M. Bietak: Archaische Tempel und Altägypten

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Titel
Archaische griechische Tempel und Altägypten.


Herausgeber
Bietak, Manfred
Reihe
Österreichische Akademie der Wissenschaften, Denkschriften der Gesamtakademie 21: Untersuchungen der Zweigstelle Kairo des Österreichischen Archäologischen Institutes 18
Anzahl Seiten
115 S.
Preis
€ 64,68
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Veit Vaelske, Winckelmann-Institut, Humboldt-Universität zu Berlin

Die Grundlagen der sich seit dem 8. Jahrhundert v.Chr. ausformenden Tempelarchitektur Griechenlands sind nach wie vor sehr umstritten. Neben der Genese auf autochthoner Grundlage wird in der Forschung auch das Vorbild orientalischer, besonders ägyptischer Architektur diskutiert.1 Mehrere Vorträge und ein Kolloquium im Jahre 1997 an der Wiener Universität sind diesem Problem nachgegangen. Die Ergebnisse - insgesamt acht Beiträge renommierter Fachwissenschaftler - finden sich, herausgegeben von Manfred Bietak, in dem zu besprechenden Band. Die Einleitung Bietaks (S. 11-15) resümiert jeden Aufsatz, engt die Ergebnisse aber zu sehr auf die übergeordnete Fragestellung nach der Verifizierbarkeit der ägyptischen Wirkung ein. Dabei weisen die einzelnen Beiträge durchaus Widersprüche zueinander auf, ihre partielle Inhomogenität ist offenbar durch den unterschiedlichen Entstehungszeitpunkt bedingt. Ein regelrechter Diskurs zu bestimmten Fragen scheint deswegen nicht zustande gekommen zu sein. Störend ist auch gleich zu Beginn der Mangel an einer ausführlichen forschungsgeschichtlichen und methodischen Würdigung des Themas.

Erik Østby liefert einen knappen, gut formulierten Überblick zur dorischen Tempelarchitektur des archaischen Griechenlands (S. 17-33). Sein Anliegen ist es, mögliche Entwicklungslinien aufzuzeigen und entsprechende Theorien vorzustellen. Dabei favorisiert er die Ableitung der gestreckten Form des Tempel-Naos vom sogenannten Megaron, diskutiert aber ebenso die Herleitung von Einzelelementen wie Säulen- und Gebälkformen.2 Die Ringhalle entstand nach Østby zur Definition des sakralen Raumes aus den Frontsäulen früherer Kultbauten des 8. Jahrhunderts v.Chr. (etwa in Tegea oder Eretria). Ein etwaiger ägyptischer Einfluß könne sich demnach weder auf die gelängte Form des Tempelhauses noch auf die äußere Anordnung der Säulen beziehen. Markante Unterschiede zur ägyptischen Architektur ergäben sich dann auch bezüglich der Richtungsneutralität des griechischen Tempels und der einzelnen Säulenformen. Dagegen geht für Østby - und hier besteht Übereinstimmung mit anderen Autoren des Bandes - die Anregung zur Ausführung griechischer Architektur in Stein vielleicht auf ägyptische Vorbilder zurück.

Diese letztere Einschätzung bestätigt Hermann Kienast in seinem kurzen Überblick zur Geschichte des samischen Heraions während der Archaik (S. 35-39). Die Genese des Hera-Tempels umfaßte nach ihm drei große Phasen. Kienasts Ausführungen zur Einphasigkeit des Hekatompedos im 7. Jahrhundert v.Chr. unter Verlust der bisher angenommenen Peristasis sind um so wichtiger, da einige Autoren des Bandes seine Einschätzung offenbar nicht zu teilen vermögen (etwa E. Gebhard, S. 60). Der Wechsel vom hölzernen Hekatompedos zu steinernen Dipteroi ist für Kienast nur auf der Grundlage ägyptischer Technik erklärbar, zu erkennen etwa an der Übernahme der ägyptischen "Königselle" (ca. 52,3-5 cm) als Grundmaß.

Elizabeth Gebhard stellt den Poseidon-Tempel von Isthmia vor (S. 41-61). Dieser ist, verglichen mit dem benachbarten, wohl gleichzeitig entstandenen ersten Apollon-Tempel von Korinth, gut erhalten und beweist die Planung und Ausführung eines steinernen Peripteros dorischer Ordnung in der ersten Hälfte des 7. Jahrhunderts v.Chr. Wegen der für diese Zeit schwer zu dokumentierenden Kontakte mit Ägypten werden entsprechende Einflüsse von der Autorin eher skeptisch gemustert. Gleichwohl bedürfen architektonische Neuerungen, die am isthmischen Tempel zu beobachten sind, einer Erklärung. Sowohl der Aufbau der Cellawände aus gleichförmigen, isodomen Quadern als auch die Evidenz des sogenannten protokorinthischen Ziegeldaches werden von Gebhard vor dem Hintergrund zeitgleicher Erscheinungen in Griechenland selber und dem Nahen Osten diskutiert. Dabei erwähnt sie zwar ähnliche Phänomene - etwa die vergleichbare Quadergewinnung in Ägypten -, eine autochthone (Weiter-)Entwicklung scheint ihr jedoch wahrscheinlicher als die Übernahme direkter Anregungen aus Übersee. Dafür sprechen auch Zeugnisse professioneller Steinbearbeitung des 8. Jahrhunderts v.Chr. aus der Corinthia.

Ulrich Sinn trägt in seinem Beitrag über das Heraion von Olympia (S. 63-70) zwar zunächst wenig zur übergeordneten Fragestellung des Bandes bei, sein Abriß der neueren Ansätze zum Heraion - u.a. die bezweifelte ursprüngliche Widmung an Hera - liefert aber entscheidende Ergänzungen. So wendet er sich mittels einer kritischen und plausiblen Revision der Pausanias-Stelle 5,16,1 gegen die gängige These von der allmählichen "Versteinerung" des Heraions und griechischer Tempel allgemein. Dieser Schluß ist weitreichend, verlangt er doch eine externe Erklärung für die spezifischen dorischen Architekturformen. Die Lösung der Probleme des Steinbaus könnte dabei für Sinn wie für Østby und Kienast in der Verwendung ägyptischer Anregungen gelegen haben.

Der Beitrag von Anton Bammer, dessen Ziel es ist, die Entwicklung des ephesischen Artemisions in geometrischer und archaischer Zeit auf ägyptische Einflüsse hin zu überprüfen (S. 71-82), überzeugt leider wenig. Schwächen des Ausdrucks wie der Strukturierung des Textes hindern daran, der Argumentation zur Entwicklung der sogenannten Zentralbasis vom geometrischen Peripteros zum Fundament des Naiskos im Sekos des großen Kroisos-Dipteros zu folgen.3 Dies ist um so bedauerlicher, als die Feststellung eines griechischen Peripteraltempels des 8. Jahrhunderts v.Chr. nach der Kritik an den Befunden von Samos und Thermos 4 in der Lage wäre, die Diskussion zu beleben. Mangelhaftes Zusammengehen von Bammers Beschreibungen und Illustrationen (der Nordpfeil des Grundrisses Abb. 6, S. 77, ist z.B. offenbar nicht korrekt ausgerichtet) und vage Beschreibungen (z.B. "nachgewiesene vermutliche Erfindung der peripteralen Form in Ionien", S. 79) verdunkeln die Bedeutung, die dem Artemision im vorliegenden Band zukommt. Die abschließenden Bemerkungen versuchen das Artemision sowohl auf den ägyptischen Peripteraltempel (gemeinsames "geometrisches, architektonisches Konzept im Grundriß", S. 82) als auch auf das sogenannte Megaron und andere Bauformen zurückzuführen. Bammer hält damit im Unterschied zu anderen Autoren an der Möglichkeit des griechisch-ägyptischen Kulturtransfers noch in geometrischer Zeit fest. Diese Argumentation hat eine gewisse Berechtigung (s.u.), geschieht aber insgesamt zu knapp, um völlig zu überzeugen.

Nanno Marinatos erörtert das Skulpturenprogramm des Westgiebels am Artemis-Tempel auf Korfu, hier besonders die Mittelgruppe, bestehend aus Gorgo und Begleitern (S. 83-88). Marinatos wendet sich dabei gegen die traditionelle Sichtweise, in letzteren Pegasos und Chrysaor zu erblicken. Dagegen spräche das wenig gigantenhafte Äußere der männlichen Gestalt und ebenso die heroisierenden Darstellungen in den Giebelecken, die eine ähnlich gelagerte Thematik auch in der Giebelmitte erwarten ließen. Die Mittelgruppe sei demnach weniger erzählend als eine emblematische Verdeutlichung heroischer Ideale (Mann und Pferd) unter dem Schutz der Gorgo, interpretiert als "patroness of the hero".5 Darauf weisen auch entsprechende Darstellungen der Kleinkunst hin. Einige anschließende Bemerkungen zu ähnlich kampflustigen Themen ägyptischer Tempelreliefs reichen kaum zum Vergleich der griechischen und ägyptischen Konzepte vom Sakralbau als Bildträger aus. Das ist bedauerlich, weil gerade dieses Thema im vorliegenden Zusammenhang stärker hätte berücksichtigt werden können.

Gerhard Haeny erörtert die aus Ägypten bekannten Tempel mit Umgang des 2. Jahrtausends v.Chr. und ihren möglichen Einfluß auf die griechische Architektur (S. 89-106). Einer methodischen Kritik an Ludwig Borchardts Forschung 6 folgt die Diskussion ägyptischer Säulenformen als Grundelement der Säulenreihen. Als Peripteraltempel führt Haeny dann Beispiele des Neuen Reiches (Elephantine, Karnak und Buhen) an. Sie sind offenbar Weiterentwicklungen der Barkenkapellen des Mittleren Reiches, z.B. der "chapelle blanche" Sesostris' I. in Karnak. Einen Einfluß der ägyptischen peripteralen Form auf Griechenland sieht Haeny jedoch nicht. Wie Gebhard verweist er auf den schwer belegbaren Kontakt zwischen beiden Ländern im ersten Drittel des 1. Jahrtausends v.Chr., in der die griechische Architektur selbständig zur endgültigen Form gefunden habe. Bemerkenswert sei auch der Umstand, daß der ägyptische Peripteros nicht frei gestanden habe, im Gegensatz zu seinem in alle Richtungen plastisch wirkenden, griechischen Pendant.

Dieter Arnold geht der Frage nach, warum ägyptische Baumeister in der Spätzeit zur teilweisen Konstruktion von Holzdächern übergingen, nachdem sich die ägyptische Architektur über Jahrtausende der Steinbauweise angepaßt hatte (S. 107-115). Dies hängt offenbar mit den eng untereinander verwandten ägyptischen Bautypen des Baldachins und Kiosks zusammen, die erst ab 700 v.Chr. monumentalisiert wurden. Die funktionsbedingt lichte Bauweise dieser Anlagen erforderte aber nach wie vor eine hölzerne Decke, die z.T. auch als Halbtonne ausgebildet sein konnte. Übersichtliche Tabellen und gute Abbildungen erleichtern dem Leser den Überblick. Mit der Genese griechischer Baukunst haben diese ägyptischen Decken aber aus chronologischen und formalen Gründen wenig zu tun. Zu ergänzen wäre vielleicht die hölzerne Deckung des Sanktuars im Ammoneion von Siwa (6. Jahrhundert v.Chr.). Dieser Bau scheint im vorliegenden Zusammenhang besonders interessant, weil in ihm eine Synthese ägyptischer Baukunst mit griechischen Formen gesehen wurde.7

Die These vom Einfluß Ägyptens auf die Entstehung der griechischen Tempelarchitektur wird in dem vorliegenden Band - abgesehen von einer rein technischen Innovation - eher abgewiesen. Stärkstes Argument ist dabei der Hinweis auf die völlig unterschiedliche religiöse und damit ästhetische Konzeption. Jedoch wäre es zweckmäßig gewesen, diesen Punkt in einem grundlegenden methodischen Beitrag zu theoretisieren. Die Frage, inwieweit sich welche Formen vergleichen lassen, wurde von den Autoren jeweils selber versucht zu beantworten. Ein gewichtiges Argument gegen den ägyptischen Einfluß war dabei oft der Hinweis auf den nur losen oder fehlenden Kontakt zwischen Griechen und Ägyptern im ersten Drittel des 1. Jahrtausends v.Chr., der Zeit also, in der sich die griechische Bauweise auszuformen begann. Müssen in diesem Zusammenhang nicht auch die importierten Aegyptiaca beachtet werden, die sich für jene Zeit im ägäischen Raum nachweisen lassen?8 Auch hier wäre eine intensivere Diskussion nötig gewesen. Unbefriedigend schien an manchen Stellen auch, daß bekannte Ergebnisse kurzerhand nacherzählt wurden, anstatt sie als Ausgangspunkt zu sehen und in einen größeren Zusammenhang einzubauen. Daß in dem vorliegenden Band eine umfassende Auflösung bestehender Fragen hätte gefunden werden können, war jedoch kaum zu erwarten. Es ist auf jeden Fall verdienstvoll, die archäologischen und ägyptologischen Disziplinen in dieser Sache verbunden zu haben. So bietet die Publikation das faktenreiche Fundament für hoffentlich folgende Diskussionen.

Anmerkungen:
1 Die These von der Übernahme der Säulenreihe aus Ägypten als Mittel zur Hervorhebung von Sakralarchitektur vertritt zum Beispiel Martini, W.: Vom Herdhaus zum Peripteros, in: JdI 101 (1986), S. 23-36; ähnlich optimistisch: Arnold, D.: Die Tempel Ägyptens, Zürich 1992, 59.
2 Das sogenannte Megaron als "Urahn" des archaischen Peripteraltempels spielt, in Alternative zur oft skeptisch betrachteten ägyptischen Architektur, eine gewisse Rolle in einigen Beiträgen. Der literarisch bezeugte Begriff wurde seinerzeit aber offenbar ohne zwingende Gründe für archäologisch nachweisbare Bauformen festgelegt, vgl. Jung, R.: Das Megaron - ein Analogie(kurz-)schluss der ägäischen Archäologie, in: Vergleichen als archäologische Methode, hrsg. v. A. Gramsch, Oxford 2000, S. 71-95.
3 Der Leser sei deswegen ausdrücklich auf weitere, etwas anschaulichere Literatur über die Befunde von Ephesos verwiesen, vgl. vor allem Bammer, A. / Muss, U.: Das Artemision von Ephesos. Das Weltwunder Ioniens in archaischer und klassischer Zeit, Mainz am Rhein 1996; Gruben, G.: Griechische Tempel und Heiligtümer, München 2001, 380ff.
4 H. Kienast im vorliegenden Band und: Die rechteckigen Peristasenstützen am samischen Hekatompedos, in: Säule und Gebälk. Kolloquium Berlin 1994, hrsg. v. E.-L. Schwandner, Mainz am Rhein 1996, S. 16-24; Kuhn, G.: Bau B und Tempel C in Thermos, in: AM 108 (1993), S. 29-47.
5 Zusammenfassend zur Diskussion um den Giebel von Korfu: LIMC IV (1988) Nr. 289 311f. 320f. s. v. Gorgo (I. Krauskopf).
6 Borchardt, L.: Ägyptische Tempel mit Umgang, Kairo 1938.
7 Kuhlmann, K. P.: Das Ammoneion. Archäologie, Geschichte und Orakelpraxis des Orakels von Siwa, Mainz am Rhein 1988, 18ff. u. 31ff.
8 Hölbl, G.: Aegyptiaca aus vorhellenistischen Fundzusammenhängen im Bereich der türkischen Mittelmeerküste, in: Lebendige Altertumswissenschaft. Festschrift Hermann Vetters, Wien 1985, S. 38-42.

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