G. Lemke: Kulturgeschichte Gesellenwanderns

Titel
Wir waren hier, wir waren dort. Zur Kulturgeschichte des modernen Gesellenwanderns


Autor(en)
Lemke, Grit
Erschienen
Anzahl Seiten
260 S.
Preis
€ 16,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Wolfgang Ayaß, FB 4, Universität Kassel

Jeder kennt sie, die Männer und (wenigen) Frauen in den schwarzen Bauarbeiteranzügen, den breiten Hüten und den sorgsam geschnürten bunten Bündeln: Wandernde Handwerksgesellen. Sie sind wohnungs- und mittellos unterwegs. Mit gestelzten Sprüchen machen sie zu später Stunde in den Kneipen ihre Runde und bitten um Geld. Sind das schlichte Bettler mit geschickter Bettelmethode?

Die Leipziger Kulturwissenschaftlerin Grit Lemke zeichnet auf gut 250 Textseiten eingehend und mit viel Detailkenntnis ein ganz anderes Bild. Sie schildert Reste einer selbstbewußten Handwerkerkultur und analysiert die rudimentären Reste des traditionellen Gesellenwanderns im 20. Jahrhundert, das sich nur im Baugewerbe erhalten hat, dessen Produktionstechniken sich in den letzten Jahrhunderten vergleichsweise wenig geändert haben. Grit Lemke beschreibt die unter sich eher zerstrittenen Vereinigungen wandernder Handwerksgesellen („Schächte“), wie den der „Rechtschaffenen Fremden“, den „Rolandschacht“, die „Gesellschaft Freier Vogtländer“ und den erst 1979 entstandenen links-alternativen Schacht „Axt & Kelle“. Solchen Schächten bleiben die Gesellen auch nach ihrer in der Regel dreijähriger Wanderschaft lebenslang als Mitglieder verbunden. Obwohl sich diese Schächte gern auf „älteste überlieferte Riten“ berufen, sind sie sozialgeschichtlich eher jüngeren Datums. Der älteste der bestehenden Schächte, die „Gesellschaft der rechtschaffenen fremden und einheimischen Maurer- und Steinhauergesellen“ wurde erst 1890 gegründet. Da sind selbst die Vorläuferorganisationen der Industriegewerkschaft Bau einige Jahrzehnte älter. Insgesamt ist das heutige Gesellenwandern eine ziemlich marginale Erscheinung, wobei Lemke allerdings in der zweiten Hälfte der 90er Jahre einen gewissen Aufschwung insbesondere außerhalb der traditionellen Schächte konstatiert. Etwa 700 Gesellen sollen derzeit in Deutschland auf Wanderschaft sein. Das ist - bezogen auf das Baugewerbe - nur eine kleine Minderheit. Tatsächlich gewandert wird übrigens kaum, man bewegt sich per Autostopp und Bahnfahrt.

Grundlage des Buchs ist eine 1999 von Wolfgang Kaschuba an der Humboldt-Universität angenommene volkskundliche Dissertation. Empirischer Kern sind sieben autobiografische Interviews, die in den 90er Jahren durchgeführt wurden. Grit Lemke hat ihr Sample mit Bedacht ausgewählt. Sie interviewte zwei inzwischen verstorbene „Rechtschaffene Fremde“, die noch in der Zeit der Weimarer Republik unterwegs waren, je einen „Rechtschaffenen Fremden“ und einen „Rolandsbruder“, die nach dem Zweiten Weltkrieg tippelten, und schließlich einen Vertreter und eine Vertreterin der modernen Gesellenbewegung. Ergänzt werden diese Lebensgeschichten durch die des Leipziger „Gewandhausgesellen“ und Autor eines Buchs über Richtfeste Peter Kunze, der zwar nie als wandernder Geselle unterwegs war, jedoch als Beleg für standhaft weiterbestehendes Handwerkerselbstbewußtsein in der DDR dienen soll. Diese sieben Lebensläufe decken somit - wie Lemke dies nennt - drei Generationen (Großväter-Väter-Enkel) wandernder Gesellen ab. In die mit viel Esprit geschriebene Schilderung und überaus kompetente Analyse dieser Lebensläufe läßt Lemke jeweils ausführlich allgemeine Aussagen zu Organisationen, Symbolen, Riten und Bräuchen der „Gesellenkultur“ einfließen.

Grit Lemke schreibt gewissermaßen in eigener Sache. Sie ist der modernen Gesellenbewegung eng verpflichtet, ist von ihrer Erstausbildung her Baufacharbeiterin, kennt die Arbeitsbedingungen der Bauarbeit, das Milieu der Bauhandwerker und nimmt seit Jahren an Gesellentreffen teil. Sie kennt sich aus – in der Baubranche im Allgemeinen und der Gesellensubkultur im Besonderen und kann daher ihren Interviewpartnern als kompetente Kollegin gegenübertreten. So gelingt es ihr leichter, die vielen Mythen, Selbstinszenierungen, Stories und die immer wiederkehrenden Heldengeschichten ihrer Interviewpartner einzuordnen und zu dechiffrieren. Grit Lemke ist somit Insiderin par excellence, oft eher Teilnehmerin als Beobachterin, die an verschiedenen Stellen des Buchs erzählend in die Ichform fällt. Allerdings bleibt sie gleichzeitig auch Außenseiterin. Für die sich sektenhaft abkapselnden Schächte war sie eine unbequeme Schnüfflerin. Die Archive der Schächte blieben der Forscherin verschlossen. Zu den Traditionsschächten hat Lemke ohnehin eine gewisse innere Distanz. In den letzten Kapiteln wird ihr Buch immer mehr zu einer Streitschrift für die im Alternativmilieu angesiedelte neue Gesellenbewegung, zum Plädoyer für „freies Reisen“ außerhalb der traditionellen Schächte.

Lemkes detaillierte Insider-Kenntnisse, ihr ausgeprägter Binnenblick stoßen auch an Grenzen. Das Gesellenwandern und die Gesellenvereinigungen werden in erster Line in der Geschichte des Bauarbeiterberufs verortet. Darüber hinausgehende weitergehende Fragestellungen werden nicht entwickelt. Man könnte das Thema „Gesellenwandern“ ja auch durchaus von anderen Blickwinkeln aus betrachten, etwa durch Bezüge zur Wanderarbeit oder (hinsichtlich der etwas wichtigtuerischen pseudogeheimen Organisationsform der Schächte) zur Freimaurerei. Beides geschieht nur am Rande.

Während in der Bundesrepublik die Schächte in den sechziger und siebziger Jahren immerhin noch einige Dutzend Gesellen auf Wanderschaft schickten, war in der DDR das Gesellenwandern nicht geduldet, wenngleich kleine Gruppen ehemaliger Gesellen ihren Zusammenhalt wahren konnten, der allerdings buchstäblich vom Aussterben bedroht war. Wandernde Handwerksgesellen gab es in der DDR nicht. Grit Lemke versteckt in ihrem Buch über die „Kulturgeschichte des modernen Gesellenwanderns“ nun ein ganz anderes (im Übrigen durchaus ausbaubares) Buch: Die Geschichte der Bauwirtschaft in der DDR. In den entsprechenden Passagen erfahren wir Interessantes über die herausragende Stellung der Bauarbeiter der DDR im Allgemeinen, aber auch viele Details im Besonderen, etwa über die Anstrengungen des Regimes, den traditionellen Bauhandwerker im allgemeinen Industriearbeiter aufgehen zu lassen. Lemke schildert die hartnäckige Sturheit einer Handvoll Leipziger Bauarbeiter, die - insbesondere beim Bau des Leipziger Gewandhauses - weiterhin die traditionelle Kluft trugen und bei Richtfesten nach wie vor mit Hut (statt dem nivellierenden Arbeiterhelm) auftraten. In Leipzig traten Bauarbeiter in den 80er Jahren sogar in vollständiger Kluft und mit geschnürtem Reisebündel mit der traditionellen Wandergesellen-Aufschrift „Rund ist die Welt, drum Brüder laßt uns reisen“ auf einer Kundgebung am 1. Mai auf.

Über die Geschichte des Gesellenwanderns im 19. Jahrhundert bzw. davor erfahren wir bei Lemke leider nur wenig. Damit hängt das Buch sozialgeschichtlich etwas in der Luft. Sie beschreibt Reste des Gesellenwanderns, ohne das Phänomen des Gesellenwanderns als solches historisch auszuleuchten. Der Ansatz der lebensgeschichtlichen Interviews stößt hier an seine natürlichen Grenzen, auch reicht die Organisationsgeschichte selbst der „traditionsreichsten“ Schächte kaum über das 20. Jahrhundert hinaus. Sobald Grit Lemke ihren unmittelbaren Forschungsgegenstand verläßt, stürzt sie ohnehin häufig ab. Da diente die Hexenverfolgung ganz selbstverständlich dazu, Handwerkerinnen aus dem Beruf zu treiben (S. 243), da wurde 1878 im Sozialistengesetz „ein allgemeines Organisationsverbot für Arbeiter“ ausgesprochen (S. 24). Die sozialgeschichtlichen Forschungen zur Geschichte der Wanderarbeit und mobilen Lebensformen im 19. und frühen 20. Jahrhundert sind ihr größtenteils entgangen, sie kennt weder die kulturgeschichtlichen Arbeiten zur (von ihr sogar erwähnten) „Kunden“-Bewegung der Weimarer Republik von Klaus Trappmann 1, noch die Arbeiten von Jürgen Scheffler zur Entstehung der frühen „Herbergen zur Heimat“ Mitte des 19. Jahrhunderts 2, deren Gründungen ja explizit an die alten Gesellenherbergen anknüpften. Weit hergeholt wäre der Bezugspunkt „Wandererfürsorge“ im Übrigen nicht, beide Interviewpartner der „Großvätergeneration“ berichteten von Übernachtungen in entsprechenden Einrichtungen. Der älteste der Interviewten konnte der Autorin sogar ein Wanderbuch eines badischen Wandererfürsorgeverbands vorlegen.

Anmerkungen
1 Klaus Trappmann, Landstrasse, Kunden, Vagabunden. Gregor Gogs Liga der Heimatlosen, Berlin 1980; Künstlerhaus Bethanien (Hrsg.), Wohnsitz: nirgendwo. Vom Leben und Überleben auf der Straße, Berlin 1982.
2 Jürgen Scheffler (Hrsg.), Bürger & Bettler, Materialien und Dokumente zur Geschichte der Nichtseßhaftenhilfe in der Diakonie. Bd. 1: 1854 bis 1954. Vom Herbergswesen für wandernde Handwerksgesellen zur Nichtseßhaftenhilfe, Bielefeld 1987, S. 10-40.

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