakultät für Volkswirtschaftslehre der Universität Mannheim angenommenen Habilitationsschrift von André Steiner vor. Auf sie wird in Zukunft jeder, der sich mit der Geschichte des zweiten deutschen Staates - nicht nur in den sechziger Jahren - beschäftigt, zurückgreifen müssen.

Steiner liefert nicht nur eine genaue Beschreibung der einzelnen Reformvorhaben und ihrer Umsetzung und Ergebnisse, sondern unterzieht sie einer kritischen Analyse, die sich sehr genau an den Vorstellungen des damaligen politökonomischen Denkens in der DDR orientiert. Damit gelingt es ihm, die Inkonsequenz des Reformkonzeptes und seiner Umsetzung von "innen" heraus zu erklären, nicht vordergründig aus dem Vergleich mit westlichen Wirtschaftssystemen, der indes dennoch offenbar wird. Was von den Gegnern der Reform (so zum Beispiel dem damaligen DDR-Finanzminister Willy Rumpf) von Beginn an befürchtet wurde, war auch nicht in den Intentionen der Reformbefürworter (zu denen Staats- und Parteichef Walter Ulbricht zu zählen ist) vorgesehen: Die Einbettung der marktorientierten Wirtschaftstätigkeit der Unternehmen in das planwirtschaftliche Regelwerk sollte nicht beseitigt, seine Liberalisierung somit in von oben vorgegebenen und jederzeit neu zu ziehenden Grenzen vollzogen werden. Der von der östlichen Führungsmacht wegen der Reform zeitweilig befürchtete Systembruch in der DDR sollte keinesfalls eintreten, der Herrschaftsanspruch der SED also zu keinem Zeitpunkt aufgeben werden. Indem Steiner in seiner Untersuchung diese wirtschaftstheoretischen und gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen betont, läuft er einerseits nicht Gefahr, die Reformphase als wegen des Widerstandes ihrer Gegner "vertane Chance" für den Staatssozialismus zu beschreiben, andererseits macht er deutlich, daß die Geschichte der Planwirtschaft keineswegs statisch und ohne Varianten in ihrer unterschiedlichen Ausprägung sowohl im Hinblick auf die verschiedenen Zeitabschnitte in der Entwicklung einzelner staatssozialistischer Länder als auch im Hinblick auf den Vergleich zwischen diesen Ländern zu betrachten ist.

Die Ergebnisse der Reformphase in der DDR werden von Steiner in ihrer ernüchternden Wirkung vorgestellt. Neben der Mobilisierung von bisher von den Wirtschaftseinheiten "versteckten" Reserven und einer verstärkten Innovationstätigkeit besonders gegen Ende der sechziger Jahre blieb eine grundlegende Dynamisierung der DDR-Planwirtschaft aus, wenn auch der Strukturwandel in der DDR-Volkswirtschaft durch Erneuerungsprozesse beschleunigt werden konnte. Dies spiegelt sich auch in der Entwicklung des Bruttoinlandsproduktes wider, das 1970 in der DDR pro Kopf 35,7 % des westdeutschen Wertes ausmachte (DDR: 144,8 Mrd. DM bei weniger als 17,1 Millionen Einwohnern; BRD: 1 447,7 Mrd. DM bei jetzt gut 61 Millionen Einwohnern). Hatte sich das Zurückfallen gegenüber der westdeutschen Volkswirtschaft während der NÖS- bzw. der ÖSS-Phase also verlangsamt, sollte jedoch erst die dem Abbruch der Reform 1970/71 nachfolgende Entwicklung die Entscheidung im Wettbewerb der Wirtschaftssysteme bringen. Wuchs bis 1980 der Wert des Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukts in der DDR noch einmal auf 36,4 % des westdeutschen Wertes an (DDR: 186,9 Mrd. DM bei über 16,7 Millionen DM; BRD: 1889,9 Mrd. DM bei fast 61,7 Millionen Einwohnern), sank die Wirtschaftskraft der DDR bis 1989 auf nur noch etwa 33,1 % des westdeutschen Wertes ab (DDR: 194,4 Mrd. DM bei über 16,4 Millionen DM; BRD: 2237,4 Mrd. DM bei mehr als 62,6 Millionen Einwohnern).

Anmerkungen:
1 Die später als "revisionistisch" bezeichneten und unter Druck so auch von den Autoren selbst "eingestandenen" Artikel von Fritz Behrens ("Zu Grundproblemen der politischen Ökonomie des Sozialismus in der Übergangsperiode" und "Zum Problem der Ausnutzung ökonomischer Gesetze in der Übergangsperiode") und Arne Benary ("Zu Grundproblemen der politischen Ökonomie des Sozialismus in der Übergangsperiode") erschienen allesamt in einem Sonderheft der DDR-Zeitschrift Wirtschaftswissenschaft (Nr. 5/1957, 3. Sonderheft).
2 vgl. u.a. Jörg Roesler, Zwischen Plan und Markt. Die Wirtschaftsreform 1963-1970 in der DDR, Berlin 1990.
3 Gerhard Schürer, Gewagt und verloren. Eine deutsche Biographie, Frankfurt/Oder 1996.

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