Zur Koexistenz von Juden und Katholiken

Titel
Nebeneinander - Miteinander - Gegeneinander?. Zur Koexistenz von Juden und Katholiken in Süddeutschland im 19. und 20. Jahrhundert


Herausgeber
Haus der Geschichte Baden-Württemberg
Reihe
Laupheimer Gespräche 2000
Erschienen
Gerlingen 2002: Bleicher Verlag
Anzahl Seiten
332 S.
Preis
€ 15,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Martin Ulmer, Ludwig-Uhland-Institut für Empirische Kulturwissenschaft, Universität Tübingen

Der vom Haus der Geschichte Baden-Württemberg publizierte Sammelband beschäftigt sich mit einigen innovativen Fragestellungen der deutsch-jüdischen Geschichte: Wie war das Verhältnis von jüdischer und christlicher und dabei katholischen Bevölkerung in den Landgemeinden in Süddeutschland vor 1933? Was sind die Charakteristika des katholischen Antisemitismus und die ideologischen Grundlagen des Judenbildes im katholischen Milieu? Und welche Auswirkungen hatte ein spezifisch katholischer Antisemitismus auf die Beziehungsformen von jüdischer und katholischer Landbevölkerung?

Erst in den 1990er Jahren wandte sich die Sozial- und Kulturgeschichte diesen Fragestellungen zu. Über Jahrzehnte führte das Landjudentum gegenüber der dominierenden Forschung über die Stadtjuden ein Schattendasein. Dies änderte sich mit dem von Monika Richarz und Reinhard Rürup herausgegebenen Werk über die Landjuden, das der Forschung zu den dörflichen Lebenswelten der Juden und deren Nachgeschichte neue Impulse gab.1 Außerdem bewirkte u.a. die Studie des Trierer Historikers Olaf Blaschke eine Entmythologisierung des bislang als resistent bzw. reserviert geltenden Katholizismus gegenüber dem Antisemitismus.2 Zu diesen neuen Trends veranstaltete das Haus der Geschichte im Jahr 2000 die Tagung „Laupheimer Gespräche“, dessen Vorträge in dem Sammelband dokumentiert sind.

Einleitend skizziert der Berliner Historiker Uri Kaufmann den Zusammenhang von Emanzipation und jüdischem Selbstverständnis im 19.Jahrhundert. Schon im 18. Jahrhundert sahen sich Juden als Bürger, aber es wurde ein mühsamer Kampf um Emanzipation, weil die staatliche Seite den Juden lange Zeit die Gleichstellung - nicht nur im religiösen Bereich – vorenthielt. Die antiemanzipatorische Judenfeindschaft bestimmte auch das neue Selbstverständnis eines modernen Judentums, das in der Entwicklung des Reformjudentums sowie in säkularer Hinsicht durch die Gründungen des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens und den Vereinen für jüdische Geschichte und Literatur zum Ausdruck kam.

Zur Frage der Koexistenz liefern die Beiträge des Jerusalemer Historikers Jacob Borut und des Berliner Historikers Ulrich Baumann exemplarische Einblicke in das komplexe Nebeneinander, Miteinander und Gegeneinander in süd- und westdeutschen Dörfern und Provinzstädten. Ulrich Baumanns Vortrag ist ein Konzentrat seiner Dissertation, die das Zusammenleben von Juden und Christen im ländlichen Südbaden über den Zeitraum von 1862 bis 1940 untersucht hat.3 Ausgehend vom Begriff der „sozialen Institution“ für das Zusammenleben entfaltet Baumann eine alltagshistorische Perspektive der vielfältigen Beziehungsmuster. Die ökonomische Differenz zwischen dem Handel der Juden und der Landwirtschaft der Christen prägte eine Ambivalenz von Nähe wie die „symbiotischen Wirtschaftsbeziehungen“ (Monika Richarz) beim Viehhandel und eine ideologische Distanz vieler nichtjüdischer Nachbarn gegenüber dem „nicht reellen überflüssigen Handel“ zeigen. Dagegen bestimmte im religiösen Bereich die gegenseitige Achtung der jeweiligen Konfession und ihrer Riten den dörflichen Alltag. Außerdem existierte eine rege christlich-jüdische Kooperation in Gesangs- und Kriegervereinen sowie der Freiwilligen Feuerwehr. Nur die christliche und jüdische Jugend gingen jeweils getrennte Wege. Aufgrund der Längsschnittsstudie gelingt Baumann eine Analyse des Antisemitismus im dörflichen und kleinstädtischen Mikrokosmos bis zum Aufstieg des Nationalsozialismus. Zwar widerstand die „soziale Institution des Zusammenlebens“ den antisemitischen Tendenzen im Kaiserreich infolge des ländlichen Wandels und der Agrarkrise noch unbeschadet, als die Rezeption von Agitationsliteratur unter der Landbevölkerung auch in einzelnen Gemeinden zu Pogromdrohungen und hohen Wahlergebnissen antisemitischer Politiker führten. Doch die Bindekräfte der traditionellen Dorfgesellschaft - der Zwang zur Kooperation und die Idee des konfessionellen Friedens - hatten in der Weimarer Republik bereits stark an Bedeutung verloren, als die Nationalsozialisten seit 1928 erfolgreich auf dem Land agierten.

Ähnlich überzeugend bestimmt Jacob Borut den lokalen Faktor in seiner These, dass Juden in den Dörfern und Kleinstädten während der Weimarer Republik nicht nur in ihrem Selbstbild Juden und loyale Deutsche waren, sondern sich auch stark an den örtlichen Normen der politischen Gemeinde orientierten. Beispiele dafür waren der Verzicht auf koscheres Essen in der Öffentlichkeit, die Teilnahme an katholischen Feiertagen oder die jüdische Wahlpräferenz für das Zentrum in katholischen Landstrichen. Auch Borut betont die Integration und Mitwirkung der Juden im Vereinswesen, wenngleich er für die zweite Hälfte der Weimarer Republik angesichts des wachsenden Antisemitismus eine stärkere Ausgrenzung und Herausbildung jüdischer Vereine und Jugendbünde konstatiert.

Der Jerusalemer Historiker Oded Heilbronner relativiert die gängige These zum Wahlverhalten der Katholiken für das Zentrum in der Weimarer Republik. Er geht von einem katholischen Sonderweg in Süddeutschland aus: So ist bei Ortschaften unter 2.000 Einwohnern seit 1930 ein überdurchschnittlich gutes Ergebnis für die NSDAP dokumentiert, und das in Orten, wo bis 1918 die Nationalliberalen dominierten. Die katholische Bevölkerung verhielt sich dort im 19.Jahrhundert gegenüber dem katholischen Milieu in Deutschland distanziert.

Dagegen wirken manche Artikel etwas anachronistisch, z.B. der von der am Haus der Geschichte tätigen Historikerin Anna-Ruth Löwenbrück, die am Beispiel der oberschwäbischen Kleinstadt Laupheim zwar die vielfältige Entwicklung jüdischen Lebens darstellt, aber an der überholten „Harmonie-These“ zwischen jüdischer und katholischer Bevölkerung festhält und somit als Fazit im Blick auf den Nationalsozialismus von einem radikalen Bruch spricht.

Das Bild jüdischer Landfrömmigkeit im 19. Jahrhundert rundet der Potsdamer Religionswissenschaftler Karl Erich Grözinger ab, der die Ungleichzeitigkeiten und das Nebeneinander von Reformkonzepten und traditioneller Religionspraxis in Landgemeinden darstellt. Der württembergische Landesrabbiner Joel Berger geht schließlich aus theologischer und volkskundlicher Sicht anschaulich auf die Gemeinsamkeiten des christlichen und jüdischen Kalenders ein.

Olaf Blaschkes Beitrag „Heimatgeschichte als Harmonielehre?“ problematisiert die affirmativen Sichtweisen, indem er auf die Dialektik von gutem Zusammenleben und dem übergreifenden antisemitischen Stereotypenensemble verweist. Er führt dies auf den von ihm bereits in seiner Dissertation untersuchten „doppelten Antisemitismus“ im katholischen Milieu zurück, der zwischen einem „guten gerechten Antisemitismus“ und einen „schlechten unchristlichen blindwütigen Judenhass“ unterscheidet. Dieser gegen die modernen Juden und ihren angeblich zersetzenden Einfluss gerichtete Antisemitismus war integraler Teil der antimodernen ultramontanen Weltanschauung. Er entsprang einem europäischen universellen Kirchendiskurs über den Dualismus (gute Christen versus böse, unchristliche Welt), Revisionismus (Rückkehr zum vormals christlichen Zustand) und Integralismus (Kontaktverbot mit allen Gottlosen). Der katholische Antisemitismus diente zur Stabilisierung des eigenen Milieus und zur Komplexitätsreduktion gegen eine bedrohliche Umwelt.

Aus ideengeschichtlicher Perspektive entwickelt der Regensburger Religionspädagoge Michael Langer ein facettenreiches Judenbild in der katholischen Volksbildung. Er lässt die ganze Palette der Antisemitismen im Katholizismus Revue passieren. Dazu gehören die in weiten Bevölkerungskreisen rezipierte Judenfeindschaft zur ultramontanen Krisenbewältigung, wie es der populäre Freiburger Theologe Alban Stotz vertrat und die beiden einflussreichen Theologen Franz Hettinger und Albert M. Weiss, die in ihren Schriften die theologische zur soziokulturellen Judenfeindschaft weiterentwickelten und auf die „Verjudung“ des gesellschaftlichen und kulturellen Lebens zuspitzten. Danach hatte die jüdische Religion nur ein Existenzrecht in der Orthodoxie, während das Reformjudentum scharf angegriffen wurde. Zum katholischen Antisemitismus gehören aber auch die Agitationstheologen Konrad Martin, Joseph Repperts und August Rohling, die in ihren Werken in krudester Weise Ritualmordpropaganda und Talmudpolemik betrieben und damit erheblich zur Popularisierung und Radikalisierung des Antisemitismus im Kaiserreich beitrugen. Zwar lehnte der Katholizismus die Rassenideologie mehrheitlich ab, aber das Milieu bediente sich durchaus eines scharfen Antisemitismus, nicht zuletzt zur Festigung der katholischen Identität.

Schließlich erweitern zwei weitere Beiträge das negative Verhältnis von Katholizismus und Judentum um die Perspektive auf die NS-Zeit: Olaf Blaschke analysiert das Schweigen der Kirche zur Pogromnacht auf der Basis des negativen Judenbildes. Zu gleichen Resultaten kommt der katholische Theologe und Tübinger Kirchenhistoriker Joachim Köhler, der anhand der Rolle der deutschen Bischöfe, der Isolierung Edith Steins und der unterbliebenen Intervention des Papstes gegen die Judenverfolgung und die Shoa das Versagen der katholischen Kirche darstellt. Hinzu kam die Gehorsamspflicht der katholischen Gläubigen gegenüber der Treue der katholischen Kirche zum NS-System.

Der Sammelband stellt eine profunde Zusammenfassung der breiten empirischen Forschung dar. Er bietet einen lohnenswerten aktuellen Überblick zum Thema Landjuden, jüdisch-christlicher Beziehungsgeschichte und katholischem Antisemitismus.

Anmerkungen:
1 Monika Richarz, Reinhard Rürup: „Jüdisches Leben auf dem Lande. Studien zur deutsch-jüdischen Geschichte. (= Schriftenreihe wissenschaftlicher Abhandlungen des Leo-Baeck-Instituts, 56)
Tübingen 1997.
2 Olaf Blaschke: Katholizismus und Antisemitismus im Deutschen Kaiserreich. (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Band 122). Göttingen 1999.
3 Ulrich Baumann: Zerstörte Nachbarschaften. Christen und Juden in badischen Landgemeinden 1862-1940. Hamburg 2000.

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