E. Kingsepp u.a. (Hrsg.): Hitler für alle

Titel
Hitler für alle. Populärkulturella perspektiv på Nazityskland, andra världskriget och Förintelsen


Herausgeber
Kingsepp, Eva; Schult, Tanja
Erschienen
Stockholm 2012: Carlsson Bokforlag
Anzahl Seiten
Preis
250,00kr
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Izabela A. Dahl, Nordeuropa-Institut, Humboldt-Universität zu Berlin

Die Beobachtung der schwedischen Populärkultur, die den deutschen Nationalsozialismus, seine Hauptakteure und Symbole in unterschiedlichen Ausdrucksformen nutzt und performt, gibt den Herausgeberinnen und den einzelnen Beiträgen der hier besprochenen Anthologie einen thematischen Anker. Im Alltag und seinen Medien, in denen unterschiedliche Lebensentwürfe zum Ausdruck kommen und sich entfalten, werden verschiedene gesellschaftsrelevante Inhalte produziert und reproduziert – auch solche, die mit der deutschen nationalsozialistischen Vergangenheit konnotiert werden oder Referenzen zu ihr herstellen. Elemente, Symbole und Topoi des deutschen Nationalsozialismus werden durch Krimis, Tagespresse, Spielfilm, Sport, Schulunterricht, Kunst und Musik in das alltägliche Leben infiltriert und so durch ihre Präsenz und breite Streuung zu deren festem Bestandteil. Sie üben auf Menschen eine Wirkung aus, häufig ohne bewusst reflektiert zu werden. Und so vielfältig der populärkulturelle Umgang mit diesen Inhalten ist, so lässt sich eins mit Sicherheit feststellen: Die Inhalte der deutschen nationalsozialistischen Vergangenheit sind dadurch auch heute allgegenwärtig.

Mit dem Ansatz einer Reflexion über schwedische populärkulturelle Repräsentationen des deutschen Nationalsozialismus begründet sich der aktuelle Bezug der Anthologie und ihrer einzelnen Beiträge, die als Spiegel des heutigen Umgangs mit der Erinnerung vor dem Hintergrund der alltäglichen Konstruktion der Erinnerungskultur und des Umgangs mit Geschichte diskutiert werden.

Die Begriffe, die die einzelnen Beiträge konzeptuell begleiten, sind Geschichtsbewusstsein (historiemedvetande), Geschichtskultur (historiekultur) und Geschichtsanwendung (historiebruk) sowie ihre Verwandten wie kollektive Erinnerung (kollektivt minne) und Erinnerungskultur (minneskultur). Sie alle fügen sich in einer transmedialen Erzählung zusammen, „einer Erzählung, die sich in vielen unterschiedlichen Varianten, Genres und Medienformen wiederfindet, die alle auf einer Metaebene zusammenspielen, um ein Bild zu schaffen, das widerspruchvoll sein kann sowie generelle Ähnlichkeiten aufweisen kann“ (S. 12).

Die Anthologie ist das Ergebnis der Zusammenarbeit zwischen den beiden Herausgeberinnen, eines Workshops sowie einer Konferenz am Historischen Institut der Universität in Stockholm. Das postulierte Ziel der Anthologie ist es, die Beziehung von schwedischer Populärkultur zu Nazideutschland, zum Zweiten Weltkrieg und zum Holocaust kritisch zu reflektieren, wobei die aufgeworfenen Fragen durch einen breiten interdisziplinären Zugang generiert werden, der akademische mit „mehr praktischen, alltagsbasierten“ Perspektiven zusammenbringt (S. 19). Die grundlegende These des Bandes ist, dass die Menschen im Alltag Erlebnisse und Eindrücke gewinnen, die häufig unbewusst ihr Bild von der Realität und vom historischen Vergangenen beeinflussen. Neben der Einführung umfasst das Buch vierzehn Beiträge, die in vier thematische Schwerpunkte eingeteilt sind: Nachrichten und Gesellschaft, Film, Belletristik und Comics sowie übergreifende Reflexionen. Sie basieren auf heterogenem Material, das sich von visuellen Medien über Benennungspraktiken und mediale Textkorpora bis hin zu künstlerischen Darstellungen erstreckt.

In den essayistischen Beiträgen beobachten und reflektieren die Autor_innen die alltägliche Reproduktion der auf die deutsche nationalsozialistische Vergangenheit rückführbaren Inhalte, die sich in verschiedenen Ausdrucksformen manifestieren. Diese Reproduktion findet im Spannungsfeld gesellschaftlicher Normen statt, die ihrerseits eine Vielfalt von Reaktionen im Spektrum von Akzeptanz bis Ablehnung bedingen. Damit werden die Beobachtungen in Bezug auf strukturell bedingte Phänomene der gesellschaftlichen Sprechräume untersucht wie Diskurse um politische Korrektheit als Herausforderung des schwedischen demokratischen Systems. Ein Beispiel hierfür liefern Cordelia Heß und Monika Urban, die anhand einer vergleichenden Studie schwedischer und österreichischer topographischer Benennungspraktiken den Umgang mit Personennamen, Bezeichnungen von Ereignissen und Ortsnamen untersuchen, die in einer direkten Verbindung zum „Dritten Reich“ stehen. Die Autor_innen zeigen, wie unterschiedlich Diskussionen im öffentlichen Raum geführt werden, die in Abhängigkeit von Rechtslage und Diskussionskultur stattfinden.

Die aktuellen gesellschaftlichen Kontexte stellen nicht zuletzt auch neue Herausforderungen im Umgang mit der eigenen Geschichte. Wie Anne Hedén feststellt, die sich in ihrem Beitrag mit dem Film aus europäischer Perspektive beschäftigt, hörte Neutralität als Konzept spätestens in den 1990er-Jahren auf, „identitätsstiftend“ für die schwedische Gesellschaft zu sein. Henrik Arnstad stellt Fragen, die das schwedische Selbstbild und die fehlende schwedische Partizipation im Zweiten Weltkrieg als eine Herausforderung im Prozess der nationalen Identitätsbildung betreffen, und zeigt anhand einer Filmanalyse, wie durch eine fiktive Filmhandlung der Anschluss Schwedens an die westeuropäische Kriegserfahrung gesucht und herstellt wird.

Ein wichtiger Typ gesellschaftlicher Sprechräume, in denen eine Begegnung unterschiedlicher Traditionen und kultureller Bezüge stattfindet, sind Schulen. Die Vermittlung des Wissens über, aber auch des Umgangs mit dem Zweiten Weltkrieg und Holocaust in multikulturellen Räumen diskutiert Ylva Wibaeus.

Eine spezielle Ausdrucksform, die einen breiten Eingang in alltägliche Öffentlichkeiten findet, ist Humor, der die Projektionsflächen für gängige Stereotypisierungen und Klischees bietet. Den Umgang mit Nazi-Witzen rücken zwei Autor_innen ins Zentrum ihrer Untersuchungen und nähern sich dadurch Tabuisierung als einem Charakteristikum des Umgangs mit sozial herausfordernden Themen an. Anette Reinsch-Campbell stellt einige Betrachtungen zur populären und in der größten Zeitung Schwedens, Dagens Nyheter, gedruckten Comicserie „Rocky“ an, die von Martin Kellerman gezeichnet ist; Tanja Schult diskutiert das künstlerische Schaffen des Straßenkünstlers Dan Parks.

Schult stellt in ihrem Beitrag fest, dass die „offizielle Erinnerungskultur“, wie sie sie nennt, in vieler Hinsicht durch politische Korrektheit, Generalisierungen und häufig durch ausgediente Rituale gekennzeichnet ist. Der Ausgangspunkt hier ist die Referenz auf die Arbeit der Kriminologin und Historikerin Katherine Biber, die zeigt, dass die Erinnerung an den Holocaust durch fest etablierte Normen geregelt wird und dass ein wichtiger Bestandteil der Normierung Verantwortung im Umgang mit dem Thema ist, sowohl in der Betrachtung als auch in der künstlerischen Umsetzung. Statt die Ideologisierungsmacht des künstlerischen Schaffens zu analysieren, liest Schult die provokante Wirkung von Parks Plakatkunst als Ausdruck eines generellen Paradigmenwechsels in Bezug auf die Holocaust-Erinnerungskultur, die nicht nur durch Historiker_innen rekonstruiert, repräsentiert und gedeutet wird. Schult folgert, dass dies eine Verschiebung weg von der Frage, „wer“ die Erinnerung tragen soll, hin zur Frage, „wieso“ an den Holocaust erinnert werden soll, motiviert.

Die mystischen Züge des deutschen Nationalsozialismus und die starke Faszinationskraft, die er auf viele Menschen ausübt, entstehen, wie Eva Kingsepp betont, durch seine kontextuelle Berührung der existentiellen Fragen um Leben und Tod, Ethik und Verantwortung. Diese Faszination betrifft häufig auch diejenigen, die sich nicht durch die nationalsozialistische Ideologie als solche locken lassen, wie dies Yvonne Andersson mit ihrer quantitativen Untersuchung der aktuellen Tagespresse belegt. Sie kommt zu dem Schluss, dass die Namen der Verbrecher eine Art soziale Energie auslösen, die zu öffentlichen Diskussionen führen und die als eine Art „Gravitationspunkt“ für viele an den Diskussionen beteiligten gesellschaftlichen Akteur_innen dienen. Damit stellt Andersson fest, dass, obwohl sich Schweden nicht aktiv am Zweiten Weltkrieg beteiligt hat, das Land nicht jenseits nationalsozialistischer Erfahrung betrachtet werden kann.

Neben weiteren Beiträgen, die unter anderem auch das Augenmerk auf literarische Repräsentationen der ideologischen Seite des Nationalsozialismus richten und interessante populärkulturelle Perspektiven auf den deutschen Nationalsozialismus, den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust einbringen, nutzt Jenny Nörbeck ihren Beitrag als eine Möglichkeit, ihr eigenes berufliches und privates Leben zu reflektieren und die daraus resultierenden Erfahrungen mit nationalsozialistischen Kontinuitäten zu diskutieren, um eigene Verortungen zu suchen.

Die kritischen Selbstverortungen schließen einen Bogen um das essayistische Mosaik und lassen mit einem Rückblick auf die Ziele der Herausgeberinnen konstatieren, dass diese durchaus realisiert wurden. Mit dem Imperativ zur Reflexion gibt die Anthologie viele kritische Denkimpulse und öffnet Fragen, die zur Diskussion gestellt werden und nicht immer beantwortet werden. In einem störenden Widerspruch zu den kritischen Betrachtungen stehen die grafische Gestaltung des Umschlags sowie der in Rosabuchstaben gesetzte Titel. Dies sollte jedoch nicht über den besonderen Wert der Anthologie hinweg täuschen: Die Leser_innen werden durch Nachdenken statt durch ausgearbeitete fertige Antworten zur Reflexion geführt.

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