Titel
Selbstbild und Image zweier europäischer Metropolen. Paris und Berlin zwischen 1900 und 1930


Autor(en)
Kiecol, Daniel
Reihe
Europäische Hochschulschriften 3
Erschienen
Frankfurt am Main 2001: Peter Lang/Frankfurt am Main
Anzahl Seiten
367 S.
Preis
€ 57,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Friedemann Scriba, Berlin

Kiecol vergleicht in seiner Duisburger Dissertation die alte Metropole Paris und den deutschen Newcomer unter den damaligen „Weltstädten“ zwischen 1900 und 1930 im Rahmen des historischen Metropolendiskurses. Seinen Beitrag dazu untersetzt er erstens mit Materialien zum Selbstbild der beiden Städte, insbesondere aus Publizistik und Fremdenverkehrswerbung, zweitens mit publizierten Äußerungen vorwiegend von Journalisten und Reiseschriftstellern über die beiden Städte. Letztere definiert er als „Image“, d.h. als die Topoi der Außenwahrnehmung der Städte. „Selbstbild“ und „Image“ stabilisieren sich in beiden Fällen gegenseitig. Sein bewusst in Montagetechnik präsentiertes Textquellenmosaik ordnet Kiecol in den tourismushistorischen Befund einer schon mit den 1920er Jahren beginnenden Demokratisierung des Reisens ein. Insgesamt ist Berlin in dieser Studie stärker vertreten als Paris.

Den ersten Hauptteil mit den Kapiteln über das „Selbstbild“ der beiden Städte schließt Kiecol mit der These ab, dass sich die Selbsteinschätzungen beider Städte im gesamten Untersuchungszeitraum diametral gegenübergestanden hätten. Im Unterschied zu Paris habe Berlin infolge seines schnellen Wachstums und überbeschleunigten Aufstieges von einer Landeshauptstadt mittlerer europäischer Bedeutung zur Metropole ein passendes Selbstbild mehr oder minder neu erfinden müssen. Hierzu gehöre auch die schnell sichtbar werdende Kosmopolitisierung mit wachsender ausländischer Aufmerksamkeit für die Berliner Kommunalpolitik. Berlin habe eindeutig ein fortschrittsorientiertes Bild vermittelt: „Dieses war gekennzeichnet von Fortschrittsvertrauen und Modernität und grenzte sich damit sowohl vom früheren, preußischen und wilhelminischen Erbe als auch vom Image der Metropole Paris entschieden ab“ (S. 182). Der Wechsel vom Kaiserreich zur Republik habe die Bereitschaft, sich an amerikanischen Großstädten zu orientieren, verstärkt (S. 184). Gerade in der Auseinandersetzung mit der technischen Moderne hätten sich beide Städte grundlegend unterschieden: „Grosso modo läßt sich sagen, daß fast allen diesen Entwicklungen in Paris mit sehr viel deutlicherer Skepsis begegnet wurde als in Berlin. Vieles von dem, was in der deutschen Hauptstadt als Chance erkannt wurde, den Weg zur modernen, funktionsfähigen Großstadt zu ebnen, galt in Paris als bedrohlich für die historische Substanz der Stadt“ (S. 186).

Das Selbstbild von Paris (S. 22-64) als Metropole mit den klassischen Kategorien des 19. Jahrhunderts unter Berufung auf kulturelle Werte und Traditionen, zentriert oft um den Fokus „Louvre“, veränderte sich im Übergang zur Moderne seit Napoleon III. und der Neugestaltung des Stadtraums durch Haussmanns Boulevards, die ihrerseits Raum gaben für ein neues Lebensgefühl sowie mit der wachsenden Bedeutung des Vergnügungsviertels Montmartre. Letztere Aspekte wurden - außer während der „spartanischen“ Jahre während des Ersten Weltkrieges - parallel zur Professionalisierung der Fremdenverkehrsorganisation zunehmend stärker betont. Gleichzeitig behauptete sich aber die Topik „einer unwandelbaren, immer gleichen Stadt, die sich unbeeindruckt von allem, was in ihr und um sie herum vor sich geht, nie entscheidend verändert“ (S. 63). Die geschichtslastige Selbstdeutung habe dazu geführt, reale städtebauliche Probleme erst verspätet anzugehen.

Das Selbstbild Berlins (S.65-187) hingegen habe unter der Notwendigkeit gestanden, in gewisser Weise erst einmal erfunden zu werden. Im Kontrast zu Paris habe man sich in Berlin eine bewusst modernistische Identität gegeben (S.77) – u.a. mit dem Gebrauch von Superlativen als Kompensation für fehlende historische Bindung (S.85). Seit der Jahrhundertwende seien „Pioniergeist“, „Berliner Tempo“, Größenordnung und Zugdichte der Stadtbahn und des öffentlichen Nahverkehrs überhaupt sowie die neuen Warenhauspaläste immer stärker als Werbeträger in den Vordergrund gerückt. In den 1920er Jahren lasse sich das Selbstbild als emanzipiert vom paris- und wiengeprägten Metropolenbegriff des 19. Jahrhunderts und als nun dem amerikanischen Modell zugewandt beschreiben (S. 87-88).

In einem letztlich diachronen Durchgang stellt Kiecol den Nachholbedarf der Stadtwerbung um 1900 dar (S. 106-112), die organisatorische Neuordnung des Fremdenverkehrs (S. 112-122), das Wachsen der Touristenzahlen sowie die dadurch wachsende Internationalität als Werbeträger (S. 122-134), die Beeinträchtigung durch Inflation und Xenophobie Anfang der 20er Jahre (S. 134-153) sowie die Topoi „Berlin der Arbeit“, „Berlin im Licht“ und „Berlin als Fremdenstadt“ vor allem in der Amtszeit des Oberbürgermeisters Böß (S. 141-165) dar. Hierbei weist er auch auf den Trick, die negativen Seiten des Nachtlebens positiv umzudeuten, hin (S. 165).
Anschließend bettet Kiecol Selbstbild und Einzelmaßnahmen in das im Kaiserreich vorbereitete, in der Weimarer Zeit konsequent zugespitzte kommunalpolitische Leitbild der „Maschinenstadt mit effektiver Verwaltung“ ein, nicht ohne auf die autoritären Züge im Denken des Stadtbaurates Martin Wagner und des Verkehrsdezernenten Ernst Reuter hinzuweisen (S. 165-173). Die konservativen Gegenreaktionen im Namen des kleinräumigen Heimatschutzes (vor allem nach der Bildung von Großberlin 1920 in den heutigen Dimensionen) sowie deren teilweise Integration in die Selbstdarstellung stellt Kiecol unter der Überschrift „Ick find’ mir nich’ mehr zurechte“ dar (S. 174-182).

In der als „Image“ gefassten Außenwahrnehmung erscheint im zweiten Hauptteil ein vergleichbarer Befund. Hinsichtlich Paris dominiert ein relativ statisches Bild, das sich durchgängig an den Versatzstücken der Hauptstadt des 19. Jahrhunderts orientiert – wobei sich touristisches Verhalten sozial ausdifferenziert, vor allem gehobenere Touristen zunehmend das „nicht-touristische“ Paris suchen und sich im Verhalten von den Parisern nicht erkennbar unterscheiden wollen (S. 283-284). Berlin wird immer deutlicher als komplementäres Gegenstück zu Paris wahrgenommen und rückt schließlich an eine führende Stelle im internationalen Metropolendiskurs in der Nachkriegszeit vor (S. 284-285).

Die Reiseschriftsteller, die Kiecol nach Nationen getrennt darstellt, nahmen Paris zu einem guten Teil entsprechend den Topoi des Selbstbildes wahr (S. 188-202), was allerdings während des Krieges zu einer Umpolung führte. Kiecol zitiert u.a. den Wandel des Topos „Paris-Babylone“ in „Paris-Sparte“ (S. 202-208). Häufig verglichen die Autoren es auch mit dem ewigen Konkurrenten London (S. 204-210).
Im folgenden illustriert der Verfasser anhand der touristischen Bilder der Stadt seine These von der Ausweitung des als Sehenswürdigkeit anerkannten Potentials (S. 211), vom touristischen Bedürfnis als Steigerung des Lebensinstinktes (S. 216), von der sozialen Distinktion des gehobenen Touristen als „geheimen Touristen“ mit seinem Interesse an den Parisern selbst als Sehenswürdigkeit (S. 229-232) und dessen Identität als eines „fortgeschrittenen Touristen“, der Einheimische imitieren wolle (S. 236-237).
Die Berlin-Besucher folgten z.T. den im Selbstbild lancierten Topoi, die Kiecol plausibel als pauschaler und vor allem politischer gegenüber den Paris-Topoi charakterisiert und aus der Berliner Situation herleitet (S. 243-247). Auf diesem pauschalen Niveau wurde im Zuge der in Deutschland radikalen Zivilisationskritik auch das Konzept „Metropole“ als solches kritisiert – was bei den Paris-Kritikern hingegen ausblieb (S. 250-254). In den 20er Jahren nahm man – im Großstadttaumel – die neue Weltstadt wahr, belegt mit Hinweisen auf überkompensierte Traditionslosigkeit, die neue Rolle von Frauen, Kosmopolitismus, Sport und Nacktbaden (S. 262-274).

Es folgt ein kurzer Ausblick auf das „braune Berlin“, in dem der Verfasser das längst überholte Bild von der Großstadtfeindschaft der Nazis analog zu anderen Forschungsfeldern differenziert: Das „deutsche Berlin“ akzentuierte nun zwar das kleinbürgerliche Spießertum der nahräumigen „Kieze“ und den Alltag der Arbeit zulasten des Kosmopolitischen – jedoch nicht ohne sich der modernen Mittel von Organisation, Werbung und Licht zu bedienen und nicht ohne der Welt bei den Olympischen Spielen 1936 das potemkinsche Stück eines „weltoffenen Berlin“ vorzugaukeln (S. 274-282).

An die Gegenüberstellung von Selbstbild und Image der beiden Metropolen anschließend, bettet Kiecol seine Beobachtungen in einen mentalitätsgeschichtlichen Abriss des Tourismus ein, wobei er vor allem auf die Veränderung in der Wahrnehmung von Metropolen (zunehmende Mythologisierung, enzyklopädischer Blick der Touristen, Funktionalisierung der Metropole für lebensbezogene Deutungen sowie gehäufter Personalisierung im Sinne eines „Berlin arbeitet [...]“) (S. 291-298), auf die Rolle von Reiseführern als Lotsen in den zunehmend „unlesbaren“ Städten (S. 299-307), auf die verhaltenswirksame Differenzierung innerhalb der Touristenschaft (S. 308-323) und schließlich auf die psychologische Funktion einer Metropolenreise als eine „sinnlicher Erfahrung imaginärer Welten“ (S. 323-328) eingeht.

Abschließend verknüpft Kiecol seine Befunde mit dem Forschungsfeld des Metropolendiskurses – durchaus in definitorischer Absicht mit Hinweis auf den Kosmopolitismus (S. 329), die Möglichkeit zur Teilhabe an bestimmten Arten sinnlicher Räume (S. 331), die Wahrnehmbarkeit als Lebensraum, der neben Herausforderungen Möglichkeiten zu Gestaltung und Entfaltung bot (S. 331) und eine die Wahrnehmung von Tempo begünstigende Massenkultur (in Anlehnung an Kracauer und Korff) (S. 332). Mangels Tradition habe es in Berlin notwendigerweise einen ganz spezifischen Metropolendiskurs gegeben (S. 336).

Der Verfasser muss sich – vor allem im „Image“-Teil - zwangsläufig auf ein nicht immer klar definierbares Corpus von veröffentlichten Schriftquellen begrenzen. Deren Repräsentativität auszuloten, ist leider ein aussichtsloses Unterfangen. Leider sind auch Reaktionen von Besuchermassen nicht erschließbar.

Angesichts dieser Rahmenbedingungen hat der Verfasser eine insgesamt gelungene komparatistische Fallstudie vorgelegt, die relevante Ausschnitte der Organisations- und Kommunalgeschichte sowie eine sozial- und mentalitätsgeschichtlich gut untersetzte Diskursanalyse miteinander verbindet und damit eine tourismusgeschichtlich so noch nicht erhellte Epoche aufschließt. Auch für den derzeit stagnierenden öffentlichen Metropolendiskurs um Berlin lassen sich aus einer verfremdenden Sicht vor allem auf die 1920er Jahre mancherlei Impulse entnehmen.

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