R. Buthmann: Die politische Geschichte einer Jugendarbeitsgruppe

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Titel
Konfliktfall „Kosmos“. Die politische Geschichte einer Jugendarbeitsgruppe in der DDR


Autor(en)
Buthmann, Reinhard
Reihe
Bildung und Erziehung. Beiheft 14
Erschienen
Köln 2012: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
389 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Tilmann Siebeneichner, Friedrich-Meinecke-Institut, Freie Universität Berlin

Reinhard Buthmanns Studie widmet sich einem faszinierenden Untersuchungsgegenstand: Seine „politische“ Geschichte der „Jugendarbeitsgruppe Kosmos“ (JAGK) in der DDR zeigt, wie die im buchstäblichen Sinne grenzüberschreitenden Sehnsüchte und Selbstbehauptungsversuche „einer Handvoll“ weltraumbegeisterter Jugendlicher (S. 93) nicht nur hinaus in den Weltraum, sondern zugleich mitten hinein in den Dschungel der Geheimdienstkonfrontationen des Kalten Krieges zu führen vermochten. Zugleich ist sie ein Beitrag zur Geschichte der Repression der SED-Diktatur, die stets emsig auf die Einhaltung der von ihr gesetzten Grenzen bedacht war und deren Unrechtscharakter der Verfasser nicht müde wird zu betonen. Hier wird deutlich, dass die vorliegende Studie mehr ist und auch mehr sein will als „nur“ eine historiographisch-kritische Arbeit. Tatsächlich geht es dem Verfasser nicht allein um die Rekonstruktion „eines bis heute ungeschriebenen Geschehens in Form eines empirisch abgesicherten Beitrags zur Alltagsgeschichte der DDR unter Diktaturbedingungen“ (S. 23f.). Explizit geht es ihm zugleich um die „Wahrheit“ (S. 39, S. 37) bzw. um „Gerechtigkeit“ (S. 17).

Dieser historiographisch eher ungewöhnliche Anspruch erklärt sich vermutlich daraus, dass der Verfasser der von ihm untersuchten JAGK zeitweise selbst angehört hat. Seine Studie ist somit sowohl kritische Untersuchung wie Zeitzeugendokument, das von tiefer Verbundenheit des Verfassers mit dem Wirken der Gruppe zeugt. Vielerorts im Text wird das intime Wissen deutlich, das Buthmann nicht nur im Hinblick auf die Geschichte der JAGK auszeichnet, sondern als langjährigen Mitarbeiter der Behörde des Bundesbeauftragtern für die Stasi-Unterlagen auch im Hinblick auf die von ihm hauptsächlich herangezogenen Stasi-Akten. Hinzu kommen Interviews und persönliche Korrespondenzen, deren durchaus problematischer Quellenwert bedauerlicherweise jedoch kaum reflektiert wird.

So ist eine detaillierte Studie entstanden, die einem recht ungewöhnlichen Aufbau folgt: einer über 70 Seiten langen, mit „Prolegomena“ überschriebenen Einleitung folgt das Herzstück der Studie, ein 187 Seiten umfassendes Kapitel zur Geschichte der JAGK. Auf 25 Seiten erörtert der Verfasser im dritten Kapitel das Wirken der „JAGK zwischen Zersetzung und Widerstand“, während Kapitel vier auf 22 Seiten die „JAGK und das Nutzinteresse von Geheimdiensten“ diskutiert. Einem knappen Schlusswort folgt ein Anhang, der neben einer Zeittafel auch mit einer Reihe von Kurzbiographien von Akteuren aufwartet, die für die Geschichte der JAGK bedeutsam waren. Wie sich in den Überschriften bereits andeutet, erfolgt die Untersuchung nicht chronologisch, sondern systematisch. Das betrifft bereits die Einleitung, in der Buthmann den Forschungsgegenstand in Aspekte wie „Jugend und Staatsdiktatur“, „Technik und Raumfahrt“, „SED-Politik und JAGK“ einbettet.

Im zweiten Kapitel wird im Detail dargestellt, warum eine Gruppe Jugendlicher, die niemals mehr als etwa 300 Mitglieder zählte (S. 96) und sich der (populär-)wissenschaftlichen Erarbeitung und Verbreitung von Methoden, Zielen und Ergebnissen der internationalen Raumfahrt (S. 100) verschrieben hatte, ins Visier der DDR-Staatssicherheit geraten konnte. Als Ursache sieht Buthmann ein von ihm stets als „nur-wissenschaftlich“ beschriebenes Interesse (S. 134, 147, 153, 331) an Informationen über die Raumfahrt und deren Popularisierung an. Freilich handelte es sich hierbei um einen militärisch hochsensiblen und innerhalb der Systemkonkurrenz des Kalten Krieges auch symbolisch höchst bedeutsamen Bereich. So geriet die JAGK schon bald nach ihrer Gründung im Jahre 1971 in den Verdacht, „einen Unsicherheitsfaktor für den Geheimnisschutz dar[zustellen]“ (S. 139).

Die JAGK-Mitglieder bemühten sich, möglichst faktengesättigte Informationen über zeitgenössische Raumfahrtprogramme zu erhalten und diese ohne Rücksicht auf herrschende ideologische Vorgaben zu verbreiten. Diese Praxis führte jedoch zu dem Verdikt, Propaganda für den Systemgegner zu betreiben (S. 162). Internationale Aktivitäten als wesentlicher Bestandteil der Arbeitsweise der JAGK auf der einen (S. 114) und eine nach Ansicht des MfS „schwer durchschaubar[e] […] politische Einstellung eines großen Teils“ ihrer Mitglieder auf der anderen Seite (S. 122) verliehen dieser Praxis zusätzliche Brisanz. Dass Gruppenmitglieder sich insbesondere für Informationen über westliche – und in dieser Hinsicht vor allem US-amerikanische – Raumfahrtprogramme interessierten, machte sie verdächtig, „westliches Gedankengut in die DDR zu tragen“ (S. 80). Als sie schließlich dazu übergingen, mit falschen Ausweispapieren versehen, US-amerikanische Botschaften im realsozialistischen Ausland zu besuchen und Informationen auszutauschen (S. 136), war der Argwohn der Staatssicherheit endgültig geweckt.

Buthmann unterteilt die Geschichte der JAGK in drei Phasen: bis 1973 spricht er von „oft zufälligen Beobachtungen“ der Gruppe durch das MfS, die „möglicherweise auf die Realisation von Nutzeffekten für das MfS abzielte[n]“ (S. 126). Die Zeit zwischen 1973 und 1974 begreift er als Phase der „,Erarbeitung‘ belastender Fakten zur MfS-seitigen Unterstützung der staatlicherseits gewollten Auflösung“ (S. 161). Für die Zeit danach konstatiert er schließlich eine Phase gezielter „Zersetzung“ (S. 161), die im Mittelpunkt des dritten Kapitels steht. Widersprüchlich bleibt jedoch das Ausmaß und die Wirksamkeit staatlicher Zersetzungspraktiken im Hinblick auf Buthmanns Untersuchungsgegenstand: Während er auf der einen Seite feststellt, dass „das vollständige Repertoire der Zersetzung eine ganz andere Dimension dar[stellt] als das, was der JAGK als Gruppe wiederfuhr“ (S. 292), entfaltet er auf der anderen Seite eine „nach oben hin offen[e] Skala der Teufeleien“ (S. 291), ohne sie im Einzelnen an seinen Untersuchungsgegenstand rückzubinden. So bleibt offen, ob sie auf die JAGK Anwendung fanden oder für die DDR im Allgemeinen gelten (sollen), zumal der Verfasser einräumt, dass im Falle der JAGK „keine stringente dokumentarische Klarheit über Aspekte der Zersetzung“ existiere (S. 292). Gleichzeitig steht für ihn jedoch außer Frage, dass die „Belege im Fall JAGK nur in Randfragen Zweifel an der Faktizität des Geschehens selbst“ zuließen (S. 283).

Ähnliches gilt für die Diskussion des politischen Profils der Gruppe: Im Allgemeinen insistiert Buthmann immer wieder darauf, dass deren Interesse „nur-wissenschaftlich“ gewesen sei. Hier betont er, dass die JAGK „die DDR-Gesellschaft ändern, sie aktiv beeinflussen“ wollte (S. 295), manche ihrer Mitglieder sie gar als „Kampf- und Schutzorganisation“ betrachteten (S. 332) und neben wissenschaftlichen Publikationen auch von Seiten des MfS kategorisch als „antisozialistische Machwerke“ eingestufte Schriften studiert hätten (S. 295). Sein Vorschlag, das Verhalten der Gruppe deshalb als „loyale Widerständigkeit“ zu charakterisieren (S. 296), scheint vor diesem Hintergrund nur konsequent. Er bleibt aber insofern unbefriedigend, als dass er nicht zu klären vermag, wann (und warum) die Gruppe loyal agierte und wann (und warum) widerständig.

Diese Frage bleibt auch im vierten Kapitel von Interesse, in dem der Verfasser den Gründer und Vorsitzenden der JAGK, Bernhard Priesemuth, wiederholt dahingehend zitiert, im „Prinzip der ,Schwarzen Kapelle‘“ einen Leitfaden für sein Handeln gegenüber den Nachrichtendiensten gefunden zu haben (S. 319, S. 326), die aus nachvollziehbaren Gründen ein großes Interesse an der Tätigkeit der JAGK hatten. Buthmann fragt jedoch nicht nach dem Selbstverständnis, das sich hinter einer solchen Selbstbezeichnung verborgen haben könnte, die auch als Sammelbegriff für Widerstandsaktivitäten ranghoher Offiziere in Wehrmacht und Abwehr während der nationalsozialistischen Diktatur fungierte. Stattdessen erörtert er mit dem Verweis auf regelmäßige Kontakte Priesemuths zur NVA-Militäraufklärung hier Fragen danach, ob die JAGK ein Werk der NVA-Militäraufklärung gewesen sei bzw. von dieser finanziell unterstützt wurde (S. 314). „Nach Maßgabe der Aktenlage“ sei „ein Interesse [der Militäraufklärung], das über das nach Daten und Materialien zur Raumfahrt hinausging“, jedoch nicht vorhanden gewesen (ebd.). Was sich bei Buthmann ganz unverfänglich ausnimmt, das geteilte Interesse an Daten und Materialien zur Raumfahrt, zeigt hingegen, in welch hohem Maße JAGK-Aktivitäten und nachrichtendienstliches Interesse sich angesichts der Systemkonkurrenz und Kalten Kriegs-Konfrontation überschnitten.

Besondere Brisanz gewinnt dieses Interesse vor dem Hintergrund des „dual-use“-Charakters von Raumfahrttechnologie, der auf die enge Verknüpfung ziviler und militärischer Aspekte in diesem Bereich verweist.1 Dieser „dual-use“-Charakter wird von Buthmann aber genauso wenig thematisiert wie die Beschaffenheit derjenigen Informationen, die zwischen JAGK und militärischem Nachrichtendienst, aber auch ausländischen Kontakten, zirkulierten. Zwar scheint das MfS trotz seiner Bemühungen kaum in Erfahrung gebracht zu haben, worüber sich die Gruppenangehörigen mit ihren jeweiligen Kontakten im Einzelnen austauschten. Doch wäre eine eingehendere Klärung dessen hilfreich und auch wünschenswert gewesen, um zu einer differenzierteren Einschätzung darüber zu kommen, ob die „Systemreaktion“ in Gestalt des MfS allein dem von Buthmann postulierten „fundamentalen Unterschied von Diktatur und Rechtsstaatlichkeit“ folgte (S. 285) oder eine Gefährdung der Staatssicherheit – zumindest in den Augen des MfS – nicht vollkommen ausgeschlossen werden konnte.

So ist Buthmann durch eine intensive wie extensive Auswertung der MfS-Akten über die JAGK zwar eine dichte und kenntnisreiche Rekonstruktion ihrer Repression von Seiten des MfS gelungen. Wie Manfred Heinemann im Vorwort erklärt, erbringt sie den Nachweis, „wie im Detail das MfS im Getriebe seiner Tagesarbeiten eine am Rande der großen Politik agierende Gruppe seiner Kontrolle […] unterwarf“ (S. 12). Weniger überzeugen können hingegen Buthmanns Ausführungen zum Selbstverständnis der JAGK, das weitestgehend unklar und widersprüchlich bleibt. Deutlich wird jedoch, dass die Geschichte jugendlicher Raumfahrtbegeisterung in der DDR ein faszinierendes Prisma bietet, um solch unterschiedliche Aspekte wie Modernität, Technikbegeisterung, Westfaszination und Generationenkonflikte zusammenzubringen. Sie werden vom Verfasser durchaus angesprochen, allerdings einer noch zu schreibenden Kulturgeschichte der JAGK überantwortet (S. 295). Gut möglich, dass ihre Einbeziehung zwischen den hier aufgezeigten Widersprüchen vermitteln könnte. Insofern ist Buthmanns Studie so zu lesen, wie er sie selbst verstanden haben will: als ein Diskussionsangebot (S. 37). Ihr kommt unbestritten das Verdienst zu, die Aufmerksamkeit auf ein in der DDR-Forschung bisher weitgehend unbeachtet gebliebenen Bereich, den Weltraum, gelenkt und sein Potential zur Erkundung von Herrschaft und Kultur in der SED-Diktatur angedeutet zu haben.

Anmerkung:
1 Ulrich Albrecht, Zivile und militärische Nutzung der Raumfahrt, in: Wolf Michael Catenhusen / Werner Fricke (Hrsg.), Raumfahrt Kontrovers. Perspektiven der deutschen und der europäischen Weltraumpolitik, Bonn 1991, S. 119–122.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
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