Y. Kipp: Eden, Adenauer und die deutsche Frage

Titel
Eden, Adenauer und die deutsche Frage. Britische Deutschlandpolitik im internationalen Spannungsfeld 1951-1957


Autor(en)
Kipp, Yvonne
Reihe
Sammlung Schöningh zur Geschichte und Gegenwart
Erschienen
Paderborn u.a. 2002: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
439 S.
Preis
€ 51,60
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Siegfried Schwarz, Berlin

Die Publikation basiert auf der von der Philosophischen Fakultät der Universität Bonn angenommenen Dissertation Yvonne Kipps und ist eine außerordentlich fundierte, sehr materialreiche Arbeit zur britischen Deutschlandpolitik der fünfziger Jahre. Im engeren Sinn umfasst die Untersuchung den Zeitraum vom 6. November 1951, als Anthony Eden an die Spitze des Foreign Office berufen wurde, bis zum 9. Januar 1957, dem Rücktrittsdatum als Premier. Im Mittelpunkt stehen die Gemeinsamkeiten und Divergenzen zwischen London und Bonn bezüglich der Westintegration der Bundesrepublik, der damaligen internationalen Konferenzen und der sowjetischen Initiativen zur Lösung der deutschen Frage. Kipp betrachtet diese Themen in hohem Maße im Spiegel des persönlichen Verhältnisses zwischen Anthony Eden und Konrad Adenauer.

Sie beleuchtet die Deutschlandpolitik Edens unter dem Aspekt seiner Erfahrungen mit der Außenpolitik des Dritten Reichs, als er schon einmal als britischer Außenminister amtierte. Schon in jener Zeit habe er sich aktiv gegen den „imperialen Machtdrang des Spätankömmlings Deutschland“ gewandt. Vor diesem Hintergrund werde ersichtlich, warum Eden sich so nachhaltig um eine Lösung des deutschen Problems in der Nachkriegszeit bemüht hat. Es sei das Ziel Edens gewesen, eine Neuauflage der wilhelminischen Schaukelpolitik zu verhindern, das Nationalbewusstsein der Deutschen unter Kontrolle zu halten und die Möglichkeit eines kriegerischen Konflikts mit der Sowjetunion auszuschließen.

Schließlich sei es Eden darum gegangen, britische Einflussmöglichkeiten und auch die Londoner Kontrolle über Deutschland zu sichern. Er sei der Meinung gewesen, solche Ziele könnten weder allein durch eine Politik der Westintegration der Bundesrepublik noch allein durch ein Arrangement mit der Sowjetunion erreicht werden. Vielmehr sei eine Kombination beider Varianten notwendig, also ein Vorgehen, das sowohl die Zustimmung Adenauers erforderte als auch die Beziehung zu Moskau einvernehmlich regeln sollte (S. 393).

Kipp unterstreicht, Edens Deutschlandpolitik habe sich in den fünfziger Jahren als die offizielle Regierungslinie in London durchgesetzt. Wie kaum ein anderer britischer Außenminister des 20. Jahrhunderts habe er der Denk- und Vorgehensweise des Londoner Außenministeriums seinen Stempel aufgedrückt. Im Unterschied zu Churchill, dessen Plan für ein Gipfeltreffen der vier Mächte kaum die Unterstützung des Foreign Office gefunden habe, stimmte Eden mit seinen Mitarbeitern über die Gestaltung der britischen Deutschlandpolitik fast immer überein (S. 394).

Zutreffend verweist Kipp auf das Grundanliegen der Edenschen Deutschlandpolitik, wonach die Gestaltung der Beziehungen zwischen Deutschen und Russen nach dem Prinzip der traditionellen britischen Gleichgewichtspolitik erfolgen sollte. Danach müsste eine erneute politische oder gar militärische Übereinkunft beider Staaten, wie sie 1812 in Tauroggen, 1922 in Rapallo und 1939 in Moskau vollzogen worden war, aus britischer Sicht für immer ausgeschlossen bleiben. London wolle keine anti-westliche, sowjetisch dominierte Machtverschiebung bis an den Rhein riskieren und damit Großbritanniens Einfluss in Europa auf ein Minimum reduzieren lassen (S. 83).

Völlig zu Recht geht Kipp auf die Risiken einer eventuellen deutschen Neutralität aus britischer Sicht ein, wie sie Anfang der fünfziger Jahre aus Anlass mehrerer sowjetischer Vorstöße, insbesondere der bekannten Deutschland-Note vom 10. März 1952, heftig debattiert worden ist. Aus Londoner Sicht hätte sich ein neutrales, unbewaffnetes Deutschland den Drohungen und Verlockungen der Sowjetunion auf Dauer nicht entziehen können. Moskau hätte die besseren Trümpfe in der Hand gehalten: Im Falle der Neutralität Deutschlands bräuchte die Sowjetunion ihre Truppen nur bis hinter die Oder zurückzuziehen, während die Westmächte – vor allem die USA – ihre Streitkräfte in den Randlagen Westeuropas hätten stationieren, den Rhein als Verteidigungslinie aufgeben und ohne westdeutschen Wehrbeitrag auskommen müssen.

Eine solche sicherheitspolitische Konstellation, verbunden mit attraktiven sowjetischen Handelsangeboten und der Inaussichtstellung einer Revision der Oder-Neiße-Grenze, hätte zwangsläufig zu einer Ostorientierung des vereinten Deutschlands geführt, das bald „as the strongest and most ruthless Power on the Continent“ unter sowjetische Kontrolle gefallen wäre. Die im Falle der Neutralisierung Deutschlands zu erwartende Westverschiebung des sowjetischen Einflussbereichs – so führt Kipp die damaligen britischen Gedankengänge weiter – hätte London nicht nur in eine direkte Konfrontation mit Moskau manövriert, sondern die Sowjetunion auch in die Lage versetzt, „to dominate the United Kingdom“. Kipp betont in ihrer quellengesättigten Arbeit, dass man in London – anders als in Washington und Paris – einer deutschen Neutralität eine existenzielle Bedeutung zugemessen habe: Zwar wären die USA durch eine Neutralisierung Deutschlands in ihrer eigenen Sicherheit nicht bedroht worden, sondern hätten schlimmstenfalls ihre Vormachtposition in Europa verlieren können. Frankreich wiederum hätte nach Auffassung des Foreign Office versucht sein können, aus der NATO auszutreten und mit Moskau ein Geheimarrangement einzugehen. Aber alle Hoffnungen auf eine westdeutsch-französische Aussöhnung und einen Fortgang der eingeleiteten westeuropäischen Integration wären damit zu Grabe getragen worden (S. 81).

Eine solche Gefahr hätte nach einstimmiger Meinung im Foreign Office nur durch die feste Einbindung der Bundesrepublik in die „Western family“ gebannt werden können, so dass „German flirtation with Moscow at our expense on the Rapallo model“ verhindert werden könnte. Kipp urteilt, der (nicht nur) britische Rapallo-Komplex habe weniger auf historischen Realitäten als vielmehr auf dem Mythos einer „deutsch-russischen Komplizenschaft“ beruht (S. 83).

Sie arbeitet heraus, inwiefern die westlichen Rapallo-Ängste ihr Pendant in Adenauers Furcht vor einer gemeinsamen Politik der vier Siegermächte zu Lasten Deutschlands fanden. Der britische Botschafter Ivone Kirkpatrick bezeichnete diese Furcht des Kanzlers als den „Versailles Komplex“, den Adenauer in einem Interview in die Worte kleidete: „Bismarck hat von seinem Alpdruck der Koalitionen gegen Deutschland gesprochen. Ich habe auch meinen Alpdruck: Er heißt Potsdam. [...] Deutschland darf nicht zwischen die Mühlsteine geraten, dann ist es verloren“ (S. 89/90).

Kipp meint, Adenauers „kecker Anspruch“ auf fast vollkommene Gleichberechtigung mit den westlichen Partnern sei in London nur im Hinblick auf die 1953 anstehenden Bundestagswahlen toleriert worden. Ansonsten habe es „Zurückweisungen“ gegeben; auch die Rede Winston Churchills vom 11. Mai 1953 sollte den Bonner Bestrebungen „Grenzen“ setzen. Er schlug darin Verhandlungen über ein gesamteuropäisches Sicherheitssystem vor, was Adenauer ablehnte. Die deutsch-britischen Beziehungen hätten sich im Sommer 1953 auf einem Tiefpunkt befunden. Kipp resümiert, es sei nicht verwunderlich, dass Adenauer die britische Regierung von nun an als „unzuverlässig und unberechenbar“ gehalten und die Bindung an London „nicht als tragende Stütze seiner Westpolitik“ betrachtet habe (S. 155).

Ebenso seien Adenauer Zweifel an der Zuverlässigkeit der britischen Verhandlungsführung während der Berliner Außenministerkonferenz der vier Mächte im Januar/Februar 1954 gekommen. Es sei seine Überzeugung gewesen, London könnte aus wirtschaftlichen Interessen zu einer Verständigung mit Moskau bereit sein und dabei nicht nur die Einheit Deutschlands, sondern sogar das Projekt der EVG leichtfertig opfern.

Anders als in den Monaten zuvor verdächtigte er nicht nur Churchill, sondern jetzt auch Eden, eine neue Form des „peace for our time“ mit Moskau arrangieren zu wollen. Zu diesem Umdenken sei Adenauer durch einen Artikel in der „Times“ von Anfang Januar 1954 veranlasst worden, wonach der Westen zwar zu den „essential principles“ stehe, Bonn sich aber bei der Gestaltung und Überwachung der angestrebten gesamtdeutschen Wahlen flexibel zeigen müsse. Der Kanzler habe es für möglich gehalten, dass Eden sogar versuchen könnte, zu einem hohen Preis „mit den Russen ins Geschäft zu kommen“ (S. 197). Kipp legt weiterhin dar, dass die Spannungen im britisch-deutschen Verhältnis während der Berliner Konferenz durch eine Reihe eigenmächtiger Vorstöße des Leiters der politischen Abteilung im Auswärtigen Amt, Herbert Blankenhorn, weiter verschärft worden seien (S. 199).

Yvonne Kipp hat auf der Grundlage intensiver und umfangreicher Archiv-Forschungen und der Auswertung einer breiten Sekundärliteratur neue Aspekte der britischen Deutschlandpolitik unter der Ägide Anthony Edens herausgearbeitet und damit das Bild von der politischen Konstellation der Mächte in den fünfziger Jahren bereichert. Das Neue besteht vor allem darin, dass sie die Motive Londons und das Ausmaß der Erörterungen über Varianten der britischen Deutschlandpolitik im Foreign Office en détail sichtbar gemacht hat. Kipps Monografie ist ein wertvoller Beitrag zur Erhellung der europäischen Diplomatiegeschichte der fünfziger Jahre des 20. Jahrhunderts.

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